Soziologische Klassiker/ Migrationssoziologie/ Schütz

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Die im Folgenden beschriebene klassische Abhandlung "Der Fremde" von Alfred Schütz bildet neben der Beschreibung des Fremden bei Georg Simmel einen ersten Ansatz zur Erklärung der sozialen Situation des Fremden. Schütz bezieht sich in seiner Ausführung unter anderem auf wesentliche Aussagen seiner akteurszentrierten Handlungstheorie.


Alfred Schütz: Der Fremde - Ein sozialpsychologischer Versuch[Bearbeiten]

Die "Fremdheit" und die mit ihr einhergehende notwendige Annäherung an eine neue Gruppe bzw. Kultur bildet die Vorstufe der Anpassung. Der „Fremde“ nach Alfred Schütz kann sich im Unterschied zu Georg Simmels Fremden „assimilieren“. [1]

Allgemein ist der Fremde ein „in einer Gruppe, Organisation oder gesamten Gesellschaft bisher unbekannter Mensch, über dessen soziale und individuelle Existenz man nicht genug weiß (...), um mit ihm normale soziale Kontakte aufzunehmen, ihm Rollen zuzuweisen und Status anzuerkennen(...)“. [2]

In seinem klassischen Beitrag über den „ Fremden“ beschreibt Alfred Schütz die Situation und Eigenschaften von Personen, welche ihre Herkunftsgruppe aufgegeben haben und sich im Zusammenbruch routinierter Alltagsorientierungen ihrer Individualität und ihres fortwährenden „Fremdseins“ gewahr werden. Im Folgenden werden nun die wichtigsten Aussagen seines klassischen Beitrages zusammengefasst dargestellt.[3]

In seinen Ausführungen betont er unter anderem

  • das Fehlen traditioneller Eingebundenheit des Fremden
  • die Erkenntnis, dass das Alltagswissen immer erst konstruiert werden muss
  • die aus der fehlenden Routine erforderliche Notwendigkeit für den Fremden, Situationen zunächst individuell zu definieren und einzuordnen
  • die Objektivität des fremden Akteurs und schließlich dessen „ zweifelhafte Loyalität“.


Schütz bezieht sich in seiner Untersuchung auf Personen, welche langfristig vorhaben, vom Kollektiv auf welches sie treffen, angenommen und aufgenommen zu werden. Hierbei nennt er den Migranten als konkretes Beispiel.

Die soziale Welt wird allgemein vom handelnden Akteur selbst zunächst als ein Bereich seiner aktuellen und möglichen Handlungen erkannt und nur an zweiter Stelle als Gegenstand seines Denkens. Wichtig hierbei wäre zu betonen, dass das Wissen der Individuen heterogen ist; d.h. es ist inkohärent da es sich beständig in seiner Relevanzstruktur nach erforderlichem Grad des Wissens und Interesse ändert. Das individuelle Wissen ist auch nicht immer vollkommen, d.h. Vertrautheitswissen als sachverständiges Wissen ist oftmals nicht gefragt um alltägliche Situationen (beispielsweise Autofahren) bewältigen zu können. Zudem ist Wissen auch nicht frei von Gegensätzlichkeiten. Der Akteur kann in seinen unterschiedlichen sozialen Rollen durchaus verschiedene Einstellungen vertreten.

Ist man nun als Individuum Mitglied einer Gruppe, welche im Folgenden als in - group bezeichnet wird, hat diese Organisation des Wissens jedoch ausreichende Kohärenz, Verständlichkeit und Dichte, so dass es für die erfolgreiche Kommunikation untereinander ausreichend erscheint. Dies stellt sich wieder als natürliche Wirklichkeit dar, in welche man hineingeboren wird.

Der Fremde jedoch, welcher in einer anderen Lebenswelt aufgewachsen ist, teilt aufgrund seiner subjektiven Krisis - also der Nicht-Übereinstimmung bereits gemachter Erfahrungen mit aktuellen Erlebnissen - diese grundlegenden Kenntnisse nicht. Für den fremden Akteur haben die ureigenen immerwährend erprobten Rezeptionen des Sozialisations- und Kulturmusters der in - group nicht die gleichwertige Bedeutung. Dies resultiert unter anderem aus der mangelnden Erfahrung der Tradition der fremden Kultur, so dass bestimmte wichtige Grundannahmen der für ihn fremden Kultur nie verinnerlichter Bestandteil seiner Identität wurden. Der Fremde kann nur die Gegenwart und die Zukunft mit seinen Mitmenschen teilen, kann jedoch nie an der der in - group gemeinsamen Erfahrung in der Vergangenheit teilhaben. Für ihn bleibt der fraglose Bezugsrahmen seines Herkunftslandes seine Handlungsreferenz. Somit beginnt er automatisch, seine neue Umgebung nach seinem üblichen Vorgehen zu betrachten. Hier beginnt das Problem: sein gewohntes fragloses Bezugsschema wird in diesem Moment ungeeignet, da es auf ein anderes fragloses Muster trifft. Der Fremde muss nun sein Relevanzsystem komplett umstrukturieren um seine Handlungen so ausführen zu können, dass er sich auch in der neuen Lebenswelt zurechtzufinden kann. Hier erfährt der Fremde eine erste große Verunsicherung - sein fragloses Auslegungsschema der Welt gibt ihm in der neuen Lebenswelt keine ausreichende Orientierung mehr. Grundlage jedes Orientierungsschemas ist die Tatsache, dass sich der Akteur selbst als Ausgangspunkt sieht, aus dessen Perspektive er sein Vorgehen in der Lebenswelt koordiniert. Als Fremder hat er jedoch keine klare Positionierung innerhalb der in -group bzw. innerhalb des gesamten Aufnahmesystems. Somit kann er sich selbst nicht mehr als Ausgangspunkt seiner sozialen Umgebung sehen und ändert aufgrund dessen seine Relevanzstrukturen. Nur für die Etablierten bilden die Zivilisationsmuster eine Gesamtheit - der sich annähernde Fremde muss dieses Muster erst transformieren. Alfred Schütz nennt als Beispiel die Sprache: diese kann man zwar passiv schnell verstehen lernen aber sie selbst aktiv anzuwenden wie ein Muttersprachler ist nicht möglich. Sinnstrukturen lassen sich mit fehlender Erfahrung der Vergangenheit demnach nie exakt übersetzen. Die Zivilisationsmuster bleiben für den Fremden also immer lediglich Auslegungen des eigentlich Gemeinten, welchem er sich nur „annähern“ kann. Übertragen auf die Gesamtheit von Kultur- und Sozialisationsmustern bedeutet dies, dass die Fähigkeit der Mitglieder der in - group auf fraglose Typisierungen zurückzugreifen, dem Fremden in seiner Gesamtheit verborgen bleiben.

