Quadriviale Kuriositäten/ Zahlen/ Anteus/ Kalender

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Dialog über den Kalender zwischen dem Meister Anteus und seinem Schüler Tiro[Bearbeiten]

Anteus: Ich grüße dich Tiro! Wie geht es dir heute?

Tiro: Sei gegrüßt, Meister Anteus! Es geht mir recht gut, aber viele Fragen treiben mich um – am Tag und in der Nacht. Ich hoffe, dass ich durch deinen Unterricht wieder viele Antworten finden werde.

Anteus: Es gefällt mir, dass du die Antworten nicht nur haben, sondern finden willst. Welche Frage beschäftigt dich denn heute am meisten?

Tiro: Alle Kalender haben Tage, Wochen, Monate und Jahre, aber warum haben wir einen anderen Kalender als die Juden oder die Muslime?

Anteus: Auch bei unserem Kalender gibt es Unterschiede, was den Beginn des Jahres betrifft. Ursprünglich begann das Jahr mit dem März, und daher wurden die Monate nach Juli und August, die nach den Kaisern Julius und Augustus benannt wurden, mit den Nummern sieben, acht, neun und zehn benannt: der September, der Oktober, der November und der Dezember. Der Februar war der letzte und kürzeste Monat des Jahres. Später wurde der Jahresanfang auf den ersten Januar verschoben, und wie du weißt, beginnt unser Kirchenjahr mit dem ersten Adventssonntag, der manchmal am Ende des Novembers und manchmal am Beginn des Dezembers liegt.

Unabhängig davon ist unser Kalender jedoch immer so gestaltet, dass er sich ausschließlich nach der Sonne und ihrem Lauf im Sternenhimmel richtet – wir nennen das einen Sonnenkalender.

Tiro: Und wie ist es bei den Juden?

Anteus: Geduld Tiro, bevor ich dir das erkläre, lass uns zunächst den Kalender der Muslime betrachten. Sie haben ihren Kalender so gestaltet, dass er sich ausschließlich nach dem Mond und seinem Lauf um die Erde richtet – dies bezeichnen wir als einen Mondkalender. Und auch die Juden nutzen einen Kalender, bei dem die Monate sich nach dem Mond richten. Zusätzlich richten sich aber die Jahre nach der Sonne – gewissermaßen eine Kombination aus den beiden zuvor genannten Kalendern, also ein Mond-Sonne-Kalender.

Tiro: Soweit ich weiß, haben doch all diese Kalender eine Woche mit sieben Tagen und ein Jahr mit zwölf Monaten. Wo sind denn die Unterschiede?

Anteus: Lieber Tiro, bevor wir uns mit Arithmetik beschäftigen, lass uns mit der Geometrie anfangen. Welche Vielecke lassen sich am einfachsten beschreiben?

Tiro: Ich würde sagen, dass dies Dreiecke und Vierecke sind.

Anteus: Und welches Dreieck und welches Viereck lassen sich am einfachsten konstruieren und beschreiben?

Tiro: Am einfachsten ist es, wenn alle Winkel gleich groß und alle Seiten gleich lang sind. Beim gleichseitigen Dreieck haben alle Winkel sechzig Grad und beim Quadrat haben alle Winkel neunzig Grad.

Anteus: Wie viele Quadrate kann man an einem Punkt nahtlos nebeneinander legen?

Tiro: Vier.

Anteus: Richtig! In diesem Punkt stoßen vier rechte Winkel aneinander, die sich nicht überlappen. Welchen Winkel bilden diese vier Winkel?

Tiro: Vier Mal neunzig Grad sind dreihundertsechzig Grad, das Winkelmaß eines vollen Kreises.

Anteus: Gleichseitige Dreiecke können auch an einem Punkt nahtlos nebeneinander gelegt werden, wie hier in dieser Zeichnung. Wie viele solcher Dreiecke ergeben in einem solchen Punkt einen vollen Kreis?

Tiro: In diesem Fall sind es sechs, die zusammen ein Sechseck bilden, das innerhalb eines Kreises liegt, dessen Radius den gleichen Wert hat, wie die Seitenlänge der Dreiecke. Der Umfang des Sechsecks beträgt also das Sechsfache der Seitenlänge eines Dreiecks und das Doppelte des Umfangs eines Dreiecks. Die Summe aller sechs Dreieckswinkel in der Mitte beträgt wieder dreihundertsechzig Grad.

Anteus: Ausgezeichnet, Tiro! Ist dir schon einmal aufgefallen, was das Besondere an der Zahl Dreihundertsechzig ist?

Tiro: Es ist eine sehr große Zahl, die ich mir kaum vorstellen kann, denn ich habe noch nie von eins bis zu dieser Zahl gezählt.

Anteus: Habe keine Angst vor solch großen Zahlen, Tiro, denn die Arithmetik wird durch solche Zahlen interessant. Die Arithmetiker untersuchen die Teilbarkeit von Zahlen, sage mir jetzt, durch welche Zahlen die dreihundertsechzig ohne größere Probleme geteilt werden kann.

