Studienführer Hans Albert: Zusammenfassungen und Kommentare zu Aufsätzen

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1991-2000

  • zu A192: Hans Albert, Erkenntnis und Moral. Ein Nachtrag zum Positivismusstreit; zusammenfassende Bemerkungen [in eckigen Klammern zusätzliche Erklärungen des Rezensenten]:

Aus Werturteilen oder Entscheidungen sind auf rein logischem Weg keine Erkenntnisse zu gewinnen; und aus Erkenntnissen keine Werturteile oder Entscheidungen. Dennoch gibt es kein Wissen, das ohne Bewertungen oder Entscheidungen zustande gekommen wäre, und bei Bewertungen oder Entscheidungen spielen Erkenntnisse nicht nur eine triviale, sondern oft eine richtunggebende Rolle. Der Zusammenhang von Erkenntnis und Moral wird von Albert neu überdacht und führt zu einem Argument, das gegen den ethischen Relativismus und für universale Züge in der Ethik spricht.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Vorwurf eines "halbierten Rationalismus", der im sog. Positivismusstreit der 60er Jahre von Seiten der Kritischen Theorie ( Jürgen Habermas) gegen den kritischen Rationalismus erhoben wurde, wonach dieser wegen seines Nonkognitivismus auf den Bereich instrumenteller Vernunft beschränkt bleibe, mithin im Bereich der praktischen Vernunft ein Defizit aufweise, während es der Kritischen Theorie gelänge, den Graben zwischen Theorie und Praxis zu überwinden.

Der kritische Rationalismus vertritt jedoch eine andere Auffassung: Der Kognitivismus in der Ethik scheitert nach wie vor am Humeschen Gesetz. Dennoch kann der kritische Rationalismus den Graben zwischen Theorie und Praxis überwinden. Das ergibt sich aus methodologischen Analysen der folgenden Punkte:

(1) auch in der Erkenntnispraxis spielen Werte und Entscheidungen eine wichtige Rolle;
(2) das argumentative Verhalten der Wissenschaftspraktiker [Kritisieren, Korrigieren und Verbessern] kann auf jede andere Praxis übertragen werden; und
(3) greift auch die praktische Vernunft auf Erkenntnisse und Erfahrungen zurück, um Werte und moralische Regeln kritisieren und korrigieren zu können.

Die Einsicht in die rationale Diskutierbarkeit von Entscheidungen und ethischen Werten bleibt denjenigen leicht verborgen, die dem kritischen Rationalismus die ethische Abstinenz des logischen Positivismus unterstellen; desgleichen denen, die Werturteilen einen nur expressiven Charakter zuschreiben oder die die Webersche Forderung nach Wertfreiheit so auslegen, als hätten Werturteile in den Wissenschaft nirgendwo eine Rolle zu spielen, was weder Max Weber gerecht wird, noch von kritischen Rationalisten je in Betracht gezogen wurde.

Auch wer dem Wertplatonismus oder Max Scheler folgend Werte und Wertverhalte für erkennbare Bestandteile der Wirklichkeit hält, wird eher der Ontologisierung der ethischen Sprache nachspüren und erliegen, als der rationalen Diskussion von Werten etwas abgewinnen können. Durch verengte Sichtweisen dieser Art konnten sich idealistische und relativistische Anschauungen zunehmend auch in der Ethik ausbreiten.

Unter Berücksichtigung neuerer Literatur (R. Boudon, J. Q. Wilson, T. Todorov, S. O. Welding, B. Gesang und andere) zeigt Albert, dass trotz der fehlenden logischen Brücke zwischen Sein und Sollen (siehe  David Hume) realwissenschaftliche Erkenntnisse dazu beitragen können, den ethischen Relativismus zu widerlegen. Die Konstanz der menschlichen Natur und wiederkehrende Situationen führen dazu, auf gleichartige Probleme gleichartige Antworten zu geben.

Für die Aufdeckung und Erklärung solcher universaler Züge in der Ethik ist es angebracht, gleichermaßen auf eine naturalistische Moralphilosophie wie auf einen moralphilosophischen Rationalismus zurückzugreifen. Die so erreichbare intersubjektive Geltung moralischer Urteile unterscheidet sich allerdings von jener Geltung im Erkenntnisbereich, der die Idee objektiver Wahrheit zugrundeliegt. (Im ersten Fall beruht die intersubjektive Geltung darauf, dass viele das gleiche moralische Problem lösen, im zweiten Fall darauf, dass alle die gleichen Wirklichkeit darstellen wollen.)

