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Einstellungen und Vorurteile gegenüber Behinderten, sowie deren Abbau und Entstigmatisierung[Bearbeiten]

Einführung

Zunächst möchte ich jene Fragen aufgreifen, die Hensle (1994, S. 7) in seinem Vorwort zur 2. Auflage stellt. Wem nutzt nun eigentlich „Behindertenforschung“? Hat die Gesellschaft jene Behinderten, die sie verdient? Erzeugt die Umwelt durch Lebenseinschränkungen Behinderungen? Was tragen Menschen mit Handicap zur Humanität einer Sozietät bei? Sollte es nicht auch möglich sein jemanden auch so anzunehmen, in welcher Befindlichkeit er/sie auch gerade ist? Weiters scheint mir wichtig vorwegzuschicken, daß es unterschiedliche Behindertenparadigmen gibt. Es existieren also nebeneinander diverse professionelle Sichtweisen, grob vereinfacht eine medizinische, eine psychologische und eine sonderpädagogische. In der Öffentlichkeit entsteht langsam aber sicher der Eindruck, daß durch die unzähligen Förderungen Behinderter das Phänomen Behinderung im Verschwinden begriffen ist. Entwicklung, Lernen und Integration sind längst zu geflügelten Begriffen geworden. Doch diese Bemühungen geben eine Seggregierung von Andersartigen vor und verstärken Normalisierungstendenzen. Ich, als Erziehungswissenschaftler, wäre jedoch schlecht beraten diese Bewegungen grundsätzlich in Frage zu stellen oder gar darauf zu verzichten. Aus diesen Gründen gilt mein Interesse der Entwicklung einer Sonder- und Heilpädagogik, die die „Erziehung und Rehabilitation aller Behinderten“ zum Ziel hat (Hensle 1994, S. 12; vgl. Stadler 1976a). Im nun folgenden Abschnitt werde ich Beiträge der Sozialpsychologie und Sozialforschung zu Einstellungen und Vorurteilen gegenüber Behinderten mit allgemeinen Ansätzen zu Voreingenommenheit, Stigmatisierung, Etikettierung und Generalisierung verbinden. Weiters versuche ich deren Abbau anzureißen, zumindestens beschäftige ich mich mit theoretischen Konzepten der Einstellungsänderung, des Vorurteilabbaus und der Entstigmatisierung, sowie der Integration.

Sozialpsychologie und Sozialforschung[Bearbeiten]

Auf einem abstrakteren Niveau stelle ich nun den Bezug zwischen Behinderten und ihrer Umwelt dar. Einstellungen der Gesellschaft zu Randgruppen zu erforschen ist zwar ein gängiges Thema in der Sozialforschung, gestaltet sich mir jedoch äußerst diffizil. Nachdem ich kurz auf Methoden der Einstellungsforschung eingegangen bin, streife ich einen Klassiker der Sozialpsychologie, Adornos Studien zum autoritären Charakter. Ausgehend von der Erziehung zu autoritär-hirarchischen Denkweisen will ich also Stereotype und Vorurteile gegenüber Behinderten aufzeigen. Weiters behandle ich den Ansatz der Stigmatisierung bzw. Etikettierung, sowie den der Generalisierung. Einen großen Platz sollen dann im nächsten Abschnitt Konzepte zum Abbau von Vorurteilen und Stigmata einnehmen. Dabei geht es nicht nur um Änderungen bestehender (negativen) Einstellungen, sondern auch um die Bildung mündiger Charaktäre schon in der Kindheit.

Einstellungsforschung

Einstellungen kann man nach Jansen (1972, S. 12) erst dann beeinflussen, wenn sie einem bekannt werden. Bracken (1976, S. 211) hält fest, daß Einstellungen zu Körperbehinderten am besten erforscht seien. Ders. hat in einer represativen Studie auch Gesinnungen in Bezug auf lern- und geistigbehinderte Kinder erhoben. Vorweggeschickt sei, daß Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber Behinderten grundsätzlich eine ungünstige Färbung zeigen und von Distanzierung durchsetzt sind. Hensle (1994, S. 196) faßt Ergebnisse mehrerer solcher Untersuchungen zusammen und resümiert, daß „Behinderten ungünstige Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit der Behinderung als solches nichts zu tun haben“ . Als markantes Wesensmerkmal sehen die meisten Menschen bei einem behinderten Menschen auch vorwiegend die Pathologie, die Abweichung. Behinderung löst für die mit ihr Konfrontierten einen Schock und jener wiederum Angst aus. Bürgerliche Werte wie die Wertvorstellung von Leistung werden in Frage gestellt. Die Reaktion der Gesellschaft zeigt sich durch Verdrängung und Abwehr. Darin begründet sich auch die Absonderung in Sonderschulen, Heime und anderen Institutionen. Eine Einstellungsforschung gestaltet sich allein deswegen nicht einfach, da es mannigfaltige Einstellungen gibt, die sich stetig verändern.