Tiro: Die Hälfte beträgt einhundertachtzig, das Drittel beträgt einhundertzwanzig, das Viertel beträgt neunzig, wie der Winkel in einem Rechteck, das Fünftel beträgt zweiundsiebzig, das Sechstel beträgt sechzig, wie die Winkel des gleichseitigen Dreiecks. Das Siebentel kann ich nicht mehr so einfach angeben.

Anteus: Das hast du richtig bemerkt, denn die Sieben ist eine göttliche Zahl, die besonderen Dingen vorbehalten ist – dieses Thema müssen wir jedoch später einmal gründlicher behandeln. Es gibt aber noch weitere teilende Zahlen für die dreihundertsechzig.

Tiro: Stimmt, denn ein Achtel beträgt fünfundvierzig, das Neuntel beträgt vierzig und das Zehntel beträgt sechsunddreißig. Das Elftel macht wieder Probleme, aber dafür geht es auch noch beim Zwölftel, das dreißig ergibt, beim Fünfzehntel, das vierundzwanzig ergibt und beim Achtzehntel, das zwanzig ergibt.

Anteus: Du siehst also, dass die dreihundertsechzig eine Zahl ist, die sehr leicht auf sehr viele verschiedene gleichgroße Teile gebracht werden kann. Das ist sehr nützlich in der Geometrie, aber genauso nützlich in der Arithmetik und auch für Kaufleute, die Ware und Geld teilen müssen.

Tiro: Das sehe ich jetzt ein, aber was hat das mit den Kalendern zu tun?

Anteus: Weißt du, wie viele Tage ein Jahr hat, also die Zeit, in dem die Sonne nach einer Wintersonnenwende die nächste Wintersonnenwende erreicht?

Tiro: Natürlich, Meister Anteus, es sind aber nicht dreihundertsechzig, sondern dreihundertfünfundsechzig Tage.

Anteus: Das ist im Prinzip richtig, allerdings ist es genau genommen ein wenig mehr, so dass wir alle vier Jahre beim letzten Monat des Kalenders des römischen Kaisers Julius, nämlich dem Februar, einen zusätzlichen Tag einschieben. Daraus ergibt sich dann eine Jahresdauer von dreihundertfünfundsechzig Tagen und einem weiteren Vierteltag.

Der Frühlingsbeginn, nach dessen erstem Vollmond unser Osterfest festgelegt wird, hat sich dennoch im Laufe der Jahrhunderte einige Tage in den Winter verschoben, so dass wir uns bald Gedanken machen müssen, wie wir dies ausgleichen, damit wir nicht eines Jahres beim tiefsten Winterfrost die Auferstehung unseres Herrn feiern müssen.

Weißt du denn auch, wie viele Tage nach einem Neumond der zwölfte Neumond folgt?

Tiro: Das kann ich nicht genau sagen, aber von einem Neumond zum nächsten Neumond dauert es immer ungefähr einen Monat, also sind es wohl zwölf Monate.

Anteus: Gott hat es nicht nur beim Jahr, sondern auch bei den Monaten so eingerichtet, dass wir nicht mit ganzen Zahlen rechnen können, denn von einem Neumond zum nächsten sind es genauer betrachtet neunundzwanzig Tage und ein weiterer halber Tag. Bis zum zwölften Neumond sind es damit in der Summe dreihundertvierundfünfzig Tage. Und selbst diese Rechnung ist nicht perfekt, denn auch hier muss alle zwei bis drei Jahre ein ganzer Tag eingefügt werden, damit die Rechnung genau aufgeht.

Tiro: Das heißt also, dass zwölf Monde mit ihren dreihundertvierundfünfzig Tagen um elf Tage früher erreicht sind als ein Jahr mit dreihundertfünfundsechzig Tagen?

Anteus: Wenn du davon ausgehst, dass das Jahr durch den dir bekannten Kalender bestimmt ist, dann ist das vollkommen richtig. Es gibt aber andere Kalender, bei denen dies nicht so ist, wie zum Beispiel bei den Muslimen. Dort dauert ein Jahr genau zwölf Monde, und deswegen verschieben sich die Festtage der Muslime in unserem Jahreskreis in jedem Jahr um genau diese elf Tage.

Tiro: Und woher wissen die Muslime dann, wann sie säen und ernten müssen?

Anteus: Jedenfalls können sie es nicht an einem festen Tag ihres Kalenders tun, da sie dann manches Jahr im Winter und ein anderes Jahr im Sommer säen oder ernten müssten – die Pflanzen würden unter diesen Umständen in unserer Region jedenfalls nicht gedeihen. Muslimische Bauern, die sich an ihrem Kalender orientieren wollen, müssten beachten, dass sie mit jedem ihrer Jahre um die genannten elf Tage später säen und ernten müssen.

Tiro: Und wie haben die Juden dieses Problem gelöst?

Anteus: Bei den Juden dauert ein Monat ebenfalls von einem Neumond zum nächsten Neumond. Damit sie ihr Fest der ungesäuerten Brote immer im Frühling und ihr Fest der Laubhütten immer im Herbst abhalten können, hat ihr Jahr nach bestimmten Regeln alle zwei bis drei Jahre einen zusätzlichen dreizehnten Monat.

