Studienführer Hans Albert: Kritikimmunisierungsstrategien

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Begriffserklärung

Der ideologiekritische Begriff Kritikimmunisierung hat seinen Ursprung in der erkenntnistheoretischen Konzeption des Kritischen Rationalismus. Der Soziologe und Philosoph Hans Albert verwendet in seinen Schriften bedeutungsgleich die Wendungen „Immunisierung gegen Kritik“, „Immunisierungsverfahren“, „Immunisierungsmanöver“, „Dogmatisierungstendenzen“ oder „dogmatische Fixierung“. In der Alltagssprache hat auch der Terminus „Selbstimmunisierung gegen Kritik“ Verbreitung gefunden.

Gemeint ist damit das Phänomen, dass insbesondere weltanschauliche Systeme versuchen, ideologische Schutzbarrieren zu errichten, um sich gegen rationale Einwände und damit Veränderbarkeit abzuschotten. Sie schaffen sich ihr ‚sicheres Fundament‘, ‚ihre Gewissheit‘ selbst, indem sie dogmatisieren, d. h. sie nehmen Rekurs auf ein Dogma, sie stellen letzte Grundsätze auf, an denen nicht gezweifelt werden kann, an denen keine Kritik geduldet wird:

„Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos. Das heißt: Wir können uns stets Gewißheit verschaffen, indem wir irgendwelche Bestandteile unserer Überzeugungen durch Dogmatisierung gegen jede mögliche Kritik immunisieren und sie damit gegen das Risiko des Scheiterns absichern.“ ...
„Die Einsicht, daß alle Gewißheit in der Erkenntnis selbstfabriziert, radikal subjektiv und damit für die Erfassung der Wirklichkeit ohne Bedeutung ist, daß man Gewißheit nach Bedarf herstellen kann, wenn man sich nur entschließt, die betreffende Überzeugung gegen alle möglichen Einwände zu immunisieren, stellt den Erkenntniswert jedes Dogmas und den methodischen Wert jeder Strategie der Dogmatisierung in Frage.“...
„Dabei wird zugleich auch jeder Unfehlbarkeitsanspruch für irgendeine Instanz zugunsten eines konsequenten Fallibilismus zurückgewiesen.“ [1]

Um im sprachlichen Bild dieser medizinischen Metapher zu bleiben, ‚Immunisierung‘ wie durch eine ‚Schutzimpfung‘, d. h. viele Weltanschauungen ‚impfen‘ sich selbst mit ‚dogmatischer Vakzine‘ gegen jede Kritik; sie feien sich selbst, schützen sich selbst gegen jede Infragestellung und werden so für alle Zeiten ‚immun‘, resistent gegen jede rationale Kritik und binden somit nachfolgende Generationen unkritisch und fest an ihre dogmatische Tradition. Durch Beharren auf angeblichen ‚allgemeingültigen Letztbegründungen‘ seien es göttliche Offenbarung, Naturrecht oder andere zu ‚ewig gültigen Wahrheiten‘ erklärten (Glaubens-) Sätze werden kritische Diskussion, rationale oder empirische Überprüfung verhindert.

Solche Immunisierungsstrategien sind nicht nur in weltanschaulichen Lehren zu finden; in dem Aufsatz „Aufklärung und Steuerung“ spricht Hans Albert sogar von einer Omnipräsenz der Kritikimmunisierung, sie sei eine allgemeine Möglichkeit der sozialen Praxis in Theologie, Wissenschaft, Recht, Politik und Wirtschaft:

„Dogmatisierung – so kann man die Herstellung solcher Kritikimmunität von Problemlösungen nennen, wenn man sich an den eingebürgerten Sprachgebrauch anlehnen will – ist dabei nicht auf bestimmte Bereiche beschränkt – etwa auf eine Disziplin wie die Theologie oder auf den Bereich der Erkenntnis überhaupt –, sie ist vielmehr eine allgemeine Möglichkeit der sozialen Praxis, von der Erkenntnispraxis der Wissenschaft bis etwa zur Praxis in Recht, Politik und Wirtschaft.“ [2]

Gegen solches Begründungsdenken, das den Rückgang auf ‚sichere und unanzweifelbare‘ Gründe fordert und somit in Dogmatismus erstarrt, steht Hans Alberts Plädoyer für kritische Vernunft, für die abendländische Tradition der kritischen Diskussion, für das Verfahren der kritischen Prüfung. Er teilt mit Karl Raimund Popper die fallibilistische Position der Falsifikationstheorie. Danach gibt es keine unfehlbaren Aussagen, allenfalls Aussagen, deren Unfehlbarkeit dogmatisch erklärt wird; eine jede Behauptung muss sich rational überprüfen lassen, ihre Verfechter müssen ertragen können, dass ihre Behauptung an einer Kritik möglicherweise auch scheitern kann. Konsequenter Fallibilismus, permanente Kritik, ständige Suche nach Alternativen lautet Hans Alberts Forderung. Mit dem Fallibilitätsprinzip sind unvereinbar: Unfehlbarkeitsansprüche, Ansprüche im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein, sowie die Abschirmung gegen kritisches Hinterfragen, gegen kritisches Denken:

