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Zweideutigkeit als System - Thomas Manns Forderung an die Kunst: Doktor Faustus

Aus Wikibooks
Erstausgabe für Europa, zuerst in der Schweiz in den Handel gekommen.
Entstehung: 23.Mai 1943 bis 29.Januar 1947 (Tagebuch).

Der Faust-Mythos

Die Teufelsverschreibung des "deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn" um des künstlerischen Erfolges willen ist Thomas Manns Fassung des Faust-Mythos, eines Mythos, der in Deutschland beheimatet ist. Nur zwei bleibende Mythen sind nördlich der Alpen entstanden. Der andere ist «Don Juan».

Während der Vorbereitung sprach Thomas Mann von seinem gewagtesten und unheimlichsten Werk. [1] Er nahm an, mit Doktor Faustus seinen letzten großen Roman zu schreiben. [2] Dass die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) noch einmal ein großer Erfolg werden würde, hatte er nicht erwartet.

  1. Thomas Mann am 21.2.1942 an Agnes E. Meyer
  2. am 9.7.1944 an Peter Flamm


Bezugsebenen

Als letzter großer Roman gedacht, ist in Doktor Faustus die Vielschichtigkeit der Bedeutungsebenen in bis dahin unerreichte Höhe getrieben. Vordergründig ein Künstlerroman, ordnet ihn Thomas Mann weiteren Romangattungen zu ist. In seinen Selbstkommentaren spricht er von einem "religiöse[n] Buch", [1] "einer Lebensbeichte", [2] einem "Epochen-Roman", [3], einem "Roman der Musik", [4] einem "Gesellschaftsroman", [5] einem "verkappten Nietzsche-Roman" [6] und dem Versuch, Musik mit Sprache wiederzugeben . [7] Seine "essayistischen Teile" [8] – eine weitere Bezugsebene - enthalten Begriffsbestimmungen zur Kunst.

Thomas Manns pointierte Formel "Zweideutigkeit als System" [9] wurde zu seiner bekanntesten Forderung an die Kunst. Adrian Leverkühn äußert sie, bezogen auf die Musik und am Beispiel der enharmonischen Verwechslung. Musik ist hier eine Chiffre für Kunst. [10]

  1. am 5.2.1948 an Kuno Fiedler
  2. am 25.06.1948 an Peter Suhrkamp
  3. am 15. 12. 1947 an Erich von Kahler
  4. am 01.05.1948 an Jonas Lesser
  5. am 11.10.1944 an Agnes Meyer
  6. am 6.4.1947 an Henry [Hellmut] Walter Braun
  7. am 14.07.1948 an Friedrich Sell
  8. am 18.2.1948 an Fred H. Rosenau
  9. Thomas Mann: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S.74
  10. am 28.1.1948 an Julius Bab


Ernste Spiele

Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, wie der Untertitel lautet, wird von einem fiktiven Biographen geschildert, einem Gymnasial-Professor mit dem sprechenden Namen Serenus Zeitblom [Serenus (lat.): der Heitere]. Sein Bericht fällt betulich und bewundernd aus. Im Beginn der Lebensbeschreibung äußert Zeitblom Bedenken, den Standpunkt des "komponierenden Künstlers einzunehmen und ihn mit der spielenden Besonnenheit eines solchen zu bewirtschaften." [1] "Spielende Besonnenheit", mit der künstlerische Gestaltung hier charakterisiert, ist ein Oxymoron. Thomas Mann hat diese rhetorische Figur gern verwendet. Das Oxymoron benennt treffsicher Widersprüchliches. Es hat damit einen Wesenzug der Kunst, im Kleinen sozusagen, wenn man, wie Thomas Mann, in der Gestaltung von Gegensätzen ein Kunstkriterium sieht.

