Zweideutigkeit als System - Thomas Manns Forderung an die Kunst: Joseph und seine Brüder

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Entstehung: Dezember 1926 bis 4.Januar 1943

Joseph und seine Brüder ist ein Gegenentwurf zu Richard Wagners Der Ring des Nibelungen.[1] In unmarkierten Zitaten wird immer wieder auf den Opernzyklus angespielt. Entstanden ist ein "humoristische[s] Menschheitslied von mythischer Heiterkeit." [2] Mit ihm wollte Thomas Mann den beiden deutschen Weltgedichten des 19. Jahrhunderts, «Faust II» und «Der Ring des Nibelungen», ein drittes im zwanzigsten Jahrhundert an die Seite stellen.[3] Golo Mann, der einigen Werken seines Vaters skeptisch gegenüber gestanden hat - z. B. Tonio Kröger - hat Joseph und seine Brüder den Rang von Ilias und Odyssee zugesprochen.[4]

Thomas Mann überbrückt in den Josephsbänden den Unterschied zwischen mythischer und religiöser Welterklärung, zwischen Mythos und Monotheismus. Wie Jan Assmann zeigen konnte, fasst Thomas Mann in den Josephsromanen den Monotheismus als einen Bestandteil des Mythos auf. [5] Mythische und religiöse Frömmigkeit sind für den Joseph der Romantetralogie gleichberechtigt, und das mit solcher Selbstverständlichkeit, dass der Leser - bei Thomas Manns Sprachkraft- sich der Romanfigur unwillkürlich anschließt.

Auf Zweideutigkeit, die später in Doktor Faustus zum System erhoben wird, kommt Thomas Mann zu sprechen, als Joseph dem Verwalter von Potiphars Hauswesen zum Kauf angeboten wird. Die verschlagene Redeweise des Händlers irritiert den schlicht denkenden Hausvorsteher. „Denn er war nicht fürs Zweideutige [,] weder im üblen, noch sogar im höheren Sinne und sprach wie ein praktischer Mann, der den ihm unterstellten Geschäftsbereich, nüchtern wie er ist, gegen das Eindringen des Ordnungswidrigen und Höheren, des ´Göttlichen´ sozusagen, in Schutz zu nehmen wünscht.“ [6] Ein einfacher Kopf, soviel wird deutlich, hat keinen Sinn fürs Höhere und Doppelbödige, auch nicht im alten Ägypten.

Im zweiten Band der Tetralogie definiert Thomas Mann humoristisch das Wesen der Dichtung, als die Rede auf den Hauslehrer des jungen Joseph kommt. Der besaß eine Sammlung von Schriften, darunter "Bruchstücke großer Versfabeln der Urzeit, die erlogen waren, doch mit so kecker Feierlichkeit in Worte gebracht, daß sie dem Geiste wirklich wurden." [7] Fragmente künstlerischer Phantasie (erlogen), die aufgrund ihres Spannungsgehaltes (kecker Feierlichkeit) und ihrer rhythmisierten Sprache (Versfabeln) in der Vorstellung den Charakter von Wirklichkeit annahmen.

Mit ähnlicher Verschmitztheit hatte Thomas Mann im ersten Band der Josephs-Romane über episches Erzählen geplaudert:

"Was wir hier zu berichten haben, würde uns, wenn wir Geschichtenerfinder wären und es, im stillen Einverständnis mit dem Publikum, als unser Geschäft betrachteten, Lügenmärlein für einen unterhaltenden Augenblick wie Wirklichkeit aussehen zu lassen, als Aufschneiderei und unmäßige Zumutung ausgelegt werden. […] Desto besser also, dass dies unsere Rolle nicht ist; dass wir uns vielmehr auf Tatsachen der Überlieferung stützen, deren Unerschütterlichkeit nicht darunter leidet, dass sie nicht alle allen bekannt sind, [allen, die bibelfest sind] sondern dass einige davon einigen wie Neuigkeiten lauten." [8]

Thomas Mann spielt mit diesen eigenartigen Worten auf die Wahrheit, genauer: auf die Wahrhaftigkeit des durch Überlieferung gefestigten Mythos an. Mythen beschreiben zeitlos wiederkehrende Konflikte und überpersönliche Konstellationen. Nietzsche hat in einer seiner frühen Schriften den Mythos «die Abbreviatur der Erscheinung» genannt [9] und im Spätwerk von der «ewige[n] Wiederkunft» gesprochen.[10] In ihr sah Nietzsche das Kennzeichen des Ursprünglichen.

