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Zweideutigkeit als System - Thomas Manns Forderung an die Kunst: Lotte im Weimar

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Entstehung: 11.November 1936 – 25. Oktober 1939.

Charlotte Kestner, geborene Buff und Vorbild für Werthers Lotte in Goethes Jugendwerk, sucht, in vorgerückten Jahren und verwitwet, Goethe in Weimar auf. Doch nicht sie ist die zentrale Figur des Romans, sondern Goethe.

Thomas Mann hat sich mit Goethe wesenverwandt gefühlt und von einer "unio mystica" [1] gesprochen, von "mythischer Nachfolge und Spurengängerei." [2] Dieses Selbstverständnis hat dem Goethebild im Roman Züge von Thomas Mann verliehen.

Gleich nach ihrer Ankunft in Weimar wird die Titelheldin von Personen aus dem ferneren und näheren Umkreis Goethes in Beschlag genommen. Ihre Ankunft hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Nachdem sie von einer fahrenden Porträtistin, Logiergast im gleichen Hotel, skizziert worden ist, erscheint der Philologe und Goetheberater Doktor Riemer. Er ist Goethe "in lebenslanger Hörigkeit" verfallen.[3] "Ein etwas verdrießlicher, gleichsam maulender Zug lag um seinen Mund." Der Doktor projiziert sein Verhältnis zu Goethe auf die Besucherin, hält sich und Charlotte Kestner für "Complizen in der Qual." [4]

Mythologisch gebildet und in mythischen Kategorien denkend, spricht er Goethe "das Sigillum der Gottheit" zu. [5] Bewundernd und in drängendem Mitteilungsbedürfnis berichtet er über Goethes Gabe "der endgültigen, der heiter treffenden und erquicklich genauen Formulierung von längst Gedachtem und Gesagtem" [6] - doch dann beginnt er, sich mehr und mehr über ihn zu beklagen.

Man spüre bei ihm "eine eigentümliche Kälte, einen vernichtenden Gleichmut“, [7] "eine umfassende Ironie." [8] Diese "Einerleiheit des Alls mit dem Nichts, dem nihil, und wenn es erlaubt ist, von diesem unheimlichen Wort eine Bildung abzuleiten, die eine Gesinnungsart, ein Weltverhalten bezeichnet, so kann man den Geist der Allumfassung mit demselben Recht den Geist des Nihilsm [sic] nennen, - woraus sich ergäbe, daß es ganz irrtümlich ist, Gott und Teufel als entgegengesetzte Principien aufzufassen, daß vielmehr, recht gesehen, das Teuflische nur eine Seite – die Kehrseite, wenn Sie wollen – aber warum die Kehrseite? - des Göttlichen ist. Wie denn auch anders?"

Einige Sätze weiter fasst Doktor Riemer zusammen: "Es ist der Blick der Kunst, der absoluten Kunst, welche zugleich die absolute Liebe und die absolute Vernichtung oder Gleichgültigkeit ist und jene erschreckende Annäherung ans Göttlich-Teuflische bedeutet, welche wir Größe nennen." [9] Das Motiv diabolischer Teilhabe am Genie wird Thomas Mann in seinem Spätwerk Doktor Faustus wieder aufgreifen.

Doktor Riemer versucht eine Deutung. "Es muss doch da eine Ursache sein, die in den Äußerungen selber liegt und hier habe ich den Widerspruch im Sinn, den sie oftmals in sich selber tragen, eine unnennbare Zweideutigkeit, die, wie es scheint, die Sache der Natur und der absoluten Kunst ist und ihre Haltbarkeit, ihre Behältlichkeit beeinträchtigt. Behältlich und dem armen Menschengeist dienlich ist nur das Moralische." [10] "Was aus einer Welt des allgemeinen Geltenlassens und der vernichtenden Toleranz kommt, einer Welt ohne Zweck und Ursach´, [Doktor Riemer rhythmisiert seinen Duktus] in der das Böse und das Gute ihr gleiches Recht haben, das kann der Mensch nicht behalten, weil er kein Vertrauen dazu haben kann, [und sich mehr und mehr verwirrend] ausgenommen allerdings das ungeheuere Vertrauen, das er nun dennoch auch wieder dazu hat, und welches beweist, daß der Mensch zum Widerspruchsvollen nur widerspruchsvoll sich verhalten kann." [11] Und so geht es - in gehobener Artikulation - weiter vor der stumm bleibenden Charlotte Kestner über "umfassende Ironie", [12] über "Merkmale vollendeter Unglaubhaftigkeit und der elbischen All-Ironie" [13] bis schließlich der Goethe-Verfallene – eine Bemerkung von ihm zitierend – das Gedicht mit einem Kuss vergleicht, den man der Welt gibt.

Doktor Riemer bricht ab. "Der Mann schien völlig erschöpft. Man redet nicht dermaßen lange in einem Zuge und in so angespannter Wohlgesetztheit. […] Er war bleich, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, seine Rindsaugen blickten glotzend, und sein offener Mund, dessen sonst bloß maulender Zug dem Ausdruck einer tragischen Maske ähnlicher geworden war, atmete schwer, rasch und hörbar." [14]

Das Malheur, das vermutlich Doktor Riemer unterlaufen ist, als er von dem poetischen Kuss sprach, den Goethe der Welt gibt und das ihn nun glotzend, mit halb offenem Munde stoßweise atmend lässt, zum Befremden von Lotte, die leicht indigniert ist, - diese groteske Komik lenkt für den Moment davon ab, dass hier die Göttlichkeit von Goethes Kunst beschworen wurde, und das mit großer Sprachkraft. Doch, so fragt sich unwillkürlich der Leser, fällt bei solcher Gediegenheit und kühnen Anmut des Wortes nicht ebenfalls ein göttlicher Abglanz auf Thomas Mann? Auf seine unio mystica mit Goethe hat Thomas Mann wiederholt hingewiesen.


Q u e l l e n :

  1. Thomas Mann am 15.12.1938 an Ferdinand Lion
  2. am 10.9.1932 an Käthe Hamburger
  3. Lotte im Weimar. Stockholm: Bermann-Fischer 1939, S. 56
  4. a. a. O. S. 105
  5. a. a. O. S. 72
  6. a. a. O. S. 79. Diesen Anspruch hat auch Thomas Mann an sich gestellt.
  7. a. a. O. S. 87
  8. a. a. O.
  9. a. a. O.
  10. a. a. O. S. 92
  11. a. a. O.
  12. a. a. O.
  13. a. a. O. S. S. 95. ´Elbisch´ meint die die Schalkhaftigkeit freundlicher Naturgeister
  14. a. a. O. S. 96


Gelegentlicher Gleichklang mit dem Wikipedia-Artikel "Lotte in Weimar" beruhen auf der Identität des Verassers.


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