Um den Inhalt einer Fläche zu bestimmen, können wir diese von innen und von außen mit Rechtecken ausschöpfen bzw. überdecken:
Ausschöpfung eines Kreises mit Rechtecken
Überdeckung eines Kreises mit Rechtecken
Der Flächeninhalt jeder Ausschöpfung und Überdeckung ergibt sich aus der Summe der Flächeninhalte der jeweiligen Einzelrechtecke. Dabei ist jede Ausschöpfung eine Abschätzung des tatsächlichen Flächeninhalts nach unten und jede Überdeckung eine Abschätzung nach oben. Stimmt der Grenzwert des Inhalts bei immer feinerer Ausschöpfung mit dem bei immer feinerer Überdeckung überein, so nennen wir diesen Grenzwert den Flächeninhalt.
Rechtecke sind also die Grundelemente, um den Inhalt einer Fläche zu bestimmen. Sie können gut zusammengelegt werden und ihr Flächeninhalt ist einfach bestimmbar:
Im Folgenden wollen wir formal definieren, was Rechtecke sind und ihre Eigenschaften kennenlernen.
Diese werden wir im nächsten Abschnitt verwenden, um aus ihnen Eigenschaften von allgemeineren Quaderfiguren abzuleiten, durch welche wiederum allgemeinere Flächen durch Grenzübergänge angenähert werden können.
Da wir das Maß in beliebigen Räumen des definieren wollen, werden wir das Konzept des Rechtecks allgemein für beliebig dimensionale Räume einführen. Auf der Gerade sind dies Intervalle, in der Ebene Rechtecke und im Raum Quader. Diese Vorstellung können wir leider nicht für höhere Dimensionen fortführen, das Konzept jedoch schon.
Bild eines Rechtecks in der Ebene in einem Koordinatensystem
Dieses Rechteck ist die Menge aller Punkte mit und . Anders ausgedrückt, können wir das Rechteck als die Menge der Punkte definieren, bei den und ist. Eine solche Menge wird über das kartesische Produkt definiert:
Damit ermöglicht das kartesische Produkt die Definition eines Rechtecks in der Ebene. Allgemein sind es Mengen der Form . Jedoch hat diese Definition einen Nachteil. Da die Ränder des Rechtecks zum Rechteck dazugehören, können wir die Rechtecke nicht überlappungsfrei aneinanderlegen. Wenn wir nämlich zwei Rechtecke aneinanderlegen, so liegen die Punkte der gemeinsamen Seite auf beiden Rechtecken (der dicke schwarze Balken in der Mitte):
Die Lösung hierzu ist, in der Definition nur halboffene Rechtecke zu betrachten, bei denen die linke und die untere Seite nicht zum Rechteck dazugehören. Dabei sollen im Bild die schwarz markierten Ränder zum halboffenen Rechteck hinzugehören, die nicht markierten Ränder nicht.
Vorteile halboffener Intervalle und Quader in der Definition
Erklärende Graphiken zu den genannten Vorteilen einfügen, die das Gesagte illustrieren
Als Grundintervall benutzen wir in den reellen Zahlen das halboffene Intervall . Dies hat einige Vorteile:
Die halboffenen Intervalle können lückenlos und ohne Überschneidung aneinandergelegt werden. Dies gilt auch für n-dimensionale Quader der Form . Dies macht Überdeckungen und Ausschöpfungen durch Quader einfacher.
Der Schnitt des Intervalls mit einem anderen Intervall ist . Dies ist (wenn die beiden Intervalle nicht disjunkt sind) wieder ein linksseitig offenes und rechtsseitig abgeschlossenes Intervall. Durch Schnitte erhält man also wieder ein Intervall desselben Typs. Auch dies gilt nicht nur für eindimensionale Intervalle, sondern auch für mehrdimensionale Quader der Form .
Schneidet man aus einem Intervall ein anderes Intervall heraus, ist der Rest eine disjunkte Vereinigung von ein oder zwei halboffenen Intervallen der Form und (wenn die Menge beinhaltet, so ist die Differenz die leere Menge).
Die Vereinigung zweier halboffener Intervalle und ist wieder ein halboffenes Intervall für den Fall (im Fall ergeben sich wieder die beiden halboffenen Intervalle und ).
Halboffene Intervalle können also lückenlos zusammengelegt werden. Würden wir abgeschlossene Intervalle oder offene Intervalle betrachten, hätten wir diese schöne Eigenschaft nicht: Schneidet man aus einem Intervall ein Intervall heraus, so erhält man die leere Menge oder ein beziehungsweise zwei Intervalle der Form und , welche nicht abgeschlossen sind.
Ähnliches gilt für Quader höherer Dimension und deswegen betrachten wir linksseitig offene und rechtsseitig abgeschlossene Quader im , d.h Mengen der Form . Beispielsweise ist ein solches halboffenes Rechteck im . Rechtecke dieser Form werden wir „verallgemeinerte Quader“ oder kurz „Quader“ nennen. In der Geraden sind unsere Quader von der Form , in der Ebene von der Form , im Raum von der Form .