  1. Thomas Mann: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S.12


Die Künstlichkeit der Kunst

Adrian Leverkühn wird im Mitteldeutschland geboren. "Weder Halle, die Händelstadt, noch Leipzig, die Stadt des Thomas-Kantors, noch Weimar oder selbst Dessau und Magdeburg sind also fern." Seine Kindheit verbringt Leverkühn auf dem elterlichen Bauernhof. Die geradezu spielerische Art, sich Wissen anzueignen, macht früh auf seine Begabung aufmerksam. Die Eltern sind in der Lage, ihm höhere Schulbildung und Studium zu ermöglichen. Sein Bruder wird später den elterlichen Hof weiterführen. Adrian soll ein Gelehrter werden.

In einer Kindheits-Episode Leverkühns setzt sich Thomas Mann mit der Künstlichkeit der Kunst auseinander. Der Domorganist der nächst gelegenen Stadt, in der Adrian das Gymnasium besucht (Thomas Mann nennt sie Kaisersaschern an der Saale; der Lage nach könnte es Naumburg sein), hält einen öffentlichen Vortrag über die Frage, warum Beethoven seiner Klaviersonate Opus 111 keinen dritten Satz hinzugefügt hat. Da sich für diese Frage kaum jemand interessiert, kommt man in kleinem Kreis zusammen. Der Vortragende ist auch der Musik- und Klavierlehrer Adrian Leverkühns. Zur komischen Verfremdung trägt bei, dass er ein Stotterer ist. Während des Vortrages spielt er Opus 111 und singt bei arbeitenden Händen aufs heftigste mit, - mit Zwischenrufen wie "Dimdada!" und "die Trillerketten!" und "die Fiorituren und Kadenzen! Hören sie die stehengelassene Konvention? Da - wird - die Sprache nicht mehr von der Floskel – gereinigt, sondern die Floskel - vom Schein – ihrer subjektiven – Beherrschtheit – der Schein – der Kunst wird abgeworfen – zuletzt - wirft immer die Kunst – den Schein der Kunst ab." [1]

"Schein" der Kunst spielt an auf Nietzsches Definition der Kunst als «der schöne Schein».[2] Mit "zuletzt wirft immer die Kunst den Schein der Kunst ab" wird Nietzsches Charakterisierung relativiert. Im nicht zu überbietenden Kunstwerk durchdringen sich Form und Inhalt so, dass zwischen Form und Inhalt nicht mehr unterschieden werden kann. Die Kunst verliert ihre Künstlichkeit. - Eine ernste Aussage über ´vollkommene Kunst´, ihre Definition so zusagen, aber nicht trocken und schwerfüßig, sondern in provinzieller Situationskomik, vorgetragen von einem geistreichen Stotterer.

Warum in Opus 111 dem zweiten kein dritter Satz folgen konnte, wird im Ausklang des Vortragskapitels beantwortet. Nach dem Höhepunkt, den der enorme, variationsreiche zweite Satz darstellt, ist eine musikalische Steigerung nicht mehr möglich. "Die Sonate, nicht diese nur, in C-Moll, sondern […] die Sonate überhaupt, als Gattung, als überlieferte Kunstform: sie selber [ist] hier zu Ende, ans Ende geführt." [3]

  1. Thomas Mann: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 84
  2. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig: Naumann 1972, S.2
  3. Thomas Mann: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947S.74


Diabolisches und Kreativität

Ursprünglich hatte Adrian Leverkühn Geistlicher werden wollen und protestantische Theologie studiert. Nun wendet er sich von der Gotteswissenschaft ab, um in die Kunst zu entlaufen. [1] Zum Kompositionsstudium geht er nach Leipzig. Sein Lehrer wird auch hier jener Stotterer und Enthusiast, der über Beethovens Opus 111 vorgetragen hatte. Er ist bereits an ein privates Leipziger Konservatorium berufen worden. Wendell Kretzschmar, um endlich seinen Namen zu nennen, wird auch weiterhin sein musikalischer Mentor bleiben. Literarisch ist er eine der zahlreichen Teufels-Figuren des Romans hier als Verführer zur Musik. Er rät ihm zu dem Schritt vom Wege, wie es Leverkühn nennt und zur Abtrünnigkeit. In Leipzig schreibt sich Adrian Leverkühn auch in philosophische Vorlesungen ein und erwirbt in diesem Fach seinen Doktorgrad.