Einstellungen

Einstellungen sind „überdauernde Reaktionsdispositionen eines Individuums gegenüber einer Klasse von Objekten in allgemeinster Form“ .

„Zu einer Attitüde gehört demnach: eine kognitive Komponente (Vorstellungen und Überzeugungen von ihrem Gegenstand) eine affektive Komponente (eine mehr oder minder intensive, positive oder negative gefühlsmäßige Bewertung) eine aktionale oder konative Komponente (eine Tendenz, sich dem Objekt gegenüber in bestimmter Weise handelnd zu verhalten).“ Es wird also hinsichtlich des Bewußtseinsgrades zwischen bewußten, vorbewußten und eher unbewußten Attitüden unterschieden (vgl. Hensle 1994, S.200f). Diese Trennung stammt aus der philosophischen Tradition, die zwischen Denken, Fühlen und Handeln unterscheidet. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse lassen darauf deuten, daß „einzelne Komponenten gewöhnlich hoch miteinander korrelieren (Müller/Thomas 1974, S. 235)“ . Und noch ein zentrales Forschungsergebnis möchte ich herausstellen: „Soziale Einstellungen werden zum allergrößten Teil nicht im Kontakt mit ihrem Objekt, sondern im Kontakt mit anderen Einstellungsträgern gelernt.“

Methoden der Einstellungsforschung

Bei Methoden der Einstellungsforschung kann zwischen Befragungen und „quasiexperimentellen Verfahren“ unterschieden werden. Die postalische Befragung hat zwar den Vorteil oft eine sehr große Reichweite zu haben, jedoch ist die Rücklaufquote und die Representativität dann meistens nicht mehr gegeben. Bei einer Fragebogenaktion, etwa in einer Gruppensituation passiert auch regelmäßig, daß „sozial erwünschte“ Antworten gegeben werden. Daher werden bevorzugt eher mündliche Befragungen für die Einstellungsforschung eingesetzt. Entweder werden die Interviewten anhand eines standardisierten Fragebogens oder anhand eines Interviewleitfadens befragt. G.W. Jansen (1972) setzte in seiner Körperbehindertenstudie Tiefeninterviews ein. „Informelle Fragen und Eingehen auf die Auslassungen des Interviewten geben diesem dabei Gelegenheit, seine Einstellungen, seine Begründungen für sie und ihre Einbettung in seine individuelle Persönlichkeit näher zu erschließen.“ Zu den quasi-experimentellen Verfahren zählen die soziometrischen Wahlen, bei denen aus dem Beliebtheitsgrad einzelner Behinderten auf zugrundeliegende Einstellungsmuster geschlossen wird (vgl. Haupt 1974 bzw. Pawel 1977). Das Polaritätenprofil (oder Semantische Differential) erfaßt die Konnotation, also die Bedeutung von Worten. Den Befragten werden polare Gegensatzpaare vorgelegt, zwischen diesen jene sich entscheiden müssen. Weiters werden Photos verwendet, auf denen das Gesicht Behinderter zu betrachten ist. Die Probanden geben danach ihre Eindrücke und Empfindungen wider. Nach Bracken (1976, S. 34) ist auch die Messung der psychogalvanischen Hautreaktion oder die Ermittlung der Merkfähigkeit unterschiedlicher Aussagen über Behinderte möglich. Non-reaktive Techniken (vgl. Bungard/Lück 1975) werden dann verwendet, wenn der Befragte keine Ahnung hat an einer Untersuchung teilzunehmen. Beispiele sind Konfrontationen auf der Straße oder inhaltsanalytische Auswertung von Medienberichten (vgl. Zimmermann 1977).