Neue Erfahrungen führen nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Moral zu Fortschritt (Verbesserungen). Moralische Erfahrungen stellen nicht besondere Zugänge zu moralischen Werten dar, vielmehr sind eigene, fremde oder nur (in Gedankenexperimenten) vorgestellte moralischen Erfahrungen Mittel, jene Werte in Frage zu stellen (und zu ihrer Korrektur beizutragen), die uns als Handlungsgrundlage dienen, wenn wir zwischen Alternativen eine Entscheidung treffen müssen.

Wegen ihrer angeblichen Unfähigkeit, Normen und Zwecke zu bewerten, wird die 'instrumentelle Vernunft' nicht nur aus der Ethik ausgegrenzt, sie ist häufig auch selber Zielscheibe moralischer Vorhaltungen. Das rührt daher, dass instrumentale Bewertungen auch dann positiv ausfallen können, wenn der Zweck, dem sie dienen, negativ bewertet wird. Natürlich misslingt eine Gesamtbewertung, wenn sie nur die Mittel und nicht den Zweck berücksichtigt. Dennoch ist es nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Ethik möglich und sinnvoll, die Mittel unabhängig von Zwecken zu bewerten. Dieselben Mittel dienen oft ganz verschiedenen Zwecken. Zweck-Mittel-Schlüsse sind daher problematisch, kommen aber immer wieder vor und sind wegen der Komplexität praktischer Situationen mitunter schwer erkennbar.

Die Situationskomplexität erschwert oft auch festzustellen, inwieweit jemand, der ein bestimmtes Mittel bereitstellt, dadurch in bestimmte Zwecke moralisch verwickelt wird. Einer der Gründe für den Zweifel am moralischen Fortschritt der Moderne liegt daher im Verlust eindeutiger moralischer Verantwortlichkeit, wie er im Fall komplexer Handlungsverkettungen beobachtet wird. Letztere resultieren vor allem aus der modernen Arbeitsteilung. Die Tendenz zu rein instrumentalen Bewertungen von Handlungen wird durch solche oft als Folgen der Aufklärung begriffenen Entwicklungen verstärkt.

Instrumentale Bewertungen rühren aber nicht nur von der wachsenden Komplexität der Verhältnisse her, sondern haben noch andere Ursachen, die aufgeklärt und beseitigt werden könnten. Untersuchungen von Tzvetan Todorov und Lothar Fritze einbeziehend spricht Albert die Techniken totalitärer Systeme an, die das Denken absichtsvoll auf technische Aspekte und damit auf bloß instrumentale Bewertungen lenkten, die den Menschen selbst zum Instrument herabsetzten, bestimmte Gruppen ausgrenzten, Wertungen entgegen dem Wertfreiheitsgebot wissenschaftlich verbrämten und ihre Ideologie gegen Kritik abschirmten. Was das Funktionieren totalitärer Systeme betrifft, so darf man neben den in Handlungsketten Mitwirkenden den initiierenden Einfluss der 'wahren Gläubigen' nicht außer Acht lassen.


  • zu A193 Hans Albert, 'Methodologischer Revisionismus und diskursive Rationalität, Bemerkungen zur

Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften´', Österreichische Zeitschrift für Soziologie 25 (1), (2000), S. 29-45. Zusammenfassende Bemerkungen:

Kürzlich erschienene "Reformulierungen" Popperscher Gedanken beantwortet Hans Albert mit dem Hinweis auf Arbeiten von Popper, ihm selbst und Bartley, die die Autoren nicht zur Kenntnis genommen haben, obgleich sie teilweise schon seit Jahrzehnten vorliegen.

Unter anderem korrigiert sein Artikel einige den kritischen Rationalismus betreffende Klischees (z.B. das eines reinen  Falsifikationismus und erinnert daran, dass längst das Bild eines methodologischen Revisionismus mit weit über die Naturwissenschaften (und Wissenschaften überhaupt) hinausgehenden Anwendungsgebieten, wie er ihn selbst seit seinem ersten Traktat ausgearbeitet hat, angemessener wäre. Nochmals werden die einschlägigen Quellen genannt.