Das Diabolische in der Kunst ist eines der Leitmotive in Doktor Faustus. Vorbereitet wird dieses Motiv schon früh mit einer Einflechtung Serenus Zeitbloms: "Und oft habe ich meinen Primanern vom Katheder herab erklärt, dass Kultur recht eigentlich die fromme und ordnende, ich möchte sagen, begütigende Einbeziehung des Nächtig-Ungeheueren in den Kultus der Götter ist". [2] Was für die Kultur gilt, gilt übergreifend für die Kunst. Im Eröffnungskapitel hatte Zeitblom über das Genie spekuliert, "daß an dieser strahlenden Sphäre das Dämonische und Widervernünftige einen beunruhigenden Anteil hat, dass immer eine leises Grauen erweckende Verbindung besteht zwischen ihr und dem unteren Reich."

Das Motiv diabolischer Teilhabe greift Thomas Mann erneut in der nächtlichen Diskussion von Hallenser Theologiestudenten auf, die während einer Wanderung zur Wartburg in einer Scheune übernachten. Einer der jungen Leute stellt sentenziös fest, "daß das Menschlich-Schöpferische denn endlich doch als ein ferner Abglanz göttlicher Seinsgewalt, als ein Widerhall des allmächtigen Werderufes, und die produktive Eingebung allerdings als von oben kommend theologisch anerkannt wurde." [3] Verkürzt: Nicht nur das All (göttliche Seinsgewalt, allmächtiger Werderuf), auch Kreativität (das Menschlich-Schöpferische) und Intuition (produktive Eingebung) sind göttlich. - Doch einige Druckseiten später, noch immer in der Schlafstroh-Diskussion, fragt ein anderer junger Mensch angesichts der Antinomien des Lebens, "ob die Welt wirklich das alleinige Werk eines gütigen Gottes ist und nicht vielmehr eine Gemeinschaftsarbeit, ich sage nicht, mit wem." [4]

Beide Äußerungen legt Thomas Mann akademischem Nachwuchs in den Mund, jungen Leuten, deren metaphysisches Weltbild sich noch nicht verfestigt hat. Extreme Standpunkte lässt man Werdenden durchgehen. So kann Thomas Mann Gewagtes aussprechen lassen und selbst unverbindlich bleiben.

"Göttliche Seinsgewalt" und "allmächtiger Werderuf" haben etwas Feierliches und Klangvolles, die beunruhigende Gegenthese über eine mutmaßliche Mitarbeit von anderer Seite an der Weltentstehung fällt eher beiläufig aus. Und doch wirkt die beiseite gesprochene Frage, ob die Schöpfung nicht eine Gemeinschaftsarbeit sei, intensiver nach, als die mit Bestimmtheit vorgebrachte religiöse Überzeugung.

  1. Thomas Mann: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 204
  2. a. a. O., S. 19
  3. a. a. O., S. 179
  4. a. a. O., S. 193


Parodie als Neubelebung tradierter Themen

Während der Selbstprüfung, zum Komponisten berufen zu sein, macht sich Leverkühn Gedanken, ob er "ganz abseits von der Begabungsfrage, […] die robuste Naivität […] besitze, die, soviel er sehe, zum Künstlertum gehört." [1] Sein Mangel an Naivität lasse ihn erkennen, wie in der Kunst das Hergebrachte mit Genie erneut verwendet wird, mit Kniffen gearbeitet, mit gewiegtem Gefühl das Schöne erzielt wird. Die Kunst und sein eignes Künstlertum durchschauend, fragt er sich: "Warum müssen fast alle Dinge mir als ihre eigene Parodie erscheinen? Warum muss es mir vorkommen, als ob fast alle, nein, alle Mittel und Konvenienzen der Kunst heute nur noch zur Parodie taugen?"