In der Literatur findet man auch andere Definitionen von Quadern, in denen auch offene und abgeschlossene Intervalle als Quader zugelassen sind. Das kommt daher, dass der "Flächeninhalt" des Randes einer Fläche normalwerweise null und somit irrelevant für die Flächenbestimmung ist. Die Reduktion auf halboffene Intervalle hat für Beweise aber große Vorteile, sie erspart uns umfangreiche Fallunterscheidungen.
Ein verallgemeinerter Quader im ist eine Menge der Form mit . Dabei sehen wir die leere Menge auch als Quader an, die wir erhalten, wenn mindestens eines der halboffenen Intervalle leer ist, also gilt. Für die Menge aller verallgemeinertern Quader im gilt also:
Wir folgen in unserer Definition der Konvention, die leere Menge auch als Quader zu betrachten. Gerade in Beweisen ist dies hilfreich, da dort häufiger die leere Menge auftritt (beispielsweise beim Schnitt von Mengen) und wir so Fallunterscheidungen vermeiden können.
Ausführlicher motivieren, was uns diese Eigenschaft nützt/nützen wird:
die Stabilität von gegenüber endlichen Schnitten werden wir schon im nächsten Abschnitt nutzen, um die Unabhängigkeits des Inhalts von Quaderfiguren von der gewählten Darstellung als endliche Vereinigung von halboffenen Quadern zu zeigen
Das Besondere an halboffenen Rechtecken ist, dass der Schnitt zweier halboffener Rechtecke wieder ein halboffenes Rechteck ist, im Bild das violette Rechteck in der Mitte.
Dabei sind der obere und der rechte Rand mit einem schwarzen Balken markiert, um zu verdeutlichen, dass dieser Teil noch zum Rechteck gehört.
Diese Eigenschaft wird im nächsten Kapitel benötigt, um die Eindeutigkeit des Inhaltes von Quaderfiguren (und somit auch die des Lebesguemaßes) zu garantieren.
ausführlichere Motivation: was wird uns dieser Satz nützen? Die Eigenschaft, dass die Differenz halboffener Rechtecke eine disjunkte Vereinigung von halboffenen Rechtecken ist, werden wir im nächsten Abschnitt nutzen um zu zeigen, dass die Differenz zweier Quaderfiguren wieder eine endliche Quaderfigur ist
Bei der Differenz halboffener Rechtecke erhalten wir eine disjunkte Vereinigung von halboffenen Rechtecken:
Ein Rechteck aus einem Rechteck herausgeschnitten ergibt 2 kleine disjunkte Rechtecke
Ein Rechteck aus einem Rechteck herausgeschnitten ergibt 3 kleine disjunkte Rechtecke
Ein Rechteck aus einem Rechteck herausgeschnitten ergibt 4 kleine disjunkte Rechtecke
Diese Eigenschaft wird schon im nächsten Kapitel benötigt, um zwei Quaderfiguren vereinigen zu können. Diese Vereinigung können wir durch Differenzbildung als disjunkte Vereinigung von Quadern schreiben. Das setzt voraus, dass die Differenz von Quadern einfach zu handhaben ist.
Zudem benötigen wir die Differenz, um zu zeigen, dass der Inhalt von Quaderfiguren monoton ist. Das wiederum geht ein in die Definition des Peano-Jordan-Inhaltes.
Schneidet man einen Quader aus einem Quader heraus, so erhält man eine disjunkte Vereinigung von Quadern. In mathematischer Formulierung: Für alle Quader gibt es eine natürliche Zahl , sodass sich die Differenz schreiben lässt als disjunkte Vereinigung von Quadern
Beweis (Eigenschaften von Quadern)
Wir führen den Beweis mittels Induktion nach der Dimension des Raumes.
Aussageform, deren Allgemeingültigkeit für bewiesen werden soll:
Für alle Quader gibt es eine natürliche Zahl , sodass sich die Differenz schreiben lässt als disjunkte Vereinigung von Quadern
1. Induktionsanfang:
(für n=2):
Das Komplement des roten Rechtecks lässt sich darstellen durch folgende vier bunte Bereiche als eine disjunkte Vereinigung
In Formelschreibweise ist das
Diese 4 disjunkten Mengen werden bei der Berechnung von geschnitten mit
. Das ergibt wieder 4 disjunkte Rechtecke .
2. Induktionsschritt:
2a. Induktionsvoraussetzung:
In Dimension gilt
2b. Induktionsbehauptung:
Für gibt es ebenfalls ein , das obige Gleichung erfüllt.
