Sensorische Systeme/ Allgemeines/ Assoziationskortex
Die Rolle der Assoziationskortexe im sensorischen Prozessieren
[Bearbeiten]Einleitung
[Bearbeiten]Die im Abschnitt Menschliche Anatomie und Physiologie dieses Wikibuchs beschriebenen sensorischen Systeme erfüllen spezifische Funktionen innerhalb des Nervensystems. Das Verständnis dieser Systeme zeichnet jedoch nicht das gesamte Bild dessen, was unsere Spezies in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, die ihre Überlebenschancen erhöhen.
Um die vielen aufwendigen Signale der sensorischen Subsysteme zu verwalten, enthält das Nervensystem verschiedene Prozesse höherer Ordnung. Diese sind für die komplexere Verarbeitung der Sinnesreize und für die Erzeugung von Verhalten verantwortlich. Zusammenfassend werden diese Hirnareale höherer Ordnung als Assoziationskortexe bezeichnet und machen den größten Teil des Neokortex aus. Das breite Funktionsspektrum der Assoziationskortexe wird oft als "Kognition" bezeichnet: die "Fähigkeit, sich um äussere Reize oder innere Motivation zu kümmern, die Bedeutung solcher Reize zu erkennen und entsprechende Antworten zu geben"[1].
Funktion der Assoziationskortexe
[Bearbeiten]Unser Wissen über die Rolle der menschlichen Assoziationskortexe ist ziemlich begrenzt. Die meisten Rückschlüsse auf ihre Funktion wurden aus Beobachtungen von Patienten mit kortikalen Läsionen abgeleitet. Diese Schlussfolgerungen wurden anschliessend durch Beobachtung von Mustern neuronaler Aktivität in homologen Regionen im Gehirn von Versuchstieren und Menschen verifiziert[1]. Die Entwicklung von Technologien wie PET (Positronen-Emissions-Tomographie), MRI (Magnetresonanztomographie), EEG (Elektroenzephalographie), TMS (Transkranielle Magnetstimulation), TES (Transkranielle Elektrische Stimulation), MEG (Magnetoenzephalographie) und NIRS (Nah-Infrarot-Spektroskopie) hat unser Verständnis der neuronalen Grundlagen von kognitiven Steuerung wesentlich erweitert[2].
Der parietale Assoziationskortex regelt die Aufmerksamkeit und das Wahrnehmungsbewusstsein. Patienten mit Parietallappenläsionen erleben eine Unfähigkeit, nach einem Objekt in einem Teil des Raumes zu greifen, obwohl ihr visuelles, somatosensorisches und motorisches System intakt ist. Dieser Zustand wird als kontralaterales Neglect-Syndrom bezeichnet[1]. Der parietale Kortex, genauer gesagt der untere Parietallappen, ist der wichtigste (aber nicht der einzige) Teil des Gehirns, der die Aufmerksamkeit vermittelt[1].
Der temporale Assoziationskortex ist für das Erkennen und Identifizieren von Reizen zuständig. Im Gegensatz zu Patienten mit Neglectsyndromen sind sich Patienten mit einer Schädigung des temporalen Kortex der Objekte auf der kontralateralen Seite der Läsion bewusst, haben aber Schwierigkeiten, diese zu erkennen und zu benennen[1]. Diese Störungen werden kollektiv als Agnosien bezeichnet. Eine Schädigung eines bestimmten Teils des inferioren temporalen Kortex führt zu einer Unfähigkeit, Gesichter zu identifizieren, ein Zustand, der als Prosopagnosie bekannt ist[1].
Der frontale Assoziationskortex ist für die Planung und Entscheidungsfindung zuständig. Es regelt eine grössere Bandbreite an Funktionen als jede andere neokortikale Region[1] und integriert Informationen von sensorischen und motorischen Kortexen, sowie von den parietalen und temporalen Assoziationskortexe[1]. Die Gehirnstruktur, die sich innerhalb des menschlichen frontalen Kortex am meisten von unseren Vorfahren entwickelt hat, ist der präfrontale Kortex[2]. Der präfrontale Kortex spielt eine entscheidende Rolle in kognitiver Kontrolle[2] und regelt, was wir die "Persönlichkeit" eines Individuums nennen[1].