Der Stotterer beharrt auf seinem Ruf, seiner Mahnung und Lockung. Der Sinn für Komik, dessen sich Leverkühn zuweilen anklage, werde sich mit der Kunst weit besser vertragen, als mit der Theologie. Was er für abstoßende Charaktereigenschaften halte, brauche er in der Kunst mehr, als er glaube. Wer sich Wendell Kretzschmars Gestalt ausborgt, war bereits angemerkt worden. Goethe hat in seiner Fassung des Faust-Mythos den Teufel außer Bosheiten auch die eine oder andere Wahrheit aussprechen lassen. Thomas Mann hält es ähnlich, und Wendell Kretzschmar resümiert: "Die Kunst schreitet fort, und sie tut es vermittelst der Persönlichkeit, die das Produkt und das Werkzeug der Zeit ist, und in der objektive und subjektive Motive sich bis zur Ununterscheidbarkeit verbinden, die einen die Gestalt des anderen annehmen". Die sybillinische Äußerung spricht dem Künstler eine Art seismographischer Sensibilität für Zeitströmungen zu und meint weiter, dass das Kunstwerk aufs Engste mit der Persönlichkeit des Künstlers verbunden ist. Die persönliche Formel und Handschrift geben dem Werk seine unverwechselbare Identität. [2] „Als ob nicht jeder Künstler genau das machte, was er ist." [3]

  1. Thomas Mann: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 206
  2. Thomas Mann: Leiden und Größe Richard Wagners. In: Adel des Geistes. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1945, S.424
  3. Thomas Mann: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 458


Genialisierung durch Krankheit

In einem Leipziger Bordell, in das ein hinterhältiger Kofferträger den noch stadtfremden Leverkühn geführt hat, nähert sich dem Überraschten eine Prostituierte von südlichem Typus mit Mandelaugen, in spanischem Jäckchen. Mit dem Arm streichelt sie seine Wange. Adrian flieht. Doch den Berührten lässt das Erlebnis nicht mehr los. Wochen später reist er ihr nach, bis nach Preßburg und nimmt wissentlich eine Infizierung mit Syphilis in Kauf. Damit hat das Paktieren mit dem Teufel begonnen. Die Bedingungen werden später abgesprochen.

Leverkühns Behandlungsversuche der syphilitischen Infektion scheitern. Zwei Ärzte, an die er sich nacheinander wendet, werden vom Teufel beseitigt. [1]

Die Syphilis - vor Entdeckung des Penicillins eine verbreitete Seuche - kann schleichend verlaufen und dabei unterschiedliche Organe befallen. Am häufigsten erkranken Gehirn und Rückenmark. Diesen Verlauf nimmt die Krankheit auch bei Leverkühn. Nach langer Symptomarmut führt sie bei ihm zu einer "Vergiftungs-Inspiration" [2], die ihm den genialen Durchbruch [3] ermöglicht. Thomas Mann hatte dabei die Biographie Friedrich Nietzsches vor Augen, von dem er annahm, dessen syphilitische Gehirnerkrankung habe seine Philosophie beflügelt und geprägt. [4] Auf die Frage, warum er Leverkühn nicht an einer Schizophrenie, sondern an Gehirnsyphilis hat erkranken lassen, antwortet Thomas Mann in seiner Korrespondenz: "Aus gewichtigen Gründen war die [progressive] Paralyse der Schizophrenie vorzuziehen: Erstens ist sie die Folge geschlechtlicher Infektion, und zweitens kann sie unter bestimmten Umständen und Bedingungen vorübergehend enthemmende und geistig steigernde Wirkungen üben, worauf es ja ankam." [5]

Adrian Leverkühn erfindet, angeregt und illuminiert durch das Initialstadium der entzündlichen Gehirnzerstörung, die Zwölf-Ton-Technik, auf eigene Hand und ohne von Arnold Schönberg zu wissen. In seinen Selbstkommentaren nennt Thomas Mann die Reihentechnik Teufelswerk [6] [7] und befürchtet amüsiert: "Schönberg wird mir die Freundschaft kündigen." [8]