Tiro: Sie fügen also nicht einen oder elf Tage, sondern gleich einen ganzen Monat hinzu. Wenn ich es aber richtig sehe, dann hat kein einziger dieser Kalender genau dreihundertsechzig Tage. Was hat das alles also mit deiner geometrischen und arithmetischen Einführung zu tun?

Anteus: Es ist interessant festzustellen, dass die so wunderbar teilbare Zahl Dreihundertsechzig genau zwischen den beiden Tageszahlen der Sonnenjahres und des Mondjahres liegt. Das Mondjahr ist fünf und einen halben Tag kürzer als dreihundertsechzig Tage, und das Sonnenjahr ist fünf und einen halben Tag länger als dreihundertsechzig Tage.

Da das Sonnenjahr länger als dreihundertsechzig Tage ist, ist es übrigens auch möglich, einen Kalender mit zwölf Monaten mit jeweils dreißig Tagen zu benutzen und zusätzlich fünf oder sechs Tage außerhalb dieser Monate hinzuzufügen, um auf die richtige Jahreslänge zu kommen. Diese zusätzlichen Tage werden nach dem Griechischen auch Epagomenen genannt, und ein solcher Kalender wurde zu Verwaltungszwecken von den alten Ägyptern tatsächlich geführt. Die Ägypter kannten jedoch nicht die Göttlichkeit der Zahl Sieben, sie und nutzten daher kleine Wochen mit fünf Tagen, wie die Zahl der Finger an einer Hand, und große Wochen mit zehn Tagen, wie die Zahl der Finger an beiden Händen zusammen, um ihre zwölf Monate mit den jeweils dreißig Tagen zu gliedern.

Das besondere ist aber, dass ein Kreis durch dreihundertsechzig Grad beschrieben werden kann. Weißt du wie der Kreis genannt wird, den die Sonne im Laufe eines Jahres und den der Mond im Laufe eines Monats durchläuft?

Tiro: Es ist der Lebewesenkreis mit seinen zwölf Sternzeichen:

  • Der Frühling beginnt mit dem Widder, gefolgt vom Stier und den Zwillingen.
  • Der Sommer beginnt mit dem Krebs, gefolgt vom Löwen und von der Jungfrau.
  • Der Herbst beginnt mit der Waage, gefolgt vom Skorpion und vom Schützen.
  • Der Winter beginnt mit dem Steinbock, gefolgt vom Wassermann und von den Fischen.

Anteus: Richtig, Tiro, und dieser Zodiak hat genauso wie jeder andere Kreis dreihundertsechzig Grad, und somit kann jedes seiner zwölf Zeichen auf diesem Kreis genau dreißig Grad zugeteilt bekommen. Wenn wir wissen, in welchem dieser zwölf Zeichen die Sonne gerade steht, dann können wir sofort angeben, in welchem der zwölf Monate wir uns gerade befinden, ohne einen anderen Kalender führen zu müssen. Tiro: Aber wir können die Sonne und die Sterne doch gar nicht gleichzeitig sehen, weil die Sonne viel zu hell ist. Wie sollen wir da erkennen können, vor welchen Sternen die Sonne gerade steht?

Anteus: Wir können es nicht unmittelbar erkennen. Durch das Studium des Laufes der beweglichen Himmelskörper können wir aber mit Hilfe der Geometrie bestimmen, an welchem Teil des festen Sternenhimmels diese sich gerade befinden.

Tiro: Sind denn die Planeten und die Sterne eigentlich überhaupt da, wenn wir sie am Tage gar nicht sehen?

Anteus: Über diese Frage haben sich die Philosophen schon in der Antike den Kopf zerbrochen, genauso wie über die Frage, ob die Himmelskörper noch leuchten, wenn sie im Westen bereits untergegangen und im Osten noch nicht wieder aufgegangen sind. Dabei ist es für unsere Betrachtungen unwichtig, ob sie nur unsichtbar oder sogar unwesentlich sind. Auch wenn wir sie uns nur am richtigen Ort vorstellen, können wir die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Ich weise dich auch darauf hin, dass die Venus, der Merkur und der Mond auch bei Sonnenschein durchaus sichtbar sind.

Zum Abschluss verrate ich dir noch ein Geheimnis: Wenn du vom Grund eines tiefen Brunnenschachtes ganz hoch über dir den wolkenlosen Taghimmel betrachtest, kannst du mit ein wenig Glück einen der helleren Sterne vorbeiziehen sehen. Das Tageslicht beeinträchtigt deinen Blick dann nicht, und der Himmel ist an dieser Stelle dunkel genug, um das Sternenlicht sehen zu können. Wir können deswegen also beruhigt davon ausgehen, dass die Sterne immer leuchten, auch wenn wir sie nicht sehen können.

Tiro: Ich danke dir, Meister! Das war wieder alles interessant und sehr lehrreich. Ich freue mich jetzt schon auf unsere nächste Begegnung.

Anteus: Und ich freue mich über deine Fragen und darüber, dass du immer so schnell dazulernst.