Funktion des präfrontalen Kortex
[Bearbeiten]Ein berühmter medizinischer Fall in der Geschichte der Neurowissenschaften machte erstmals auf die Funktion des präfrontalen Kortex aufmerksam: 1848 liess sich Phineas Gage, ein Bahnbaumeister, bei einem Arbeitsunfall einen Eisenstab - etwa 1 Meter lang und 5 Zentimeter im Durchmesser - durch den Kopf fahren[2]. Gage verlor nicht einmal das Bewusstsein, sondern erlitt schwere Schäden an seinem frontalen Kortex. Regionen des Frontallappens, die an der motorischen Steuerung, den Augenbewegungen und der Sprache beteiligt waren, blieben intakt, und Gage hatte in den verbleibenden elf Jahren seines Lebens nach dem Unfall keine Beeinträchtigungen in seiner Grundfunktion[2]. Gage's präfrontaler Kortex wurde jedoch schwer beschädigt, was zu dramatischen Veränderungen seiner Persönlichkeit führte.
Nach den Berichten seines Arztes und seiner Freunde wurde Gage irrational und unreif in seinem Verhalten und war unfähig, seine Impulse zu kontrollieren oder für die Zukunft zu planen[2]. Ähnliche Symptome wurden auch bei Patienten mit frontalen Lobotomien berichtet, einem medizinischen Verfahren, das im 20. Jahrhundert bei Patienten mit verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen durchgeführt wurde, bei dem der präfrontale Kortex gezielt zerstört wurde[2].
Obwohl diese Fälle die Rolle des präfrontalen Kortex in der Steuerung menschlichen Verhaltens offenbarten, wurde seine exekutive Funktion und Bedeutung für die kognitive Kontrolle erst Mitte des 20. Jahrhunderts durch neuropsychologische Tests deutlich[2].
Wir wissen nun, dass der präfrontale Kortex mit vielen anderen Hirnregionen über ein komplexes neuronales Netwerk interagiert[2]. Der präfrontale Kortex integriert und beeinflusst Informationen von sensorischen Inputs, internen Zuständen und motorischen Outputs[3] und kann somit als Kontrollzentrum des Gehirns betrachtet werden.
Wahrnehmungs-Aktionszyklus
[Bearbeiten]Der präfrontale Kortex moduliert die Sinneseindrücke, indem er interne Darstellungen von visuellen, auditiven, taktilen und olfaktorischen Informationen erzeugt[3]. Diese kortikalen Darstellungen der Aussenwelt werden als Wahrnehmungen bezeichnet[3].
Motorische Outputs, wie kontrollierte Körperbewegungen und Sprache, sind ebenfalls das Ergebnis der Modulation des präfrontalen Kortex[2]. Ausserdem reguliert der präfrontale Kortex Gedanken und Emotionen[3]. Präfrontale Kortexfunktionen bilden somit eine Rückkopplungsschleife zwischen Gehirn und Umwelt. Diese Zwei-Wege-Kommunikation wird als Wahrnehmungs-Aktionszyklus bezeichnet[2].
Rückkopplungsschleifen gab es bereits in den Gehirnen der jüngsten Vorfahren unserer Spezies (und tatsächlich gibt es sie noch in vielen anderen primitiven Gehirnen). Dies waren jedoch reflexive, bottom-up Schleifen. Ein Beispiel für einen bottom-up-Wahrnehmungs-Aktionszyklus, der beim Menschen geblieben ist, ist der Patellarsehnenreflex[2]. Ein Schlag auf das Knie löst eine abrupte, automatische Beinbewegung aus. Reflexive Wahrnehmungs-Aktionszyklen wie der Patellarsehnenreflex treten ohne Evaluierung und Entscheidungsfindung auf[2].
Der von dem präfrontalen Kortex gesteuerte Wahrnehmungs-Aktionszyklus umfasst dagegen eine Top-Down-Verarbeitung. Dies ist das Ergebnis einer kurzen Pause im Zyklus, zwischen Wahrnehmung und Aktion. Die exekutiven (oder übergeordneten) kognitiven Funktionen werden während dieser Verzögerungszeit aktiviert[2]. Die Entwicklung dieser Verzögerungszeit zwischen Wahrnehmung und Aktion fiel mit der Entwicklung des präfrontalen Kortex im menschlichen Gehirn zusammen[4]. Die Pause ermöglicht eine selektive top-down Prozessierung[5] und damit komplexere Wechselwirkung mit der Umwelt.