Der Roman ist mit mythischen Einschlägen [9] konzipiert, als ein Beispiel der "schlimmen Inspiration und Genialisierung." [10] Thomas Mann hielt eine Genialisierung durch Krankheit für möglich. Bereits in Der Zauberberg klang dieses Motiv an. Die zentrale Figur des Sanatoriumsromans, ein junger Mann, kommt im Verlaufe seines siebenjährigen Aufenthaltes unter Kranken und Sterbenden zu der Einsicht, dass es zum Leben zwei Wege gibt: "Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg." [11] Eine "Steigerung" durch Krankheitserfahrung wird hier noch als Reifungsprozess gesehen. In Doktor Faustus geht Thomas Mann in mit der schlimmen Inspiration einen Schritt weiter. Er nimmt eine Steigerung von Hirntätigkeit und Kreativität durch Krankheit an.

Der Biograph Serenus Zeitblom macht es deutlich. Er bezeichnet Leverkühns willentliche Syphilisinfektion, dieses "gottversuchende Wagnis, als ein tief geheimstes Verlangen nach dämonischer Empfängnis, nach einer tödlich entfesselnden chymischen [sic] Veränderung seiner Natur." [12]

Psychiatrischer Gewährsmann für Thomas Mann war der Nervenarzt und Medizinschriftsteller Paul Julius Möbius. Der hatte 1898 in einer Pathographie über Goethe geschrieben: Aber das Elementarische, das Hinreißende, das Jeden auf unerklärliche Weise ergreifende, das kommt fast nur den Erzeugnissen der dichterischen Entzündung zu: das Pathologische ist Bedingung des Höchsten. Die Inspiration setzt einen veränderten Geisteszustand voraus, der nach Goethes eigener Aussage dem Schlafwandeln verwandt ist. Die Willkür kann zu bewunderungswürdiger Schönheit führen, aber das Dämonische entsteht unbewusst.

Naturwissenschaftlich lässt sich eine Genialisierung durch Krankheit nicht verifizieren. [13] Doch als literarisches Motiv hat sich diese Verknüpfung bewährt. Fatalerweise wird die Kunsttauglichkeit dieses Motivs von Geisteswissenschaftlern mit der Realität verwechselt. Das ist ein trügerischer Schluss. Die Kunst ist nicht der Wahrheit verpflichtet [14] und taugt nicht als Beweis. Ihr geht es um Wirkung [15] und nicht um Wahrheit oder Abbildung der Wirklichkeit. Leverkühn äußert: "Das Werk! Es ist Trug. Es ist etwas, wovon der Bürger möchte, es gebe das doch. Es ist gegen die Wahrheit und gegen den Ernst." [16] Er bringt damit eine Nietzsche-Reminiszenz auf dessen Bonmot: "Die Dichter lügen zuviel" [17], das wiederum auf Homer zurückgeht. [18]

Nun folgt Thomas Manns künstlerische Unverbindlichkeit. Der Biograph fährt fort: "Ich habe ihn ebenso sagen hören: Schein und Spiel haben heute schon das Gewissen der Kunst gegen sich. Sie will aufhören, Schein und Spiel zu sein, sie will Erkenntnis werden."

  1. Thomas Mann am 6.7.1944 an Agnes E. Meyer
  2. am 13.12.1943 an Jonas Lesser
  3. am 1.3.1945 an Bruno Walter
  4. am 27.8.1944 an Fritz Kaufmann
  5. am 13.10.1949 an Erwin Loewy-Hattendorf
  6. am 14.2.1948 an Otto Basler
  7. am 22.3.1948 an Albert Moeschinger
  8. am 28.9.1944 an Agnes E. Meyer
  9. am 09.05.1943 an Ida Herz
  10. am 27.4.1943 an Klaus Mann
  11. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Berlin: S. Fischer Verlag 1924, Bd.II, S.429
  12. Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 239
  13. Haack, Hans-Peter: Genialisierung durch Krankheit. Nervenheilkunde 10 (2003) S. 41 -45
  14. Hesiod: Theogonie, Vers 27 u. 28
  15. Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstapler Felix Krull. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1954, S. 228
  16. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 280
  17. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil. Von den Dichtern
  18. Thomas Mann am 17.2.1948 an Arnold Schönberg