Stereotypisierung und Vorverurteilung

Die Fragen, wie Vorurteile gebildet werden und welche Wirkungen sie haben beschäftigt die klassische Sozialpsychologie schon Jahrzehnte. Erstere haben Adorno et al. (1950/1969) mit dem Konzept der „authoritarian personality“ zum Teil beantwortet. „Danach bilden Dogmatismus (starres Festhalten an den eigenen Überzeugungen), Ethnozentrismus (Aufwertung der eigenen Gruppe und Ablehnung alles Fremden), politisch-ökonomischer Konservatismus (Betonung von Besitz, Eigentum und sozialer Ungleichheit) sowie Antisemitismus (Ablehnung der jüdischen Bevölkerungsgruppe) ein kovariierendes, im allgemeinen gemeinsam auftretendes Einstellungssyndrom, das sich durch Rigidität, das heißt relative Unbeeinflußbarkeit, auszeichnet. Die ,autoritäre Persönlichkeit‘ nun sei es, die besonders zu Vorurteilen neige, weil diese projektive Entlastungsmechanismen im Sinne der Tiefenpsychologie darstellten.“ Die Wirkungen von Vorurteilen auf ihre Opfer sind von Allport erhoben worden. Ein Katalog möglicher Reaktionen findet sich in Bracken (1976, S. 19f): „1. Zwanghafte Besorgtheit 2. Leugnung der Zugehörigkeit 3. Rückzug und Passivität 4. Clownspielerei 5. Verstärkte Wir-Gruppen-Bindungen 6. Hereinlegen und Betrügen 7. Identifikation mit der herrschenden Gruppe, Selbsthaß 8. Aggression gegen die eigene Gruppe 9. Vorurteil gegen Fremdgruppen 10. Sympathie (mit Unterdrückten) 11. Zurückschlagen, Kampfbereitschaft 12. Verstärkte Strebsamkeit 13. Streben nach symbolischen Status 14. Neurotizismus 15. Selbsterfüllung von (Mehrheits-)Prophezeiungen.“

Zur psychosozialen Dynamik des autoritären Charakters

In den vereinigten Staaten setzte die Frankfurter Schule ihre sozialpsychologischen Studien fort, um die Ursachen zu erhellen, aus denen für totalitäre Systeme typische Einstellungen, Glaubensvorstellungen und Mythen entstehen und sich am Leben erhalten. Aus diesen Untersuchungen resultierten u.a. Arbeiten über den Antisemitismus sowie das Sammelwerk „The Authoritarian Personality“ , das sich auf Projektionstests und Befragungen stützte. In diesem Werk wurden Korrelationen zwischen verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen von Menschen untersucht, die dazu neigen Autoritäten anzuerkennen und zu verehren, aber auch Zusammenhänge zwischen dem Vorhandensein und der Intensität dieser Merkmale einerseits und verschiedenen gesellschaftlichen Variablen wie Klassenzugehörigkeit, Art der familiären Erziehung und religiösen Anschauungen anderseits. Die Familie besorgt als eine der wichtigsten erzieherischen Mächte, die Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert und gibt ihnen zum großen Teil die unerlässliche Fähigkeit zu dem besonders gearteten autoritären Verhalten, von dem der Bestand der bürgerlichen Ordnung im hohen Maße abhängt. „Der Eigenwille des Kindes soll gebrochen werden und der Wunsch nach freier Entwicklung durch den inneren Zwang zur unbedingten Pflichterfüllung ersetzt werden.“ D.h., dass in der familiären Struktur bereits die Autoritätsstruktur der Wirklichkeit der Gesellschaft vorweggenommen wird. Dies führt dazu, dass die herrschende Verschiedenheit der Existenzbedingungen, die Menschen in der Welt vorfinden ohne daran zu rütteln, einfach hinzunehmen ist. In Folge der scheinbaren Natürlichkeit der väterlichen Macht, die aus der „doppelten Wurzel seiner ökonomischen Position und seiner juristisch sekundierten physischen Stärke“ hervorgeht, bildet die Erziehung in der Kleinfamilie eine ausgezeichnete Schule für das kennzeichnende autoritäre Verhalten in dieser Gesellschaft. Für die Entwicklung des autoritären Charakters ist es wesentlich, dass die Kinder unter dem Druck der Familie lernen, jeden Misserfolg nicht bis zu seinen gesellschaftlichen Ursachen zurückzuführen, sondern bei den individuellen stehen zu bleiben und diese entweder religiös als Schuld oder naturalistisch als mangelnde Begabung zu hypostatisieren.

Stereotyp

Der Begriff Stereotyp ist nach Hofstätter (1957, S. 99) „die Annahme von Charakterbildern, die für das Gros der Angehörigen einer Gruppe als gültig betrachtet werden“ .