Konkret geht es um die Frage,

(1) wie der Sprung von forschungsleitenden alten Sichtweisen auf neue zustande kommt, und zwar speziell in den Sozialwissenschaften, und welche Rolle Poppers Falsifikationismus und seine Formulierung des Rationalitätsprinzips dabei spielen;
(2) wie Wissenschaftstheorie durch ein Denken in Verfassungen bereichert werden könnte und
(3) ob die Popper unterstellte "Abwahldemokratie" durch eine Konsensdemokratie ersetzt werden sollte.

Albert ruft in Erinnerung, dass durch den Einfluss der Frankfurter Schule und den T. S. Kuhns der Beitrag Poppers zur Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften lange verdrängt worden ist. Besonders infolge der Arbeiten Kuhns hatte sich der Eindruck verbreitet, Poppers wissenschaftliche Methodologie sei durch seinen Falsifikationismus und sein Abgrenzungskriterium ausreichend charakterisiert und daher nur beschränkt einsetzbar. Tatsächlich hatte aber auch schon Popper einen methodologischen Revisionismus ausgearbeitet, der keineswegs nur auf den naturwissenschaftlichen Bereich beschränkt war, und er hatte immer die Bedeutung des sozialen Charakters wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse betont.

Dass Poppers Logik der Forschung der Wissenschaftsgeschichte nicht gerecht werde, hatte Andersson 1988 widerlegt. Die Rolle des Kuhnschen paradigmatischen Rahmens, innerhalb dessen Normalwissenschaftler arbeiten und Außenseiter nicht zulassen, sieht Albert angesichts historischer Beispiele ähnlich wie Popper: Wissenschaftler, die am Fortschritt beteiligt waren, haben solche Rahmen immer wieder gesprengt, und eine Methodologie, die diesen Tatsachen nicht gerecht wird, kann auch den Erkenntnisfortschritt nicht adäquat erklären. Bei der Weiterentwicklung des kritischen Rationalismus hatte Albert wesentlich dazu beigetragen, das Abgrenzungsproblem hinter einem methodologischen Revisionismus zurücktreten zu lassen, dessen Anwendungsbereich auf Problemlösungsversuche jeglicher Art ausgedehnt wurde.

In den letzten Jahren sind einige intensiver auf Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften eingehende Bücher erschienen (Schmid, Keuth, Gadenne, Waschkuhn, Steinvorth, Pies/Leschke), und einige dieser Arbeiten in dem Aufsatzband von I.Pies, M. Leschke (Hrsg.), Karl Poppers kritischer Rationalismus (Tübingen 1999), werden hier einer genaueren Analyse unterzogen.

Ingo Pies reformuliert die kritisch-rationale Kernbotschaft, weil er glaubt, zwei Schwachstellen im Popperschen Denken entdeckt zu haben, wonach

(a) Poppers Ruf nach Wahrheit und individueller Freiheit nur in der diskursiv unbefriedigenden Form eines Appells vorgebracht worden sei; und
(b) habe Popper den Übergang von der Falsifizierbarkeit zur Kritisierbarkeit nicht konsequent vollzogen und auch dessen Konsequenzen für das Problem der Abgrenzung nicht voll erkannt.

Der Piessche Verbesserungsvorschlag besteht darin, ein "zweistufiges Denken in Verfassungen" einzuführen, kraft dessen nicht nur Alternativen innerhalb diskursiver Rahmenbedingungen (Arbeiten an Problemlösungen) kritisiert werden können, sondern auch Alternativen zu diesen Rahmenbedingungen selbst (Arbeiten an der Problemstellung). Damit sollten nach Pies künftig Denk- und Handlungsblockaden besser durchbrochen werden können.

Da Pies die Änderung von Rahmenbedingungen als 'konstruktive Kritik' bezeichnet, erinnert Albert daran, dass solche Problemverschiebungen natürlich auch misslingen und in Sackgassen führen können. Und mit einer im Piesschen Sinne 'konstruktiven Kritik zweiter Ordnung' schlägt er dessen Problemstellung verbessernd vor, das Verfassungsproblem weniger metaphorisch und zudem auf einen viel näher liegenden Zusammenhang anzuwenden, nämlich auf Poppers Idee der Wissenschaft als einer sozialen Veranstaltung mit einer institutionell geregelten Erkenntnispraxis, so dass auch Probleme wie das der Durchsetzbarkeit oder das der Anreize zur Regelbefolgung behandelt werden könnten, ein Programm, das allerdings kritische Rationalisten [nämlich Albert selbst] schon längst in Angriff genommen hatten.