Kreativität und Normenbruch

In Kapitel XXV tritt der Teufel persönlich auf.[1] Das Teufelsgespräch steht in der Mitte des Romans [2] und ist ein Höhepunkt, eine Art Zwischenfinale. Vom Teufel erfährt Leverkühn, dass er ihm die Prostituierte im spanischen Jäckchen zugeführt hat. Er garantiert nun, aus ihm einen von Krankheit Genialisierten zu machen. Zu triumphalsten Wohlsein werde er ihn bringen, er lasse ihn zum Wandel eines Gottes sich steigern. „Wahre Leidenschaft gibt es nur im Ambiguosen und als Ironie, […] die ist nicht von Gott, der dem Verstande zu viel zu tun übrig lässt." Künstlerische Inspiration als „seliges Diktat" zu empfangen, "das ist nur mit dem Teufel, dem wahren Herrn des Enthusiasmus möglich." - Der Teufel als der wahre Herr des Enthusiasmus erinnert an Der Tod in Venedig. Dort wurde der alternde Künstler, der sich willentlich dem Rausch seiner homoerotischen "Heimsuchung" hingegeben hatte, von seinem Autor "der Enthusiasmierte" genannt. [3]

Nach vierundzwanzig Jahren wird Leverkühns Zeit abgelaufen sein. Dann tritt die Hölle in ihre Rechte. Thomas Mann gelingt es, in dem Teufelsgespräch naturalistischer Schriftsteller zu bleiben (so hat er sich gesehen [4]), denn die Lesart, Leverkühn würde das Ganze halluzinieren – in seinem Gehirn schwelt bereits die syphilitische Entzündung - wird wiederholt angeboten.

Der Teufel pocht auf seine Zuständigkeit in der Kunst und führt das Wort. Er hat Leverkühn erkannt als einen "kühle[n] und kluge[n] Geist, zu klug eigentlich für die Kunst, der aber dennoch von dem Drang nach dem Kreativen erfüllt ist und dazu Enthemmung braucht." [5] Seine Belehrung: "Und heile Größe! Wenn ich davon nur höre! Glaubst Du an so was, an ein Ingenium, dass gar nichts mit der Höllen [sic] zu tun hat? Der Künstler ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten. Meinst du, dass je ein irgend belustigendes Werk zustande gekommen [sei], ohne dass sein Macher sich dabei auf das Dasein des Verbrechers und des Tollen verstehen lernte?"

Damit bezieht sich der Teufel auf den Bruch mit dem Konventionellen, auf den Innovationszwang in der Kunst. Die Überwindung der Konvention gilt anfangs noch als Verstoß gegen Normen. Den Normenverstoß des Künstlers setzt er in Analogie zu dem Normenbruch des Verbrechers. Das ist Spiegelfechterei, für Thomas Mann aber nicht ohne ein Fünkchen Wahrheit. Sein Essay Bruder Hitler von 1938 behandelt die hintergründige Analogie von Künstler und Verbrecher. Hitler wird entlarvt als gescheiterter und verkommener Künstler, der um des Ruhmes willen zum Verbrecher wurde. In einer Verballhornung des Nietzsche-Wortes "Der schöne Schein" verspottet der Teufel die Kunst als "höheren Schwindel." [6]

Der internationale Musikagent Saul Fitelberg (Kapitel XXXVII) möchte Leverkühns Außenseitertum beenden und ihn der Neugier der mondänen Gesellschaft vorführen. Weltläufig, polyglott und von sprudelnder Eloquenz spricht er Leverkühns Namen französisierend aus, „Le Vercune“, die dritte Silbe betonend. Wie im Teufelsgespräch (Kapitel XXV) führt auch Fitelberg hier das Wort. Er ist übrigens der Teufel selbst, eine seiner zahlreichen Inkarnationen im Roman. Deutlich wird des Pudels Kern durch das an drei Stellen eingeflochtene spaßhafte und unmarkierte Zitat Fitelbergs, er breite seinen Mantel aus, um Leverkühn „durch die Lüfte zu führen“ und ihm so „die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeiten zu zeigen“.