Vorurteil

Der Terminus Vorurteil wird „,hauptsächlich im Sinne einer feindlichen Haltung gegenüber einer oder mehrer sozialen Gruppen verwendet (z.B.: gegenüber rassistischen, nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppen)‘(Tajfel 1972, S. 739)“ . Allport (1971, S. 23) definiert Vorurteil als „eine Antipathie aufgrund einer falschen und unflexiblen Verallgemeinerung, die empfunden und auch ausgedrückt werden kann. Diese Antipathie kann sich gegen eine Gruppe als Ganzes richten oder gegen ein Individuum, weil es dieser Gruppe angehört“ . Bracken (1976, S.37ff) führt drei Kriterien für Vorurteile gegenüber Behinderten auf: „1. Ungünstige Abweichungen von der Realität: Behinderten werden Merkmale zugeschrieben, die sie nicht oder nicht in diesem Ausmaß aufweisen. (...) 2. Anti-Normalität des sozialen Bildes: ... Gewiß weichen Behinderte von der statistischen Norm der Bevölkerung ab, das macht ja-unter anderem- ihre Behinderung aus; jedoch geht es darum hier nicht. Vielmehr meint von Bracken (S.37f) hier das Prinzip der ,sozialen Normalisierung‘, das zuerst in Dänemark 1969 für die geistig Behinderten formuliert wurde: ...-den geistig Behinderten ein Dasein ermöglichen, das dem normalen so nahe wie möglich kommt. Global könnte man hier das Schlagwort ,Integration‘ nennen (...) 3. Mangel an persönlichem Wohlwollen: Mit diesem Kriterium ist insbesondere die affektive Dimension der negativen Attitüde ,Vorurteil‘ angesprochen. (...)“ .

Stigmatisierungsansatz

Seit dem Altertum meinte man, Personen mit spezifischen Merkmalen seien gebrandmarkt, also irreversibel mit einem Mal ge(kenn)zeichnet. Diese Menschen galten als rituell unrein und wurden gemieden. Für Goffman (1967, S. 10f) macht bereits die Eigenschaft, weswegen jemand abgewertet wird, die Diskreditierung aus. Hohmeier (1975, S. 7) meint, dass erst „die negative Definition des Merkmals bzw. dessen Zuschreibung“ den Ruf stört. Die Begriffe „Etikettierungsansatz“, „labeling approach“ oder „social reaction approach“ werden nach Brusten/Hohmeier (1975) synonym, also nebeneinander verwendet.

Stigma

Hohmeier (1975, S. 7) definiert den Begriff Stigma als einen „Sonderfall eines sozialen Vorurteils gegenüber bestimmten Personen, durch das diesen negative Eigenschaften zugeschrieben werden“ . Goffman (1967, S. 12f) unterscheidet zwischen drei verschiedenen Arten: „1. ,Abscheulichkeiten des Körpers – die verschiedenen physischen Deformationen‘; 2. ,individuelle Charakterfehler, ...welche alle hergeleitet werden aus einem bekannten Katalog, zum Beispiel von Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Sucht, Alkoholismus, Homosexualität, Arbeitslosigkeit, Selbstmordversuchen und radikalem politischem Verhalten‘; 3. ,die phylogenetischen Stigmata von Rasse, Nation und Religion‘“ . Stigmatisierung wird als prozessualer Ansatz betrachtet. Das Hauptaugenmerk richtet sich nach Hensle (1994, S. 210) also auf den Prozess der Ausgrenzung, die „Karriere“ des Stigmatisierten.

