Spurwechsel? Nicht so einfach! Lösung
Autor: Julian Seidl
Notwendiges Vorwissen: Keines
Behandelte Themen: Aufenthaltserlaubnis während des Asylverfahrens, Aufenthaltserlaubnis nach erfolglosem Asylverfahren, Titelerteilungssperre, Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Spurwechsel
Zugrundeliegender Sachverhalt: Spurwechsel? Nicht so einfach!
Schwierigkeitsgrad: Anfänger*innen
Fraglich ist, ob A bereits während des noch andauernden Asylverfahrens eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Beschäftigung (§ 18a AufenthG) oder zum Zweck des Familiennachzugs (§ 28 I 1 Nr. 1 AufenthG) erteilt werden kann.
A. Erteilung eines Aufenthaltstitels während des Asylverfahrens (§ 10 I AufenthG)
[Bearbeiten]Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an A während eines laufenden Asylverfahrens könnte die Titelerteilungssperre des § 10 I AufenthG entgegenstehen.
In der Beratung der Refugee Law Clinics sind häufig Fälle anzutreffen, in denen sich Ratsuchende nach aufenthaltsrechtlichen Alternativen zu einem laufenden oder (erfolglos) abgeschlossenen Asylverfahren erkundigen. In diesen Fällen ist immer an § 10 AufenthG zu denken!
§ 10 AufenthG regelt das Verhältnis von Asylantragstellung und Erteilung eines Aufenthaltstitels in verschiedenen Fällen. Der Zweck von § 10 AufenthG besteht darin, zu verhindern, dass Asylanträge missbräuchlich gestellt werden, um ohne Visumsverfahren nach Deutschland einzureisen und eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.
Die Vorschrift des § 10 AufenthG regelt drei verschiedene Konstellationen:
Konstellation 1: Erteilung eines Aufenthaltstitels während des Asylverfahrens
Konstellation 2: Verlängerung eines Aufenthaltstitels ungeachtet der Asylantragstellung
Konstellation 3: Erteilung eines Aufenthaltstitels nach abgelehntem oder zurückgenommenem Asylantrag
Nach § 10 I 1 AufenthG kann Asylsuchenden vor dem bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens ein Aufenthaltstitel außer in den Fällen eines gesetzlichen Anspruchs nur mit Zustimmung der obersten Landesbehörde und nur dann erteilt werden, wenn wichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland es erfordern. Dies bedeutet, dass eine Aufenthaltserlaubnis jedenfalls dann während des Asylverfahrens erteilt werden kann, wenn ein gesetzlicher Anspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis besteht. Räumt die einschlägige Vorschrift den Betroffenen keinen solchen Rechtsanspruch ein, so ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an Asylsuchende nur sehr eingeschränkt möglich.
Mithin kommt es entscheidend darauf an, ob A einen gesetzlichen Anspruch auf die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis hat. Hierbei ist zwischen der in Betracht kommenden Aufenthaltserlaubnis als Fachkraft mit Berufsausbildung (§ 18a AufenthG) sowie der Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug zu Deutschen (§ 28 I 1 Nr. 1 AufenthG) zu unterscheiden.
I. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Beschäftigung (Fachkraft mit Berufsausbildung, § 18a AufenthG)
[Bearbeiten]Nach § 18a AufenthG kann einer Fachkraft mit Berufsausbildung eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer qualifizierten Beschäftigung erteilt werden. § 18a AufenthG stellt damit die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in das Ermessen der Behörde. Mithin besteht kein gesetzlicher Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG.
Gesetzlicher Anspruch im Sinne des § 10 I AufenthG ist nur ein strikter Rechtsanspruch. Nach der Rechtsprechung des BVerwG wäre auch im Falle einer sogenannten Ermessensreduzierung auf Null zugunsten von A kein gesetzlicher Anspruch im Sinne der Vorschrift anzunehmen.[1]
Die Titelerteilungssperre des § 10 I AufenthG steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG an A entgegen. Die begehrte Aufenthaltserlaubnis als Fachkraft mit Berufsausbildung kann nach § 10 I AufenthG nur dann an A erteilt werden, wenn die oberste Landesbehörde zustimmt und wenn wichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland es erfordern. Dies ist in der Praxis überaus selten.