In der Maske Fitelbergs kommt der Teufel noch einmal auf Kreativität und Normenbruch zu sprechen, diesmal gesitteter: Sein Gespür als Musikagent gelte „dem Neuen vor allen Dingen, das noch das Skandalöse ist, aber das ehren- und zukunftsvolle Skandalöse, das morgen das Höchstbezahlte, die große Mode, die Kunst sein wird.“

Leverkühn besteigt den Zaubermantel nicht und Fitelberg zieht ohne Empfindlichkeit wieder ab.

  1. am 28.8.1944 an Ida Herz
  2. Der Roman hat 47 Kapitel, doch kommt eine Nachschrift hinzu. Weiter besteht das XXIV. Kapitel aus drei Teilen. Somit ergeben sich 50 Kapitel und das XXV. liegt in der Mitte.
  3. Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Berlin: S. Fischer 1913, S.88
  4. Mann, Thomas: In memoriam S. Fischer. In: Altes und Neues. Frankfurt am Main 1953, S. 720
  5. Thomas Mann am 12.02.1949 an Albert Oppenheimer
  6. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 373


Geist und Kunst

Der bekennende Humanist Serenus Zeitblom spricht seine Forderung an die Kunst aus. Insgeheim hofft er, dass sie auch Leverkühns Intentionen sind:

"Kunst ist Geist, und der Geist braucht sich ganz und gar nicht auf die Gesellschaft, auf die Gemeinschaft verpflichtet zu fühlen, - darf es nicht, meiner Meinung nach, um seiner Freiheit, seines Adels willen. Eine Kunst, die «ins Volk geht», die Bedürfnisse der Menge, des kleinen Mannes, des Banausentums zu den ihren macht, gerät ins Elend, und es ihr zur Pflicht zu machen, etwa von Staats wegen nur eine Kunst zuzulassen, die der kleine Mann versteht, i s t [1] schlimmstes Banausentum und der Mord des Geistes. Dieser, das ist meine Überzeugung, kann bei seinen gewagtesten, ungebundensten, der Menge ungemäßesten Vorstößen, Forschungen, Versuchen gewiss sein, auf irgendeine hoch-mittelbare Weise dem Menschen – auf die Dauer sogar den Menschen zu dienen." [2] In einem Selbstkommentar schließt sich Thomas Mann dieser Sicht an. [3]

Thomas Mann lässt Serenus Zeitblom sinngemäß wiederholen, was er selbst 1918 in dem demokratieskeptischen Essayband Betrachtungen eines Unpolitischen geäußert hatte. Dass nämlich die Kunst im politischen Sinne nie moralisch sein könne. Sie habe einen unzuverlässigen Grundcharakter, einen Hang zu skandalöser Antivernunft. Sie zähle, wie die Religion zu den anti-intellektuellen Mächten. „Den Künstler mit dem Intellektuellen gleichsetzen, ist demokratischer Humbug“. [4] Thomas Mann ist gegen Ende des zweiten Weltkrieges der Antidemokrat von 1918 geblieben, trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse. 1918 hatte er in Betrachtungen eines Unpoltischen - wenn auch in anderem Zusammenhang - aus Selbstachtung vermerkt: "Gleichviel; was ich drucken ließ, ist das Gültige."