Haben Beurteilende eine bestimmte soziale Machtposition inne, so folgt zumeist auch ein Prozess der Sanktionierung, das heißt ein Versuch die Normalabweichungen zu reduzieren. Oft aber provozieren jene gerade Stigmatisierungsprozesse, die „abweichende Karrieren" der Betroffenen zur Folge haben (vgl. Datler 1987, S. 22). „Stigmatisierte Personen" entfalten „negative Selbstkonzepte" und beginnen „die ihnen zugesprochene Rolle selbst zu spielen"(Thommen 1985, 113; vgl. Brusten und Hurrelmann 1973, sowie Homfeld u.a. 1977, 97ff) . Somit wird dann das gerechtfertigt, was im Rahmen dieser institutionalisierten Bedingungen geschieht. Wenn ich zum Beispiel annehme, dass ich missachtet werde, dann werde ich mich auch unbewusst in einer misstrauischen, unverträglichen, überempfindlichen Weise verhalten, die bei den anderen Menschen genau jene Geringschätzung hervorruft, die meine vorangegangene Überzeugung erneut bekräftigt. Eine Voraussetzung dabei ist, dass ich bestrebt bin, die Meinung der Leute auszutesten, jene also herauszufordern. Auch die Linearität dieses Schemas ist nur beim oberflächlichen Betrachten zu vertreten. Bei manchen Rechtsextremisten etwa führen unter anderem wirtschaftliche und soziale Benachteiligungen zu Desintegration. Dies hat eine Stigmatisierung als „Randgruppe" zur Folge. Die auffälligen Jugendlichen fassen diese Etikettierung oft als „zu-sich- gehörig" auf und nehmen somit die Vorurteile teilweise unbewusst an. Sie verhalten sich dann auch entsprechend den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften. Dies ist nur ein Versuch von vielen die Entstehung von Rechtsextremismus zu erklären. Etikettierung und Stigmatisierung haben also ein Naheverhältnis zu „selbst erfüllenden Prophezeiungen“. Als erstes beschrieb Merton (1967) das Phänomen der „self-fulfilling prophecy“. Ich führe eine Definition nach Watzlawick (1991) aus: „Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist eine Annahme oder Voraussage, die rein aus der Tatsache heraus, dass sie gemacht wurde, das angenommene, erwartete oder vorhergesagte Ereignis zur Wirklichkeit werden läßt und so ihre eigene ,Richtigkeit' bestätigt“. Rosenthal und Jacobsen (1974) suchten den „Versuchsleiter-Effekt“ auch im schulischen Kontext nachzuweisen. In Anlehnung an Shaws Komödie wird dieser Erwartungseffekt auch „Pygmalion-Effekt“ genannt . „Einige der gesichertsten und elegantesten Untersuchungen von selbsterfüllenden Prophezeiungen auf dem Gebiete menschlicher Kommunikation sind mit dem Namen des Psychologen Robert Rosenthal von der Harvard-Universität verbunden. Es sei hier vor allem sein Buch mit dem treffenden Titel 'Pygmalion im Unterricht' erwähnt, in dem er über die Ergebnisse seiner sogenannten Oak-School-Experimente berichtet. Es handelte sich dabei um eine Volksschule mit 18 Lehrerinnen und über 650 Schülern. Die selbsterfüllende Prophezeiung wurde in den Lehrkräften dadurch erzeugt, dass die Schüler vor Beginn eines bestimmten Schuljahres einem Intelligenztest unterzogen wurden, von dem den Lehrerinnen aber mitgeteilt wurde, dass er außer dem Intelligenzgrad auch die Feststellung jener 20 % der Schüler ermögliche, die im bevorstehenden Schuljahr rasche und überdurchschnittliche Leistungsfortschritte machen würden. Nach Durchführung der Intelligenzprüfung, aber noch bevor die Lehrerinnen zum ersten Mal mit ihren neuen Schülern zusammentrafen, erhielten sie die (der Schülerliste völlig wahllos entnommenen) Namen jener Schüler, von denen auf Grund des Tests jene ungewöhnlichen Leistungen angeblich mit Sicherheit erwartet werden konnten. Der Unterschied zwischen diesen und den übrigen Kindern bestand also nur im Kopf der jeweiligen Lehrerin. Am Ende des Schuljahres wurden derselbe Intelligenztest für alle Schüler wiederholt und ergab tatsächlich überdurchschnittliche Zunahmen des Intelligenzquotienten und der Leistungen dieser 'besonderer' Schüler, und die Berichte der Lehrkräfte bewiesen ferner, dass sich diese Kinder auch sonst in Verhalten, intellektueller Neugierde, Freundlichkeit und so weiter vorteilhaft von ihren Mitschülern abhoben.“ Das sei Anstoß genug, zu kritischen Überlegungen zu gelangen, welche in Reformen oder Neugestaltungen von Institutionen nicht nur im Bereich der Behindertenpädagogik münden sollten.

Etikettierung

Der Etikettierungsansatz gilt als Alternative zu Devianztheorien, die abweichendes Verhalten mit Persönlichkeits- oder Milieufaktoren gleichsetzen.

„Nicht mehr das diskreditierende Attribut und das individuelle Stigma-Management stehen im Vordergrund, sondern die gesellschaftlichen Kontrollinstanzen, die die inerwünschten Abweichungen ausfindig machen, definieren, identifizieren, mit einem Etikett versehen (,labeling‘), das Stigma somit erst schaffen oder zumindest fixieren.“

Labeling

Das Versehen eines Menschen mit einem Etikett bezeichnet Hensle (1994, S. 209) als „labeling“. Wenn man dem „Labeling" -Ansatz folgt, dann gilt dabei folgendes. Die Bezeichnung eines Verhaltens als „gestört" hängt vom normativen Bezugssystem des Beurteilers, dem dieses Verhalten negativ auffällt, ab. „Abweichendes" oder als „gestört" eingestuftes Benehmen werde daher erst dadurch „geschaffen ..., dass gesellschaftliche Gruppen ... Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln (Thommen 1985, 111)“ .