Oftmals führt das Nichtvorliegen einer oder mehrerer der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG dazu, dass kein gesetzlicher Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht. Besonders praxisrelevant sind hier die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 I Nr. 1 AufenthG), das Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses (§ 5 I Nr. 2 AufenthG) sowie die Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 II AufenthG). Häufig wird unterschätzt, wie „schnell“ mitunter ein Ausweisungsinteresse in der Behördenpraxis angenommen wird. Bestanden etwa vor der Asylantragsstellung längere Zeiten des unrechtmäßigen Aufenthalts, könnte unter Umständen ein Ausweisungsinteresse nach § 54 II Nr. 9 AufenthG einschlägig sein, sodass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 I Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt wäre.
II. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug (Ehegattennachzug zu Deutschen, § 28 I 1 Nr. 1 AufenthG)
[Bearbeiten]Nach § 28 I 1 Nr. 1 AufenthG ist dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Die Vorschrift des § 28 I 1 Nr. 1 AufenthG formuliert einen Anspruch auf die Aufenthaltserlaubnis für Ehegatten.
Sofern A alle besonderen Erteilungsvoraussetzungen der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 I 1 Nr. 1 AufenthG sowie die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG erfüllt, hat sie einen gesetzlichen Anspruch auf die Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug. Im Falle eines solchen gesetzlichen Anspruchs steht die Titelerteilungssperre des § 10 I AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an A nicht entgegen.
Der von § 10 I AufenthG erfasste Personenkreis von Betroffenen, die zuvor einen Asylantrag gestellt haben, ist in aller Regel nicht mit dem nach § 5 II AufenthG erforderlichen Visum in das Bundesgebiet eingereist. Die in § 10 I AufenthG vorgesehene Ausnahme von der Titelerteilungssperre in den Fällen eines gesetzlichen Anspruchs würde aber faktisch leerlaufen, wenn das fehlende Visum den gesetzlichen Anspruch entfallen ließe. Einen solchen Widerspruch verhindert § 39 S. 1 Nr. 4 AufenthV. Nach § 39 S. 1 Nr. 4 AufenthV können Inhaber*innen einer Aufenthaltsgestattung unter den Voraussetzungen des § 10 I oder II AufenthG einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen.
B. Erteilung eines Aufenthaltstitels nach unanfechtbarer Ablehnung des Asylantrags (§ 10 III AufenthG)
[Bearbeiten]Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an A nach unanfechtbarer Ablehnung ihres Asylantrags könnte die Titelerteilungssperre des § 10 III AufenthG entgegenstehen.
Nach § 10 III 1 AufenthG darf Betroffenen, deren Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist oder die ihren Asylantrag zurückgenommen haben, vor der Ausreise nur ein Aufenthaltstitel aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen (§§ 22-26 AufenthG) erteilt werden. Im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels findet diese Einschränkung hingegen keine Anwendung (§ 10 III 3 Hs. 1 AufenthG).
Die Regelung des § 10 III AufenthG verfolgt das Ziel, einen „Spurwechsel“ nach Rücknahme oder Ablehnung des Asylantrags zu einem Aufenthaltsrecht aus anderen Gründen zu erschweren beziehungsweise vollständig auszuschließen.[2]. Ein solcher „Spurwechsel“ ist abgelehnten Asylsuchenden nur noch dann möglich, wenn sie einen Aufenthaltstitel aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen (§§ 22-26 AufenthG) begehren oder einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels haben.
Im Rahmen der erstgenannten Konstellation (Erteilung eines Aufenthaltstitels aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) ist insbesondere an die Vorschriften des § 25 V AufenthG, des § 25a AufenthG (Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden) und des § 25b AufenthG (Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration) zu denken. Für die zweite Konstellation (Anspruch auf den Aufenthaltstitel) gilt ebenso wie bei § 10 I AufenthG, dass ein strikter Rechtsanspruch (keine Ermessensreduzierung auf Null) gegeben sein muss.[3]
In den Fällen einer Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 III Nr. 1-6 AsylG sind die Möglichkeiten eines „Spurwechsels“ nach § 10 III 2 AufenthG noch weiter eingeschränkt. Hier kann ein Aufenthaltstitel nur in den Fällen eines Anspruchs oder nach § 25 III AufenthG erteilt werden, also wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 V, VII AufenthG festgestellt wurde. Daneben können einzelne Aufenthaltserlaubnisse abweichend von § 10 III 2 AufenthG erteilt werden (vgl. §§ 19d III, 25a IV, 25b V 2 AufenthG).