2c. Beweis des Induktionsschritts:
Das Komplement des Quaders lässt sich darstellen durch die disjunkte Vereinigung von
allen Punkten, die in den ersten n Koordinaten in liegen und in der n+1-ten Koordinate rechts von liegen
allen Punkten, die in den ersten n Koordinaten in liegen und in der n+1-ten Koordinate kleiner gleich sind
allen Punkten, die in den ersten n Koordinaten im Komplement von liegen und in der n+1-ten Koordinate in liegen
In Formelschreibweise ist das:
Damit erhalten wir drei disjunkte Mengen, die wir mit schneiden. Für die dritte entstehende Menge benutzen wir die Induktionsvoraussetzung, das ergibt
Im Folgenden verwenden wir für die Dimension des Quaderraumes , um als typische Variable für die Induktion beizubehalten.
Wenn wir mehrfach aus einem Quader andere Quader herausschneiden, sollte nichts Ungewöhnliches passieren, außer dass wir sehr viele kleine Quader erhalten. Und genauso ist es auch:
Satz
Seien Quader. Dann gibt es endlich viele disjunkte Quader , sodass gilt
Beweis
Wir verwenden Induktion nach .
Aussageform, deren Allgemeingültigkeit für bewiesen werden soll:
1. Induktionsanfang:
Der Induktionsanfang hentspricht der Aussage des letzten Satzes.
2. Induktionsschritt:
2a. Induktionsvoraussetzung:
2b. Induktionsbehauptung:
2c. Beweis des Induktionsschritts:
Den Induktionsschritt von nach erarbeiten wir uns wie folgt: Statt Quader herauszuschneiden aus , schneiden wir erst Quader heraus und wissen nach Induktionsvoraussetzung, was das ergibt. In einem nächsten Schritt schneiden wir aus dem erhaltenen Ergebnis durch Umschreiben einen Quader heraus, nach Induktionsanfang wissen wir, was wir dann erhalten, d.h. wir verwenden in mathematischer Schreibweise
Den Wert der Formel in Klammern kennen wir nach Induktionsvoraussetzung . Das setzen wir ein und formen um
Nun kennen wir den Wert in Klammern aus dem Induktionsanfang, es gibt also endlich viele kleine Quader, sodass . Das setzen wir ein und erhalten
Das ergibt die gewünschte Darstellung als disjunkte Vereinigung kleiner Quader.
Die zentrale Eigenschaft des Peano-Jordan-Inhaltes ist die Additivität und die leiten wir uns nun schrittweise in jedem Kapitel her: hier für Quader, im nächsten Kapitel für Quaderfiguren und im darauffolgenden Kapitel für Peano-Jordan-Mengen. Das ist neben der Messbarkeit ein wichtiges Thema in der Maßtheorie.
Zerlegt man ein Rechteck in endlich viele Rechtecke, so ist die Summe der Flächen der einzelnen Rechtecke gleich der Fläche des großen Rechtecks. Dies entspricht genau unserer Intuition, muss jedoch formal bewiesen werden. So soll sich bei komplizierteren Mengen auch der Peano-Jordan-Inhalt verhalten, was er aber nur für die Peano-Jordan-messbare Mengen tut.
Unsere Flächen- bzw Volumenfunktion auf den Intervallen, Rechtecken und Quadern bzw.
ist additiv.
Beweis
Wir müssen die Additivität zeigen. Wir wissen, dass wir das Rechteck in endlich vielen Schritten unterteilt haben. Also verwenden wir Induktion nach der Anzahl der Unterteilungen, um die Additivität zu zeigen.
Aussageform, deren Allgemeingültigkeit für bewiesen werden soll:
1. Induktionsanfang:
: Wenn genau eine Unterteilung in zwei Rechtecke (oder verallgemeinerte Quader) vorliegt, dann wird genau eines der Intervalle geteilt, d.h.
und man erhält aus die zwei Rechtecke (oder verallgemeinerten Quader)
Deren Fläche bzw. verallgemeinertes Volumen wollen wir berechnen.
Addiert man die beiden und rechnet weiter, erhält man genau die Fläche (das Volumen) der Ausgangsmenge
2. Induktionsschritt:
2a. Induktionsvoraussetzung:
Für Unterteilungen, ist die Funktion additiv.
2b. Induktionsbehauptung:
Das gilt auch für Unterteilungen
2c. Beweis des Induktionsschritts:
Wir wissen schon, dass wir mit Unterteilungen erreichen
Nun kommt eine weitere Unterteilung eines hinzu. Das kennen wir schon aus dem Induktionsanfang:
Die Eigenschaften der halboffenen Quader, dass Schnitte wieder halboffene Quader sind und dass die Differenz eine endliche disjunkte Vereinigung von halboffenen Quadern ist, nennt man Halbring. Wir beweisen später die Maßtheorie gleich abstrakt für Halbringe und haben hier schon nachgerechnet, dass diese Eigenschaften erfüllt sind.