Poppers [von den kritisierten Autoren zu eng ausgelegte] Aussagen über sein Rationalitätsprinzips [wonach es an die Stelle psychologischer Erklärungen zu treten habe und seine empirische Prüfung weniger wichtig sei als die Prüfung des Modells, in dem es eine erklärende Rolle spiele] korrigiert Albert dahingehend, dass

(a) seine empirische Prüfung natürlich möglich ist und
(b) psychologische Erklärungen keineswegs aus der Soziologie ausgegrenzt werden dürfen [was er ja schon in seinen frühen Arbeiten betont hat], und
(c), wenn gute Gründe vorliegen, auch das Rationalitätsprinzip selbst zur Disposition gestellt werden darf. (Es zeigt sich hier ganz klar, wie wenig Sinn es macht, den kritischen Rationalismus nur an bestimmten Stadien und nur an Poppers Denkens festzumachen.)

Andreas Suchanek möchte die Sozialwissenschaften auf Praxisrelevanz beschränken und, da man auch mit falschen Modellen brauchbare Ergebnisse erreichen kann, zieht er es vor, technologische Aussagensysteme nach ihrer Fruchtbarkeit bezüglich der Lösung praktischer Probleme zu beurteilen und nicht nach ihrer Wahrheitsnähe, wobei für das, was Fruchtbarkeit ist, kein Kriterium, sondern der Spruch der Forschergemeinschaft maßgebend sei. Die Beschränkung der Sozialwissenschaften auf die Gestaltung der sozialen Ordnung ist aber, wie Albert zeigt, nicht möglich, weil man den Realitätsbezug sozialwissenschaftlicher Lösungen so einfach nicht ausblenden kann. Und der Spruch der Forschergemeinschaft ist nicht einfach als solcher akzeptabel, sondern allenfalls deshalb, weil ihm bestimmte Kriterien zugrunde gelegen haben.

Eine der Aufgaben der Sozialwissenschaft ist, die unerwünschten Folgen von Handlungen zu korrigieren, die auch dann eintreten, wenn alle Akteure der Logik der Situation entsprechend rational handeln. Eine andere ist, Institutionen zu gestalten, die ein besseres Funktionieren der Gesellschaft fördern. Albert moniert, dass bei Suchanek

(a) das Hauptproblem, worin denn dieses bessere Funktionieren bestehe, offen bleibt; und
(b) die vorgeschlagene Methode (Alternativen zu vergleichen) in seinen, seit mehr als dreißig Jahren vorliegenden Arbeiten ausgearbeitet wurde [in Suchaneks Aufsatz wird Albert nicht zitiert, was einer Erklärung bedurft hätte]. Für die Bewertung der Alternativen ist
(c) der Konsens der Betroffenen nicht das einzige Kriterium; und
(d) orientiert sich die Sozialtechnologie zur Herstellung einer besseren sozialen Ordnung nicht nur an Kooperationsgewinnen, sondern auch an regulativen Prinzipien wie Freiheit und Gerechtigkeit.

Pies' Bemühung, eine Denkrichtung zu ändern, bei der zunehmende Demokratisierung nicht mit zunehmender Europäisierung korreliert. [Dazu führt er als Bild "orthogonales Positionieren" ein, womit er eine 90-Grad-Drehung in einer Ebene meint, die von Maßzahlenachsen für Demokratisierung und Europäisierung aufgespannt wird. Diese bildliche Darstellung vereinfacht das Verständnis aber nicht.] Das führt ihn zur Konsensidee. Dabei werden Jahrzehnte alte Einwände ignoriert beziehungsweise als unerheblich behandelt:

(a) die praktische Unmöglichkeit, einen wirklichen Konsens zu erreichen;
(b) der fehlende Nachweis, warum ein Konsens als Kriterium ausreichend sei; und
(c) warum bei einer Reformulierung des kritischen Rationalismus die Konsensidee der Albertschen Behandlung normativer Probleme mittels methodologischen Revisionismus vorzuziehen wäre, obgleich letzterer gut ohne die problematische Konsensidee auskommt.

2001-2010