A Poem a Day/ 11. Oktober: Herbsttag (R.M. Rilke)
Herbsttag
- Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
- Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
- und auf den Fluren laß die Winde los.
- Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
- gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
- dränge sie zur Vollendung hin, und jage
- die letzte Süße in den schweren Wein.
- Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
- Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
- wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
- und wird in den Alleen hin und her
- unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Reiner Maria Rilke (Paris 1902)
Kommentare
[Bearbeiten]Passend zum Herbst...
Memento Mori
[Bearbeiten]Es geht in diesem Gedicht um ein "Memento Mori" (lat.: Bedenke, dass du sterben musst). Es ist jedoch nicht das Memento, welches man römischen siegreichen Feldherren zuspricht um sie vor einer Hybris zu bewahren; und auch nicht das Memento Mori des barocken Mittelalters, welches einen mit seinem Carpe Diem ermuntert, den Tag zu genießen weil man morgen vielleicht schon tot ist.
Hier geht es um das Memento Mori, wie es schon der König David im Psalm 39,5 gedichtet hat: "HERR, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss."
Trotz des Bibelzitats geht es hier eher um Teleologie (griechisch τελεολογία im altgriechischen Sinn von τέλος, télos – Ziel, Sinn und λόγος, lógos – Lehre) also die Frage nach dem Sinn, Zweck und Ziel des Lebens, als um Theologie (griech. θεολογία (theología), von θεός (theós), „Gott“ und λόγος (lógos), „Lehre“) meint wörtlich „die Lehre von Gott“ obgleich man beides hier nicht ganz trennen kann.
Was einen auch immer veranlasst hat, Bilanz zu ziehen, und um himmlischen Beistand zu bitten, dem sei gesagt:
- Heute fängt der Rest deines Lebens an!