Zweideutigkeit als System - Thomas Manns Forderung an die Kunst: Der Tod in Venedig

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Erstdruck in einer Auflage von 100 Exemplaren
Entstehung: Juli 1911 bis Juli 1912.

Auch in dieser Novelle hat Thomas Mann die zentrale Figur mit eigenen Zügen ausgestattet. Wieder geht es um einen Schriftsteller, doch diesmal keinen jungen und nach Orientierung suchenden, sondern um einen alternden, berühmten Künstler, der für seine Verdienste geadelt worden ist. Seine Werke ähneln in bewusster "autobiographische[r] Anspielung" denen Thomas Manns.[1]

Gustav von Aschenbach, so lautet sein Name, "will den Glauben des breiten Publikums und die bewundernde Teilnahme der Wählerischen zugleich gewinnen." [2] Diese Zweigleisigkeit, "raffinierte und gutmütige Bedürfnisse zu befriedigen, die Wenigen zu gewinnen und die Vielen obendrein", war auch Thomas Manns Bestreben. Eine Formulierung Nietzsches aufgreifend, mit der dieser Wagner verunglimpfen wollte, hat Thomas Mann diese Strategie "doppelte Optik" genannt. Seinen Anspruch auf Erfolg kommentiert Thomas Mann in einem Anflug von Selbstverspottung: "Schlicht definiert bedeutet er: Diesen verlangte auch nach den Dummen... Was ich aber ferner weiß, ist, dass der „Erfolg“ als Folge jener doppelten Optik, die man schlimmer und sündiger Weise von Wagner lernt, eine prekäre und nicht geheuere Behausung ist." [3] An seinem künstlerischen Vorbild Richard Wagner hatte Thomas Mann die "Kunst des Theaters und der Massenerschütterung" imponiert. [4] Einen Vorwurf kann man dem Künstler aus dem Wunsch nach Breitenwirkung nicht machen. Im Gegenteil: Der Dichter soll das «Wunder» vollbringen, «auf so verschiedne Leute» zu wirken. [5]

Das Schreiben empfindet Gustav von Aschenbach als einen "starren, kalten und leidenschaftlichen Dienst". Seinen Ehrgeiz, der ihn an diesen selbst auferlegten Mühen festhalten lässt, beschönigt Thomas Mann mit Ungenügsamkeit. "Ungenügsamkeit freilich hatte dem Jüngling schon als Wesen und innerste Natur des Talents gegolten, und um ihretwillen hatte er das Gefühl gezügelt und erkältet, weil er wusste, dass es geneigt ist, sich mit einem fröhlichen Ungefähr und mit halber Vollkommenheit zu begnügen." [6]

Eine Kunstbemerkung verschlüsselt Thomas Mann: "Und hat Form nicht zweierlei Gesicht? Ist sie nicht sittlich und unsittlich zugleich, - sittlich als Ergebnis und Ausdruck der Zucht, unsittlich und selbst widersittlich, sofern sie von Natur eine moralische Gleichgültigkeit in sich schließt, ja wesentlich bestrebt ist, das Moralische unter ihr stolzes und unumschränktes Szepter zu beugen?" [7] Form ist hier eine Chiffre für Kunst. Die Frage, mehr Feststellung als Frage, nimmt Rekurs auf die Amoralität des Ästhetizismus, ein Motiv, das Thomas Mann in der Novelle Tristan bereits behandelt hatte. Gegen Ende seines Lebens, in Der Künstler und die Gesellschaft, wird er diese Auffassung wieder vertreten, jedoch einräumen, "daß die gewissenlose Kunst absichtslos und indirekt eine moralische Wirkung ausüben kann."