Im Falle von A kommt kein Aufenthaltstitel aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen in Betracht, sondern eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Beschäftigung (§ 18a AufenthG) oder zum Zweck des Familiennachzugs (§ 28 I 1 Nr. 1 AufenthG). Ein solcher „Spurwechsel“ ist A nur dann möglich, wenn sie einen Anspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis hat (§ 10 III 3 Hs. 1 AufenthG).
Hinsichtlich der von A begehrten Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG besteht kein solcher Anspruch. § 18a AufenthG stellt die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in das Ermessen der Behörde. Insoweit ergeben sich keine Abweichungen zum Ausgangsfall.
Die Vorschrift des § 28 I 1 Nr. 1 AufenthG ist hingegen als gesetzlicher Anspruch formuliert. Sofern A alle besonderen Erteilungsvoraussetzungen der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 I 1 Nr. 1 AufenthG sowie die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG erfüllt, hat sie einen Anspruch auf die Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug. Die Titelerteilungssperre des § 10 III 1 AufenthG steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 I 1 Nr. 1 AufenthG nicht entgegen (§ 10 III 3 Hs. 1 AufenthG).
Ähnlich wie bei § 10 I AufenthG stellt sich auch bei § 10 III AufenthG das Problem, dass die Betroffenen in aller Regel nicht mit dem nach § 5 II AufenthG erforderlichen Visum in das Bundesgebiet eingereist sind. Die in § 10 III 3 Hs. 1 AufenthG vorgesehene Ausnahme von der Titelerteilungssperre in den Fällen eines Anspruchs würde aber faktisch leerlaufen, wenn das fehlende Visum den Anspruch entfallen ließe. Ein solcher Widerspruch lässt sich nach § 39 S. 1 Nr. 5 AufenthV jedenfalls dann vermeiden, wenn ein Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis infolge der Eheschließung oder der Geburt eines Kindes während des geduldeten Aufenthalts in Deutschland erworben wurde. Hierbei ist die Formulierung des „gesetzlichen Anspruchs" in § 39 S. 1 Nr. 5 AufenthV richtigerweise so zu verstehen, dass die Vorschrift ihrerseits das Vorliegen aller Erteilungsvoraussetzungen mit Ausnahme des Visumserfordernisses und der Titelerteilungssperre nach § 10 III 1 AufenthG voraussetzt.[4]
Weiterführende Literatur
[Bearbeiten]- Maier-Borst, Zu strikt beim „strikten Anspruch“? Anmerkungen zur Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Abschnitt 6 des Aufenthaltsgesetzes, ZAR 2013, 67.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
[Bearbeiten]- Haben Betroffene bereits einen Asylantrag gestellt und begehren nun die Erteilung eines Aufenthaltstitels, ist an die Titelerteilungssperre des § 10 AufenthG zu denken.
- Die Vorschrift des § 10 AufenthG regelt das Verhältnis von Aufenthaltsrechtsgewährung und Asylantragstellung in drei verschiedenen Konstellationen:
- Erteilung eines Aufenthaltstitels während des Asylverfahrens
- Verlängerung eines Aufenthaltstitels ungeachtet der Asylantragstellung
- Erteilung eines Aufenthaltstitels nach abgelehntem oder zurückgenommenem Asylantrag
- Ein „Spurwechsel“ nach Ablehnung des Asylantrags ist aufgrund der Titelerteilungssperre des § 10 III 1 AufenthG nur sehr eingeschränkt möglich.
- Gesetzlicher Anspruch im Sinne des § 10 I, III 3 Hs. 1 AufenthG ist nur ein strikter Rechtsanspruch. Eine Ermessensreduzierung auf Null genügt nicht.
Fußnoten
[Bearbeiten]- ↑ Vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.2008, Az.: 1 C 37/07, LS 3, Rn. 21 = BVerwGE 132, 382.
- ↑ Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AufenthG, 13. Aufl. 2020, § 10 Rn. 23.
- ↑ BVerwG, Urt. v. 16.12.2008, Az.: 1 C 37/07, LS 3, Rn. 21 = BVerwGE 132, 382.
- ↑ Vgl. hierzu mit Kritik an einer zu restriktiven Verwaltungspraxis: Maier-Borst, ZAR 2013, 67 ff.