Thomas Mann fährt fort:

"So sind wir in der Lage, unsere Aussagen mit einer Stimme abzugeben, die, gelassen, wenn auch eindringlich und ihrer Sache sicher, solche sonst zu befürchtenden Einwürfe von vornherein abschneidet." - Der Erzähler (und sein Autor) sind sich ihrer sprachlichen Meisterschaft jederzeit sicher.

Die Selbstverwirklichung "der erzählten oder eigentlich sich selbst erzählenden Geschichte", [11] die religiös konnotierte Ansicht über das sich selbst verwirklichende Kunstwerk,[12] wird in «Joseph und seine Brüder» schnurrig ausgesponnen:

"Niemals sind wir darauf ausgegangen, die Täuschung zu erwecken, wir seien der Urquell der Geschichte Josephs. Bevor man sie erzählen konnte, geschah sie; sie quoll aus demselben Born, aus dem alles Geschehen quillt, und erzählte geschehend sich selbst. Seitdem ist sie in der Welt; jeder kennt sie [13] oder glaubt sie zu kennen, denn oft genug ist das nur ein unverbindliches und ohne viel Rechenschaft obenhin träumendes Ungefähr von Kenntnis. Hundertmal ist sie erzählt worden und durch hundert Mittel der Erzählung gegangen. Hier nun und heute geht sie durch eines, worin sie gleichsam Selbstbesinnung gewinnt und sich erinnert, wie es denn eigentlich im Genauen und Wirklichen einst mit ihr gewesen, also, dass sie zugleich quillt und sich erörtert". - Was Thomas Mann hier ebenfalls sagt: Seine Fassung der Josephs-Legende ist die endgültige, weil nicht mehr zu überbietende.

Auf die Suggestionskraft dichterischer Prosa kommt Thomas Mann im letzten Band der Josephs-Tetralogie noch einmal zu sprechen. „Dabei gewesen zu sein, das ist´s“. [14] Der Leser imaginiert eine augenblickliche, eine subjektive Wirklichkeit. Ihm ist, als befinde er sich inmitten des gerade Erzählten.


Q u e l l e n :

  1. Heftrich, Eckhard: Geträumte Taten. Frankfurt am Main: Klostermann 1993, S.8
  2. Thomas Mann am 12.9.1948 an Karl Kerényi
  3. Heftrich, Eckhard: Geträumte Taten. Frankfurt am Main: Klostermann 1993, S. VIII
  4. Marcel Reich-Ranicki in Erinnerung an ein Gespräch mit Golo Mann (Das Literarische Quartett, 17.08.2005)
  5. Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München: C. H. Beck 2006, S. 61
  6. Mann, Thomas: Joseph in Ägypten. Berlin: S. Fischer 1936, S. 174
  7. Mann, Thomas: Der Junge Joseph. Berlin: S. Fischer Verlag 1934, S. 27
  8. Mann, Thomas: Die Geschichten Jaakobs. Berlin: S. Fischer Verlag 1933, S. 273
  9. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Leipzig: Fritzsche 1872, S. 132
  10. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung. Leipzig: C. G. Naumann 1889, S. 140
  11. Mann, Thomas: Joseph in Ägypten. Wien: Bermann-Fischer Verlag 1936, S. 203/204
  12. Mann, Thomas: Adel des Geistes. Stockholm: Bermann-Fischer 1945, S. 398 ff.
  13. Zu Thomas Manns Zeit war Religionsunterricht in den Elemtarschulen Pflichtfach
  14. Mann, Thomas: Joseph in Ägypten. Stockholm: Bermann-Fischer 1943, S. 492


Aphorismen in „Joseph und seine Brüder“

Wir erbittern uns am meisten über Beschuldigungen, die zwar falsch sind, aber nicht gänzlich.

Die Geschichten, die uns an einem Ort widerfahren, sind Wurzeln gleich, die wir in seinen Grund senken.

Wer sich nicht wichtig nimmt, ist bald verkommen.


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