Geltungsanspruch lässt Thomas Mann am Beispiel Gustav von Aschenbachs durchblicken, "der es zu Macht und Ehren" gebracht hatte "in der Selbstgestaltung des Talents." Dass der Künstler von seinen Anhängern geehrt werden möchte, bedarf keines Kommentars. Thomas Mann erwartet jedoch mehr. Als Lohn "hart selbständiger Leiden und Kämpfe" [8] soll der Künstler zu Macht gelangen. Goethe hatte dem Künstler ebenfalls Macht zugebilligt: „So von jeher hat gewonnen / Künstler kunstreich seine Macht“. [9]

Die Gesichtsbildung Gustav von Aschenbachs ist in der Novelle anschaulich beschrieben. Vorlage war eine Abbildung des Komponisten Gustav Mahler. Das narrative Porträt schließt mit der Bemerkung: "Und doch war es die Kunst gewesen, die hier jene physiognomische Durchbildung übernommen hatte. […] Auch persönlich genommen ist ja die Kunst ein erhöhtes Leben", [10] das Lebensgefühl erhöhend in Momenten, in denen die künstlerische Produktion gelingt, in denen Skrupel und Unsicherheit überwunden sind.

Gustav von Aschenbach war um der Zerstreuung willen nach Venedig gekommen. Während seines Aufenthaltes erreicht eine Cholera-Epidemie, von Indien kommend, die Lagunenstadt. Von der Stadtbehörde vertuscht, "fraß das Sterben in der Enge der Gäßchen um sich." [11] Die Besucher verlassen Venedig. Von Aschenbach jedoch bleibt, um einen schönen Knaben weiter zu beobachten, in den er sich von weitem hemmungslos verliebt hat. "Die Würde des «Helden und Dichters» wird gründlich zerrüttet." [12] Während einem seiner Streifzüge durch die Gassen Venedigs kauft von Aschenbach gedankenlos (oder seinen Untergang suchend?) "an einem schmutzigen Quai" in einem kleinen Gemüseladen "einige Früchte, Erdbeeren, überreife und weiche Ware und aß im Gehen davon." [13] Vermutlich infiziert er sich, denn wenig später stirbt von Aschenbach. Die Seuche hat in seinem Fall diesen jähen und seltenen Verlauf genommen.

Auf das Anliegen der Novelle kommt Thomas Mann in seiner Vortrag «On Myself» zu sprechen, gehalten 1940 im amerikanischen Exil. Es handele sich um den "verwüstende[n] Einbruch der Leidenschaft, die Zerstörung eines geformten, scheinbar endgültig gemeisterten Lebens, […] das durch Eros-Dionysos entwürdigt und ins Absurde gestoßen wird." [14] Mit Eros-Dionysos ist Sexualität gemeint, in seinem Fall Homosexualität. Sie auszuleben, hatte sich Thomas Mann verboten. Gemäß dieser Askese nennt er die Venedignovelle im Rückblick "eine sonderbare moralische Selbstzüchtigung durch ein Buch." [15]

In dem Chamisso- Essay von 1911, der während der Konzeption von «Der Tod in Venedig» entstanden ist, hatte sich Thomas Mann noch humorvoll über die "geheime Identität von Autor und Fabelheld" geäußert: "Es ist die alte, gute Geschichte. Werther erschoss sich, aber Goethe blieb am Leben." [16]


Q u e l l e n :

  1. Thomas Mann am 29.03.1924 an Félix Bertaux
  2. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. Berlin: S. Fischer 1913, S.21
  3. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Berlin: S. Fischer 1918, S.77
  4. Mann, Thomas: Leiden und Größe Richard Wagners. In: Adel des Geistes. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1945, S.458
  5. Goethe: Faust I, Vers 57 und 58
  6. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. Berlin: S. Fischer 1913, S.17
  7. a. a. O. S.28
  8. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. Berlin: S. Fischer 1913, S.29
  9. Wilhelm Meisters Wanderjahre, Zweites Buch, Achtes Kapitel, Künstlerlied
  10. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. Berlin: S. Fischer 1913, S.31
  11. a. a. O. S. 125
  12. Thomas Mann am 14.10.1912 an Hedwig Fischer
  13. Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Berlin: S. Fischer 1913, S.138
  14. Thomas Mann: On Myself. In: Über mich selbst. Autobiographische Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer 1983, S. 72
  15. a. a. O., S.73
  16. Mann, Thomas: Chamisso. In: Die Neue Rundschau Jg. 22 (1911) Heft 10, S.1453


Gelegentliche Übereinstimmungen mit dem Wikipedia-Artikel "Der Tod in Venedig" beruhen auf der Identität des Verassers.

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