  1. von Thomas Mann hervorgehoben
  2. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 495
  3. Thomas Mann am 22.03.1949 an Gertrud Lukácz
  4. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Berlin: S. Fischer 1918, S. 396


Die Ernsthaftigkeit des Künstlers

Für den Nichtkünstler sei es eine recht „intriguierende“ Frage, wie ernst es dem Künstler mit dem ist, was ihm das Angelegentlich-Ernsthafteste sein sollte und zu sein scheint; wie ernst er sich selbst dabei nimmt und wie viel Verspieltheit, Mummenschanz, höherer Jux dabei im Spiele ist. Als Beispiel nennt Thomas Mann Richard Wagner. Der Großmeister des Musiktheaters habe während der Arbeit an «Parsifal» seinem Namen unter einem Brief den Titel «Oberkirchenrat» hinzugefügt! [1]

Titelblatt von Derleths Proklamationen 1904

Auf den juxhaften und unverantwortlichen Geist, wie ihn sich Dichter erlauben, war Thomas Mann einige Seiten vorher eingegangen (Kapitel XXXIV). Dort hatte er den Dichter Ludwig Derleth (1870 -1948) aus dem George-Kreis auftreten lassen, - als eine der Randfiguren des Romans mit dem Verstiegenheit andeutenden Namen Daniel zur Höhe. An Ludwig Derleth erinnert sich heute kaum jemand. Auf Thomas Mann hatte er jedoch in den Jahren nach «Tonio Kröger» Eindruck gemacht. Daniel zur Höhe singuläres Werk waren die auf Bütten und in großen Lettern gedruckten «Proklamationen» (1904). Sie enthielten tagesbefehlartige Appelle, die zu frag- und grenzenlosem Gehorsam aufriefen gegenüber einer Wesenheit namens Christus imperator maximus, hämmernden Tonfalls, aber doch rhythmisch und klangvoll, sodass man ihnen eine erhebliche Wortgewalt zugestehen musste. Der fiktive Erzähler urteilt: „Der steilste ästhetischen Unfug, der mir vorgekommen [ist].“ Doch in gewissen intellektuellen Zirkeln des besiegten Deutschland nach 1918, in denen die Zeit behorcht wurde, in denen man sich auf das Neue und Kommende tastend vorbereitete, stieß solch terroristische Poesie auf offene Ohren. Thomas Mann deutet hier eine kulturelle Wurzeln des heraufkommenden Faschismus an und läst Serenus Zeitblom, der in diesen Kreisen zuweilen hospitiert, „den Ästhetizismus als Wegbereiter der Barberei“ erleben.

  1. Doktor Faustus: Schluss (3. Teil) Kapitel XXXIV


Ein Licht in der Nacht

Nachdem Leverkühn sein geniales Hauptwerk, ein Oratorium, abgeschlossen hat, ist seine Erkrankung soweit fortgeschritten, dass er in geistige Umnachtung fällt. Der musikalische Ausdruck des bei fortschreitender Gehirnzerstörung entstandenen Oratoriums bekundet "tiefste Heillosigkeit." Und doch lässt die Schlusskadenz [1], wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung auf Gnade für den Abtrünnigen zu: "Die letzte Verzweiflung, die in Hoffnung transzendiert." [2]

Thomas Mann: "Hört nur den Schluss, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo - Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr. – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht." [3]

Dem französischen Germanisten Félix Bertaux schreibt Thomas Mann, als die Arbeit an dem Roman sich dem Ende nähert, der Roman werde "énormément allemand, das heißt also sehr traurig. Aber, wie Schubert fragte: «Kennen Sie eine lustige Musik?», so kann man auch fragen: «Kennen Sie ein trauriges Kunstwerk?» Kunst ist ja doch im tiefsten Grunde heiter." [4]

  1. am 02.08.1948 an Annemarie Burchard
  2. am 17.12.1946 an Agnes E. Meyer
  3. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer Verlag 1947, S. 745
  4. Thomas Mann am 26.10.1946 an Félix Bertaux


Gelegentliche Dopplungen dieses Beitrages mit dem Wikipedia-Artikel "Doktor Faustus" beruhen auf der Identität des Verfassers.

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