Besonders wichtig ist es hierbei zu betonen, dass eben diese „Selbstverständlichkeiten“ nicht in der Relevanzstruktur des Individuums zu finden sind welches Vertrautheitswissen benötigt, sondern im Bereich des Bekanntheitswissens, wo bloßes Vertrauen in das Wissen über die Dinge ausreicht. Die Situation des Fremden jedoch unterscheidet sich stark von der des Etablierten allein durch die Notwendigkeit, Situationen immer wieder neu definieren zu müssen. Deshalb finden sich die Dinge, welche bei den Etablierten im Bekanntheitswissen angesiedelt sind beim Fremden im Vertrautheitswissen. Somit kann sich der Fremde nie auf Vertrautheiten verlassen, sondern muss sich alles erst neu erarbeiten.

Diese beschriebenen Aspekte begründen die zwei Grundannahmen der Einstellung des Fremden gegenüber der in - group: ersteres ist die "Objektivität des Fremden." Diese ergibt sich vor allem aus seinem Verlangen, alle Gegebenheiten des fremden Zivilisationsmusters vollständig zu verstehen, weshalb er die Selbstverständlichkeiten der in - group genau und kritisch untersucht. Durch die eigens erfahrene Erkenntnis, dass die Welt der natürlichen Einstellung auch ihre Grenzen haben kann, ist der Fremde befähigt, herannahende Unstimmigkeiten zu erkennen, welche für den Etablierten zunächst noch unsichtbar bleiben. Den zweiten Aspekt der Einstellung des Fremden gegenüber der ihm fremden Gruppe bildet die "zweifelhafte Loyalität". Der Fremde kommt zwar mit allen Mitgliedern der sozialen Gruppe in Kontakt, ist aber trotzdem nicht vollständig integriert und anerkannt. Bei Alfred Schütz bleibt der Fremde oft an der Grenze zweier unterschiedlicher Zivilisationsmuster stehen. Er hat seine mitgebrachten Muster noch nicht abgelegt, das Alltagswissen der neuen Gruppe aber auch noch nicht komplett angenommen. Somit bleibt er wie bei Robert E. Park ein „marginal man“ , ein am Rande der Gesellschaft stehendes Individuum. Die Mitglieder der in - group werfen dem Fremden oft Undankbarkeit vor, da er nicht anerkennen will, dass ihm deren Sozialisationsmuster Schutz bieten. Laut Alfred Schütz ist es dem Fremden in diesem Übergangszustand in dem er sich befindet jedoch nicht möglich, diese Muster als `Schutzdach` anzuerkennen. Die Muster der neuen Gruppe sind kein integraler Bestandteil seines Lebens und verkörpern auch keineswegs eine Art Rezeptheft, wie es sich für die Etablierten darstellt. Deshalb ist es für den Fremden, der aber ein vollwertiges Mitglied der Gruppe sein will, ein schwieriger Lernprozess, welcher immer wieder durch die mangelnde Klarheit im neuen System erschüttert wird. Die Muster der in - group stellen für den Fremden somit eher ein Labyrinth dar als dass sie ihm Orientierung bieten.

Bei dieser Abhandlung von Schütz handelt es sich vielfach um eine idealtypische Darstellung des Annäherungsprozesses. Alfred Schütz hat den sich anschließenden Prozess der Assimilation nicht weiter untersucht.

Quellenverzeichnis[Bearbeiten]

  1. TREIBEL, Annette (2008): Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. 4. Auflage. Weinheim/ München: Juventa Verlag
  2. HILLMAN, Karl- Heinz (1994): Wörterbuch der Soziologie. 4., überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart: Kröner
  3. SCHÜTZ, Alfred (1972): Der Fremde. In: Alfred Schütz. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag. S.53-69


Hauptartikel zu Alfred Schütz in den Soziologischen Klassikern mit zusätzlichen biographischen Daten