Astronomische Berechnungen für Amateure/ Zeit/ Atomzeit

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Ursprünglich war eine Sekunde definiert als der 86 400-te Teil eines mittleren Sonnentages. Wie schon mehrmals festgestellt wurde, ist aber der Tag kein konstantes Mass: Zum einen nimmt die Rotationsdauer der Erde kontinuierlich ab, zum anderen ist sie mit unregelmässigen Schwankungen behaftet. Als Grundlage für die Positionsbestimmung von Himmelskörpern genügt ein solches Zeitmass den Ansprüchen der Astronomen nicht. Die Zeit, die in der Himmelsmechanik den Bewegungsgesetzen von Planeten und Monden zugrunde liegt, läuft per Definition völlig gleichmässig ab. Wenn man also über eine Theorie verfügt, die es gestattet, die Position dieser Himmelskörper mit genügender Genauigkeit zu berechnen, und wenn man über Beobachtungsinstrumente verfügt, um diese Positionen hinreichend genau zu bestimmen, dann kann man diese Zeit feststellen. Da man statt von Positionen von den Ephemeriden der Himmelskörper spricht, heisst diese völlig gleichförmig verlaufende Zeit die Ephemeridenzeit. Sie diente auch während einer gewissen Zeit dazu, die Sekunde als sog. Ephemeridensekunde zu definieren:

 Eine Ephemeridensekunde ist der 31 556 925.9747-te Teil des tropischen Jahres am 0. Januar 1900 um 12 h Ephemeridenzeit.


Der Zeitpunkt wurde so gewählt, dass Ephemeridenzeit und UT etwa übereinstimmten. Beachten Sie aber die Formulierung genau. Es heisst nicht: „…des tropischen Jahres, das am 0. Januar 1900 (…) begann“. In dieser Definition steckt implizit eine Geschwindigkeit, und zwar im folgenden Sinne[1]: zum Zeitpunkt 0. Januar 1900 12 h ET befindet sich die Erde in der Nähe des Perihels, die Sonnenposition lässt sich bezogen auf den scheinbaren Frühlingspunkt durch den Winkel[2] 279° 41' 48.04" bzw. 18 h 38 m 47.2 s beschreiben. Wäre die Sonnenbahn konstant und der Frühlingspunkt fix, dann würde dieser Winkel in einem julianischen Jahrhundert zu 36 525 Tagen um 36 000.768 925° zunehmen – der Überschuss zu 36 000° berücksichtigt, dass das julianische Jahr mit 365.25 Tagen Länge gegenüber dem tropischen Jahr etwas zu lang ist. Tatsächlich ist aber die Längenänderung nicht konstant, sondern nimmt im Laufe der Zeit zu. Dies äussert sich darin, dass die Länge noch einen quadratischen Term enthält.

Zusammengefasst: ist JD0 = 2 415 020.0 das Julianische Datum von 0. Januar 1900 12 h UT, JD das Julianische Datum eines beliebigen Zeitpunktes, dann ist

die Anzahl der seit JD0 verstrichenen julianischen Jahrhunderte. Dann gilt ( bezeichnet die Geschwindigkeit, mit der sich L in einem julianischen Jahrhundert ändert):

Zum Zeitpunkt T = 0 betrug die Geschwindigkeit 36 000.768 925° pro julianischem Jahrhundert (36 525 Tage) bzw. 360° in 365.242 199 Tagen oder 31 556 925.9747 sec. Diese Zeit hätte die Sonne tatsächlich auch für einen Umlauf von 360° benötigt, wenn in der Formel für die Länge der quadratische Term und in der Formel für die Längenänderung der lineare Term in T fehlen würden. Tatsächlich ist die Geschwindigkeit nach einem Jahr um 0.000 0061° oder 0.022" gestiegen. Damit dauert das tropische Jahr 1900 nur 31 556 925.9721 sec. Der Unterschied ist gering, aber messbar. Eine Analogie aus dem Alltag soll noch einmal den Unterschied verdeutlichen: wenn ein Radfahrer mit der Geschwindigkeit 20 km/h 30 km vom Ziel entfernt startet, dann erreicht er dieses Ziel nach 1½ Stunden, sofern er immer mit der gleichen Geschwindigkeit fährt. Wenn aber die ganze Strecke bis zum Ziel ein leichtes Gefälle aufweist und er darum immer schneller wird, dann wird er das Ziel eher erreichen.

Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Definition der Sekunde dann von astronomischen Beobachtungen losgelöst. Seither dient ein atomphysikalischer Vorgang als Definitionsbasis:

 Die Sekunde ist die Dauer von 9 192 631 770 Perioden der Strahlung, die dem Übergang zwischen 
 den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes des Atoms Caesium 133 entspricht 


Atomuhren auf der ganzen Welt realisieren eine solche Sekunde. Die aus all diesen Uhren gemittelte Zeit ist die internationale Atomzeit TAI[3]. Sie ist die genaueste, stetig verlaufende Zeitskala, die wir heute realisieren können.

Mit der Steigerung der Messgenauigkeit liessen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Effekte, die infolge der Einstein'schen Relativitätstheorie auftreten, nicht mehr vernachlässigen. Einerseits beeinflusst ein Gravitationsfeld wie z.B. dasjenige der Erde den Gang von Uhren, andererseits gibt es nach dieser Theorie keine Zeit, die unabhängig vom gewählten Koordinatensystem ist: es spielt eine Rolle, ob wir die Bewegung der Körper im Sonnensystem in einem Koordinatensystem beschreiben, das fest mit dem Schwerpunkt des Sonnensystems oder fest mit dem Erdmittelpunkt verbunden ist. Solche Zeitskalen werden Dynamische Zeit genannt, die erste ist die baryzentrische dynamische Zeit TDB, die zweite ist die terrestrische (dynamische) Zeit TDT bzw. TT[4].


Übung

  • Welche Sekundendefinition ist genauer: diejenige der Ephemeridensekunde, oder diejenige der Atomsekunde? Begründen Sie Ihre Antwort!




Nachweise:

  1. Die Rechnungen gehen auf den amerikanischen Astronomen Simon Newcomb (1835 – 1909) zurück. Die modernen Werte, die wir später kennen lernen werden, beziehen sich nicht mehr auf 1900 und berücksichtigen die Fortschritte der Beobachtungstechnik, sind aber grundsätzlich unverändert.
  2. Dieser Winkel heisst „mittlere ekliptikale Länge der Sonne“.
  3. Von franz. Temps Atomique International.
  4. Barycentric Dynamical Time und Terrestrial Dynamical Time bzw. Terrestrial Time.