Generalisierung

Stigmatisierungsprozesse generieren sich aus Merkmalszuschreibungen der Bevölkerungsmehrheit, die das Ziel haben sich von Normabweichungen abzugrenzen. Es kommt sogar soweit, dass auf dem Weg der Generalisierung dem Stigmatisierten „weitere ebenfalls negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit dem tatsächlich gegeben Merkmal objektiv nichts zu tun haben (Hohmeier 1975, S. 7)“ . Hensle (1994, S. 214) fasst die wesentlichen Stationen eines Stigmatisierungsprozesses kurz zusammen: „1. Ein Individuum weist eine außerhalb des Normbereichs liegende Eigenschaft auf oder zeigt eine primäre Abweichung in seinem Verhalten. 2. Die Gesellschaft hat diese Eigenschaft als negativ und diskreditierend definiert. 3. Die Definition wird auf das Individuum bezogen: aus der Eigenschaft wird ein Stigma, aus der primären Abweichung ein Etikett. 4. Das Stigma wirkt Generalisierend, weitere negative Eigenschaften werden zugeschrieben. 5. Der Stigmatiserte setzt sich mit dem Stigma auseinander, die sozialen Kontrollinstanzen suchen es durchzusetzen. In vielen Fällen wird der Stigmatisierte die ihm zugeschriebene (beschädigte) Identität als neue Rolle akzeptieren“ .


Pädagogisches Einwirken[Bearbeiten]

Zur besseren Beschreibung und zum unproblematischeren Umgang des Verhältnisses zwischen Behinderten und Nichtbehinderten scheint laut Hensle (1994, S. 200) das Einstellungkonzept (s.o.) adäquater zu sein. Es ermögliche Ansätze für positives Einwirken und für künftige Veränderungen. Die ungünstigen Einstellungen werden eher durch konkret-praktische Maßnahmen geändert, also im direkten Kontakt. Einige theoretische Abhandlungen dazu will ich kurz rezipieren. Ansätze von Einstellungsänderung, Vorurteilsabbau und Entstigmatisierung werde ich dabei nebeneinander beleuchten. Bracken (1976, S. 313) differenziert anhand seiner drei Vorurteils-Kriterien drei Aufgaben: 1. Behinderte müssen realistisch gesehen werden, die Gesellschaft besser über sie informiert sein. 2. Es ,muß das soziale Bild der Behinderten... in den Bereich der Normalität aufgenommen werden‘; soziale Distanz und Diskriminierung sind abzubauen. 3. An die Stelle der ,negativen Gefühle, die bis zu Ablehnung, ja Abscheu gehen‘, muß ,aktives persönliches Wohlwollen‘ treten“.

Esser (1975, S. 124) sieht es folgendermaßen: „..den Nichtbehinderten mit dem Behinderten und seiner Situation bekannt machen, seine Voreingenommenheit durch Erfahrungen ersetzen und dadurch die Abwehrhaltung auflösen und die Zuwendungsbereitschaft ermöglichen, die man üblicherweise gegenüber anderen aufbringt“. Hensle (1994, S. 226) erscheint der Abbau von Vorurteilen gegenüber Behinderten als ein schwieriger, langer Prozess und ders. macht dabei drei Unterscheidungen: „1. Maßnahmen, die bereits vorhandene Vorurteile und ungünstige Einstellungen abbauen sollen; dies könnte geschehen a) durch direkten Kontakt mit Behinderten (dem Einstellungsobjekt), b) durch persönliche Kommunikation mit relativ vorurteilsfreien Einzelpersonen oder Gruppen, c) durch den Einfluß der sogenannten Massenmedien (Fernsehen, Rundfunk, Zeitung, aber auch Illustrierte und Bücher). 2. Maßnahmen, die Vorurteile und ungünstige Einstellungen gar nicht erst aufkommen lassen sollen; sie setzen naturgemäß in der Kindheit an und umfassen ein ganzes Programm aus Begegnung und Information zum jeweils richtigen Zeitpunkt, mit dem man der Übernahme gesellschaftlich verbreiteter Vorurteile zuvorkommen könnte. 3. Maßnahmen, die sich an den Behinderten sebst richten: durch Vermeidung sekundärer Verhaltensstörungen und Vermittlung geeigneter Interaktionsmuster soll er selbst dazu beitragen, die bestehenden Interaktionsbarrieren abzutragen.“ Nach McGuire (nach Mueller/Thomas 1974, S. 256) müssen folgende Schritte bei einer Einstellungsänderung ablaufen, wenn diese erfolgreich sein soll: 1. Aufmerksamkeit erregen 2. Kommunikation muss gelingen (aufnehmen, verstehen, wiedergeben) 3. Akzeptanz von Aussagen 4. Behalten der veränderten Einstellungen 5. Umsetzung im Verhalten.