„Mit der Methodologie der kritischen Prüfung ist ein derartiger Unfehlbarkeitsanspruch natürlich ebensowenig zu vereinbaren wie der in den betreffenden Gruppen institutionell verankerte und durch verschiedenartige Sanktionen (Strafandrohungen usw.) gesicherte Anspruch auf Glaubensgehorsam gegen andere Personen.“[3]

Nach Hans Albert fördern solche Strategien der Kritikimmunisierung „Intoleranz, Engstirnigkeit, Starrheit, Dogmatismus und Fanatismus“ (op. cit). Aus Sicht des Kritischen Rationalismus ist insofern das Aufdeckenkönnnen von Kritikimmunisierungstendenzen in ideologischen Systemen, also der Vorwurf der Selbstimmunisierung (Dogmatismusvorwurf), ein Instrument aufklärerischer Kritik:

„Die von Popper befürwortete Ablehnung konventionalistischer Strategien zum Schutz von Theorien kann daher zu einer allgemeinen Zurückweisung von Immunisierungsverfahren für Problemlösungen aller Art erweitert werden, denn Dogmatisierung ist nicht nur ein Phänomen der Erkenntnissphäre, sondern eine Möglichkeit menschlicher Praxis überhaupt, und sie ist angesichts der prinzipiellen Fehlbarkeit der Vernunft nirgends vertretbar. [4]

In dieser aufklärereischen Absicht findet man das Dogmatisierungsverbot, „Immunisiere dich nicht gegen Kritik!“ auch im ‚Manifest des evolutionären Humanismus‘ wieder, welches der Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon im Auftrag der Giordano-Bruno-Stiftung verfasst hat. Hans Albert ist Wissenschaftlicher Beirat dieser religionskritischen Stiftung. Der Imperativ „Immunisiere Dich nicht gegen Kritik!“ ist darin Bestandteil eines zehn Angebote umfassenden humanistischen ethischen Dekalogs, das ‚sechste Angebot‘:

„Immunisiere dich nicht gegen Kritik! Ehrliche Kritik ist ein Geschenk, das du nicht abweisen solltest. Durch solche Kritik hast du nicht mehr zu verlieren als deine Irrtümer, von denen du dich besser heute als morgen verabschiedest. Habe Mitleid mit jenen Kritikunfähigen, die sich aus tiefer Angst heraus als ‚unfehlbar‘ und ihre Dogmen als ‚heilig‘ (unantastbar) darstellen müssen. Sie sollten in einer modernen Gesellschaft nicht mehr ernst genommen werden.“ [5]

Beispiele von Selbstimmunisierung gegen Kritik aus Religion, Politik und Philosophie

1) Beispiele aus dem Christentum

Die Römisch-katholische Kirche erklärt im Jahre 1870 ex cathedra-Entscheidungen des Papstes für unfehlbar (Unfehlbarkeitsdogma).

Evangelikale Theologen beschließen 1978 die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel, in der bescheinigt wird, dass die Bibel als Wort Gottes fehlerfrei ist (Artikel XI) und keine Widersprüche enthält. Hier der Wortlaut des Artikels XI der Chicago-Erklärung:

"Wir bekennen, daß die Schrift unfehlbar ist, da sie durch göttliche Inspiration vermittelt wurde, so daß sie, da sie weit davon entfernt ist, uns irrezuführen, wahr und zuverlässig in allen von ihr angesprochenen Fragen ist."

2) Auch der Islam erklärt sich unter Berufung auf göttliche Offenbarung zur wahren Religion. Am Koran darf nicht gezweifelt werden:

"Dies ist die Schrift, an der nicht zu zweifeln ist, geoffenbart als Rechtleitung für die Gottesfürchtigen" (Koran Sure 2, Vers 2)

3) Orthodoxe Juden gründen den zionistischen Rechtsanspruch auf das 'Heilige Land' auf die Tora und den alttestamentlich-biblischen 'Bund', den Gott (JHWH) einst mit Moses geschlossen habe; Gottes Wort sei ewig gültig.

