Zweideutigkeit als System - Thomas Manns Forderung an die Kunst: Tonio Kröger

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Entstehung: Dezember 1900 bis November 1902.

Die Künstler-Novelle trägt autobiographische Züge. Der Schriftsteller Tonio Kröger stammt wie Thomas Mann aus einer alten Handelsstadt an der Ostsee, ist etwa gleichaltrig mit seinem Autor und kann ebenfalls literarische Erfolge vorweisen: Während der Arbeit an der Novelle Tonio Kröger waren Buddenbrooks erschienen. Tonio Kröger meint angesichts der "Banalität" des bürgerlichen Lebens, der Künstler nehme eine Ausnahmestellung ein und plagt sich mit der Frage, in wen er sich verlieben soll. Hingezogen fühlt er sich immer wieder zu blonden und blauäugigen Schönheiten, die geistig unbedarft sind, weil – so Tonio Kröger - "die Schönen den Geist nicht nötig haben." Sich dieser Faszination hinzugeben, nennt er selbstironisch "die Wonnen der Gewöhnlichkeit."

In dem Kunstgespräch [1] des vierten Kapitels bringt Tonio Kröger seine Ansicht über Kunst und Künstlertum: "Weil der ein Stümper ist, der glaubt, der Schaffende dürfe empfinden. Jeder echte und aufrichtige Künstler lächelt über die Naivität dieses Pfuscherirrtums. [...] Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems."

In Der Tod in Venedig bezeichnet Thomas Mann diese Äußerung "Zynismen über das fragwürdige Wesen der Kunst, des Künstlertums", vorgebracht von einem "jugendlichen Künstler". [2] Serenus Zeitblom lässt er souveräner urteilen: Damit das Unzulängliche durch Kunst zum „Ereignis“ werde, bedarf es eines "Umschlagen von kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut und kreatürlich sich anvertrauender Herzlichkeit." [3] [4]

Der Inhalt des Kunstwerkes dürfe niemals die Hauptsache sein, meint Tonio Kröger, sondern die Auswahl des sprachlichen Materials und wie aus ihm "in spielender und gelassener Überlegenheit das ästhetische Gebilde zusammengesetzt wird". Mit anderen Worten: Erst Form und Gestaltung machen einen Inhalt zum Kunstwerk. Wissentlich oder unwissentlich zitiert Thomas Mann damit Goethe. Der hatte in dem Kapitel „Eingeschaltetes“ in den „Noten und Abhandlungen zum west-östlichen Divan“ sich bereits in diesem Sinne geäußert.

Tonio Kröger beschäftigt sich mehr mit der Selbstbestimmung des Künstlers als mit der Kunst. Vordergründig geht es ihm um die Unterscheidung zwischen Bürger und dem vermeintlichen Außenseiter Künstler. Bei genauerem Hinsehen und nach Kenntnis der Tagebücher Thomas Manns stellt sich Tonio Krögers Verzicht auf "die Wonnen der Gewöhnlichkeit" als sein und Thomas Manns chiffrierter Beschluss heraus, homoerotische Neigungen nicht auszuleben.


Q u e l l e n:

  1. Thomas Mann am 23.5.1904 an Samuel Lublinski
  2. Der Tod in Venedig. Berlin: S. Fischer 1913, S. 27
  3. Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis. (Faust II, Schlussworte)
  4. Doktor Faustus. Stockholm: Bermann-Fischer 1947, S.736

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