Entstigmatisierung

Ich möchte nun auf Baulig (1982, 141) eingehen, der die Frage aufwirft, wie pädagogische Einwirkungen auf Stigmatisierungen insbesondere unter Schülern positive Wirkungen haben können. „Vier Anhaltspunkte konnten von uns zur rudimentären Erfassung solcher Verhaltensaspekte beim Schüler erarbeitet werden: - Die Reproduktion von Stigmatisierungen drückte sich in der Beziehung zum Mitschüler in ganz massiven Entwertungen aus, die dem anderen nach Mißerfolgserlebnissen angetragen wurden. - Solche Reproduktionen richteten sich gegen die Institution und führten zu ihrer totalen Negativierung. - Sie sprachen den Lehrer nicht als Beziehungsperson, sondern in seinem funktionalen Rollenaspekt an, entwerteten ihn als blöd oder verrückt und machten infolgedessen jeden Ansatz einer Unterrichtssituation zunichte. - Auffällig bei der Reproduktion von Stigmatisierungen war ferner die schablonenhafte Verhaltens- und Meinungsäußerung der Kinder. Bei anderen konflikthaften Verhaltensaspekten war die Individualität der kindlichen Konflikte vergleichsweise deutlich wahrnehmbar.“ Es erscheint mir daher äußerst notwendig, Stigmatisierungen aufzuarbeiten. Die Betroffenen sollen sich der Motive, der Zuschreibungen bewusst werden, sich vom entstandenen Druck befreien. Durch diese und andere Maßnahmen sollen Kinder dagegen immunisiert werden, Fremddefinitionen ihrer sozialen Merkmale in ihre Identifikation zu übernehmen. Wenn sie erlebte Stigmatisierungen reflektierten und mit ihnen umgehen können, dann vermeidet man auch, dass jene ihren eigenen Druck auf andere abwälzen und jene mit „behindert / gestört" diskreditieren. Der Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit liegt dabei in der Gruppe. In gemeinsamen Sitzungen befassen sich die Kinder mit schulischem, familiärem und partnerschaftlichem Bereich. Eine intensive Beschäftigung mit eigenen und fremden Erfahrungen hilft bei der Bewältigung von aktuellen Situationen. Durch akzeptierende Beziehungsangebote und Gespräche können Konflikte besser verarbeitet werden. Auf diesem Weg entsteht ein „wärmeres" Klima in der Klasse. Konfliktverarbeitende Maßnahmen gehen von der Annahme aus, dass als wesentliche Ursachen von Aggression innerpsychische und gruppenbezogene Konflikte vorhanden sind. Durch Umlenkung oder Lösung von Aufgaben sollen Energien freigesetzt werden, die einer sozialen Weiterentwicklung dienen. Dies alles setzt ein positives Verhältnis von Schüler und Pädagoge voraus. Dies fördert erst das Vertrauen und das Öffnen des auffälligen Kindes. Konkret wird in der Arbeit mit „Verhaltensgestörten" versucht, Problemfilme zu zeigen, Konfliktorientierte Geschichten zu erzählen, konfliktverarbeitend zu unterrichten, Interaktionsspiele zu machen, problemorientierte Gruppen- und Einzelgespräche zu führen. Den Forderungen der Vertreter der Menschenrechtsbewegung folgend ist der Zugang für Behinderte zu Gemeinschafts-, Freizeit- und Erholungseinrichtungen, sowie zu öffentlichen Veranstaltungen ein Grundrecht. Ausgesprochen wichtig ist das Wohnen in nicht abgesonderten Bereichen, das Leben in der Gemeinschaft mit „Nichtbehinderten". Individuelles Leben der beeinträchtigten Menschen hat eine Normalisierung der Umwelt zur Folge. So gehen die Bemühungen dahin, dass die Mitmenschen sich den Bedürfnissen der Behinderten öffnen und diese in ihre Gemeinschaft einbeziehen. Praktische Konsequenzen sind die Schließung von Institutionen und das Integrieren der „Leute mit einem größerem Handikap" in geeignete gemeinwesenorientierte Wohnformen (z.B.: Trainingswohnungen oder Wohngemeinschaften). „Der Zeitpunkt, zu dem für ein Kind außerfamiliäre Umweltkontakte erstmals bedeutsam werden, Voreingenommenheit und Distanzgefühle aber noch nicht übernommen sind (die Zeit um das dritte Lebensjahr also), erscheint als optimal für ein Lernen integrativer Verhaltensweisen zwischen Behinderten und Nichtbehinderten; ,in diesem Alter ist die höchstmögliche Unvoreingenommenheit in der Begegnung von behinderten und nichtbehinderten Kindern zu erwarten‘(Esser 1975, S. 126).“