4) Versuch rechtspositivistischer Selbstimmunisierung einer Verfassung

Die sogenannte Ewigkeitsklausel im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, der Artikel 79 III GG, garantiert bestimmten Verfassungsprinzipien ewige Gültigkeit. Demnach sind die Grundsätze aus den Artikeln 1 und 20 GG sowie der föderale Staatsaufbau Deutschlands einer Verfassungsänderung auf immer entzogen, binden also die jetzige und alle nachfolgenden Generationen:

„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ (Artikel 79 III GG)

Inwieweit eine solche Änderung durch den volkssouveränen 'pouvoir constituant' vertreten durch eine Verfassunggebende Versammlung - nach Artikel 146 GG - und anschließende Annahme durch Volksabstimmung rechtstaatlich möglich wäre, ist unter deutschen Verfassungsrechtlern höchst umstritten.

5) Beispiel naturrechtlicher Selbstimmunisierung in politischen Texten

Die Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 erklärt einen Kernbestand von Menschenrechten als selbsteinleuchtend und damit für alle Zeiten naturrechtlich verbindlich:

„Wir halten diese Wahrheiten für selbsteinleuchtend, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.“

6) Letztbegründungsversuche in philosophischen Systemen

Versuche, ein philosophisches System auf nicht mehr hinterfragbare 'unhintergehbare Prinzipien' zu stützen (wie z.B. in Karl-Otto Apel in seiner Transzendentalpragmatik), selbstimmunisieren das Behauptete. Als kritischer Rationalist zeigt Hans Albert auf, dass alle Letztbegründungsversuche scheitern müssen, da sie notwendigerweise im sogenannten Münchhausen-Trilemma [6] enden.

7) Theologische Schutzbehauptung

Argumentativ in die Enge getriebene Theologen flüchten sich oftmals in die logisch-rational unwiderlegbare, selbstimmunisierende Phrase: "Gottes Ratschlüsse sind unerforschlich und seine Wege unergründlich" und damit Ende jeder weiteren Diskussion!

Fußnoten

  1. Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. 5., verbesserte und erweiterte Auflage, Mohr Tübingen UTB, 1991, S. 36, S. 41, S. 43; ISBN 3161457102.
  2. Hans Albert: "Aufklärung und Steuerung". In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Bd. 17. Tübingen 1972.
  3. Hans Albert: Die Idee der kritischen Vernunft aus: Aufklärung und Kritik 2/1994
  4. Hans Albert: "Autobiographische Einleitung". In: Kritische Vernunft und menschliche Praxis. Reclam 1977.
  5. Michael Schmidt-Salomon Manifest des evolutionären Humanismus; Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. 2. erweiterte Auflage, Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2006, ISBN 978-3865690111, S.156 ff.
  6. Michael Schmidt-Salomon: "Das Münchhausentrilemma oder: Ist es möglich, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen?"


Siehe auch (Wikipedia-Links)

Absolutheitsanspruch, Alter Bund, Begründungsdenken, Chicago-Erklärung, Dogma, ex cathedra-Entscheidungen, Fallibilismus, Falsifikationstheorie, Falsifikationismus,Giordano Bruno Stiftung, JHWH, göttliche Offenbarung, Hans Albert, Karl Raimund Popper, konventionalistische Wendung, Kritischer Rationalismus, Letztbegründungsversuche, Michael Schmidt-Salomon, Münchhausen-Trilemma, Naturrecht, Transzendentalpragmatik, Tora, Unfehlbarkeitsdogma, Zionismus.

Weblinks


Literaturhinweise

  • Hans-Joachim Niemann: Lexikon des Kritischen Rationalismus. Tübingen 2004
  • Hans Albert: Die Idee der kritischen Vernunft aus: Aufklärung und Kritik 2/1994, S.16ff.
  • Hans Albert: Hans Küngs Rettung des christlichen Glaubens. Ein Missbrauch der Vernunft im Dienste menschlicher Wünsche, Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, 13. Jgg. 1, S.7- 39.
  • Hans Albert: Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng, Hofmann und Campe, Hamburg 1979.
  • Hans Albert: Theologische Holzwege. Gerhard Ebeling und der rechte Gebrauch der Vernunft, Verlag Mohr (Siebeck), Tübingen 1973.
  • Hans Albert: Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1975.
  • Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. UTB, 5. verb. u. erw. Aufl., Stuttgart 1991. ISBN 3825216098
  • Hans Albert: Kritische Vernunft und menschliche Praxis. Reclam 1977, ISBN 3-15-009874-2.
  • Hans Albert: Tautologisches und Ideologisches, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 90, 1954, S. 219.
  • Hans Albert: Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie des kritischen Rationalismus, Hamburg 1972.
  • Karl R. Popper: Logik der Forschung. Tübingen, 8. verb. u. verm. Aufl., 1984.
  • Karl R. Popper: The Myth of the Framework. London New York 1994.
  • Michael Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus; Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. 2. erweiterte Auflage, Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2006, ISBN 978-3865690111.
  • Ernst Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1982, ISBN 3423041056.
  • Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung. Mohr Siebeck Verlag, 2. überarb. u. erw. Auflage, Tübingen 1988, ISBN 3-16-245337-2.