Selektive Aufmerksamkeit erlaubt es uns, uns für die Verfolgung eines Ziels auf bestimmte Aspekte der Umwelt zu konzentrieren, während gleichzeitig irrelevante sensorische Inputs unterdrückt oder ignoriert werden[6]. Die Fähigkeit, aufgabenrelevante Informationen für kurze Zeiträume zu speichern, um das spätere Verhalten zu steuern, wird als Arbeitsgedächtnis bezeichnet. [6]. Das Arbeitsgedächtnis soll Wahrnehmung und zukünftige Aktion durch die Erwartung bevorstehender Ereignisse verbinden. [2].
Die aktuelle Forschung deutet auf eine signifikante Überschneidung zwischen selektiver Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis hin, wobei der präfrontale Kortex diese beiden kognitiven Prozesse vermittelt[6].
Kognitive Kontrolle
[Bearbeiten]Bei der Steuerung des Wahrnehmungs-Aktionszyklus spielt der präfrontale Kortex eine entscheidende Rolle in der kognitiven Kontrolle. Kognitive Kontrolle bezieht sich auf die Koordination des Denkens und Handelns eines Individuums in Bezug auf interne Ziele.
Wie von den Neurowissenschaftlern Earl Miller und Jonathan Cohen beschrieben, "ergibt sich die kognitive Kontrolle aus der aktiven Aufrechterhaltung von Aktivitätsmustern im präfrontalen Kortex, die Ziele und Mittel zu deren Erreichung darstellen"[3]. Kognitive Kontrolle umfasst somit die drei Bereiche selektive Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und Zielmanagement.
Signale aus dem präfrontalen Kortex bestimmen die neuronale Aktivität in anderen Hirnarealen, wie z.B. den sensorischen Regionen. Die Top-Down-Modulation beeinflusst diese Aktivität, was zu einer Verzerrung der Erwartungen an die in der Umwelt vorhandenen Reize führt. Auf diese Weise werden die Merkmale, Orte und Ereignisse mit der stärksten Relevanz für die Ziele einer Person, in ihren spezifischen Hirnarealen stärker repräsentiert und können schneller erkannt werden.
Ebenso wichtig ist jedoch die Fähigkeit, weniger wichtige Reize zu vernachlässigen. Diese Wahrnehmungshemmung ist unerlässlich, um Zielinterferenzen zu minimieren, die den Prozess der Erfüllung der gewünschten Aufgabe unterbrechen können[2]. Der Mensch ist anfällig für Zielinterferenzen in Form von Ablenkungen und Unterbrechungen - sowohl intern als auch extern[2].
Daher ist das Fokussieren und Ignorieren sowohl für den Erfolg der Erleichterung von Top-Down-Zielen als auch für die Aufrechterhaltung der Selektivität der Aufmerksamkeit im Gehirn und die Gestaltung der Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, von entscheidender Bedeutung.
Referenzen
[Bearbeiten]- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7 1,8 Neuroscience. 5 ed. 2012, Sunderland: Sinauer Associates, Inc.
- ↑ 2,00 2,01 2,02 2,03 2,04 2,05 2,06 2,07 2,08 2,09 2,10 2,11 2,12 2,13 2,14 2,15 2,16 Gazzaley, A. and L.D. Rosen, The distracted mind: ancient brains in a high-tech world. 2016, Cambridge, MA: MIT Press.
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 Miller, E.K. and J.D. Cohen, An integrative theory of prefrontal cortex function. Annu Rev Neurosci, 2001. 24: p. 167-202.
- ↑ Fuster, J.M., Upper processing stages of the perception-action cycle. Trends Cogn Sci, 2004. 8(4): p. 143-5.
- ↑ Corkin, S., Permanent Present Tense. 2013, London: Penguin Books.
- ↑ 6,0 6,1 6,2 Gazzaley, A. and A.C. Nobre, Top-down modulation: bridging selective attention and working memory. Trends Cogn Sci, 2012. 16(2): p. 129-35.