Integration

Integration ist in den letzten Jahren zu einem sehr beliebten und geflügelten Prinzip auserkoren worden. Es regen sich aber den Trend hinterfragende Stimmen, die einerseits der Entwertung des Begriffs und andererseits der Normalisierung entgegenwirken wollen. „Selbst der Begriff ,Integration‘, in den letzten Jahren so beliebter, zungengängiger Nenner für zeitgemäße und fortschrittliche Behindertenarbeit, ist bereits wieder fragwürdig, angreifbar geworden. (...) Nicht nur, dass Integrationsabsicht und Normalisierungsprinzip bisweilen seltsame Projekte zeitigen, etwa wenn mehrfach- und schwerstbehinderte Kleinkinder aufwendigen Wintersportarten unterzogen werden, zu denen selbst viele Nichtbehinderte keinen Zugang haben. (...) Nein auch grundsätzlich wird der Integrationsgedanke bereits kritisiert: setzte er doch als quasi selbstverständlich voraus, dass zuvor eine Separierung stattgefunden habe; es gebe dabei immer noch integrierende Förderer und zu integrierende Behinderte, also keine wirkliche gleichberechtigte Partnerschaft.“ Wenn wir von Integration reden, so gehen wir häufig von falschen Denkvoraussetzungen aus. Integration ist primär nicht ein schulpolitisches Problem. Es betrifft die Wurzel der Gesellschaft und betrifft die Geburt ebenso wie die Leistungsnormen und dann auch das Altern. Daher ist Integration nicht losgelöst vom allgemeinen gesellschaftlichen Zustand zu betrachten und es ist deswegen unerlässlich, klare Zielvorstellungen zu verfolgen, die über den Horizont des kurzfristig gesehenen pragmatisch notwendigen Kompromisses hinausreichen. Nicht nur aus diesem Grund kann auf das Prinzip Integration nicht mehr verzichtet werden, da es alljene Bestrebungen in der Behindertenpädagogik in Frage stellen würde. Zentraler Kern der Integration und des Nichtaussonderns ist nach Schönwiese das Recht des Behinderten auf ein eigenes Leben. Schönwiese, der persönlich von Behinderung betroffen ist, meint folgendes: was es heißt in einer Randgruppe zu leben, versteht wirklich nur der, der selbst behindert ist. In vielen Fällen sprechen die Helfer und Betreuer für ihre behinderte Klientel, wodurch es oft zu einer Verzerrung der tatsächlichen Anliegen des behinderten Menschen kommt. Zuviel Schutz entmündigt, angebracht ist daher die Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung (vgl. Hovorka 1995, S. 10). Dies setzt jedoch eine Dialogbereitschaft der Gesellschaft voraus und verlangt gesicherte soziale Bezüge für den behinderten Menschen und schließt das Recht des Behinderten auf Eigensinn ein. Notwendig erscheint für Hovorka (1995, S. 10) daher „eine gesellschaftstheoretisch begründete ,Handlungs- und Verhaltensänderungsforschung‘, die soziale Benachteiligungen jener Menschen und Bevölkerungsteile im Fokus hat, die gemeinhin als ,Behinderte‘ bezeichnet werden, das heißt, an einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe in allen Lebensbereichen aufgrund ausgrenzender Rahmenbedingungen ,gehindert‘ werden. Eine solche lebenswelt- und alltagsbezogene Forschung kann sich zwangsläufig nicht nur auf die vorschulische und schulische Lebensphase behinderter Kinder und Jugendlicher beschränken, sie macht eine parteiische, sozialpolitisch motivierte Einmischungsstrategie von Forschung, vor allem auf kommunaler und regionaler Entscheidungsebene, notwendig“ . Eine „integrationspädagogisch definierte Forschung“ sollte sich nach Hovorka (1995, S. 10) also nicht vorrangig mit der Rechtfertigung von Integration an sich, also mit der Frage, ob Integration sinnvoll sei, beschäftigen. Sondern es sei zu untersuchen, wie nichtaussondernde Lebens- und Lernbedingungen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu schaffen seien . „Integrationspädagogisch verpflichtete multiproffessionelle Forschung und Lehre hätte sich raschest in die manchmal jeglicher Qualitätskontrolle entzogenen Praxisbedingungen schulischer und außerschulischer Behindertenarbeit einzumischen und Mißstände (Mißbrauch behinderter Menschen) öffentlich zu skandalisieren, wofür fachlich horizontale und hierarchische vertikale Bündnisstrukturen zu entwickeln sind.“


--Tarek Brain 22:30, 8 November 2005 (UTC)