Die vierdimensionale Welt
Dieses Buch steht im Regal Physik.
[1] Hier gibt es eine PDF-Version.
Mit dieser Abhandlung „Die vierdimensionale Welt“ ergänze und präzisiere ich bestimmte Aussagen, die ich gegen Ende des Wikibooks Spezielle Relativitätstheorie gemacht habe. (Die genaue Kenntnis dieses Beitrags wird hier nicht vorausgesetzt. Zur Einführung und zur Veranschaulichung des Folgenden ist jedoch die Kenntnis des Wikibooks „Über das Wesen der Zeit“ nützlich.)
In der erstgenannten Abhandlung habe ich gezeigt, dass eine folgerichtige Interpretation der Speziellen Relativitätstheorie zu dem Ergebnis führt, dass die von uns wahrgenommene dreidimensionale Welt (unser „Erlebnisraum“ oder „Wahrnehmungsraum“ – künftig W3 [Welt drei] genannt –) sich mit Lichtgeschwindigkeit durch den vierdimensionalen „Minkowski-Raum“ bewegt. Dieser ist jedoch nicht – wie seit Minkowski angenommen wird – eine vierdimensionale „Raum-Zeit“ mit drei räumlichen und einer zeitlichen Dimension (was eine Absurdität wäre), sondern ein vierdimensionaler Raum mit vier räumlichen Dimensionen. Er wird hier künftig W4 (Welt vier) genannt. (Genau gesehen ist das, was als vierdimensionale Raum-Zeit angesehen wurde, nichts weiter als ein „graphischer Fahrplan“ für zwei relativ zueinander bewegte Bezugssysteme, der die Ergebnisse der Speziellen Relativitätstheorie berücksichtigt.)
Die folgerichtige Interpretation hat eine erstaunliche und weitreichende Konsequenz: Ein von uns (in der Gegenwart) wahrgenommener Körper – zum Beispiel ein Bezugssystem mit seinen körperlichen Achsen – existiert – bevor wir ihn in der Gegenwart wahrnehmen – bereits in dem Teil des vierdimensionalen Raumes, der für uns als „Zukunftsraum“ gilt, und er existiert andererseits im „Vergangenheitsraum“ noch weiter, nachdem er aus unserer Wahrnehmung entschwunden ist. (Der Zukunftsraum ist der „oberhalb“ unseres dreidimensionalen Erlebnisraums gelegene Teil von W4, der Vergangenheitsraum ist der „unterhalb“ gelegene Teil.
Das bedeutet, dass die Körper selbst vierdimensional sind. Sie sind daher nicht nur in unserem dreidimensionalen Gegenwartsraum W3 anwesend, sondern auch im Zukunftsraum und im Vergangenheitsraum des vierdimensionalen Raumes W4. Von diesen vierdimensionalen Körpern nehmen wir jedoch jeweils nur einen dreidimensionalen Ausschnitt (mathematisch: einen dreidimensionalen Schnitt durch W4) wahr, und dieser Ausschnitt ist der jeweilige Inhalt unseres Gegenwartsraumes W3. (Dazu ein Vergleich: Ein Besucher einer Gemäldeausstellung bewegt sich an den Bildern vorbei und nimmt dabei jeweils ein Bild wahr. Das Bild selbst aber existiert schon, bevor der Betrachter zu ihm kommt – und es existiert auch dann noch, wenn er bereits vorübergegangen ist.)
Denkt man diesen Gedanken konsequent weiter, so kommt man zu folgenden Annahmen oder Hypothesen:
1. Nicht nur sind die Körper unseres Erlebnisraumes in Wirklichkeit vierdimensional, sondern auch alle von uns in W3 wahrnehmbaren physischen Vorgänge sind dreidimensionale Schnitte von vierdimensionalen Vorgängen in W4.
Daraus folgt, dass jeder Veränderung in W3 eine Veränderung in W4 entspricht.
Das bedeutet: Alle Vorgänge und Veränderungen sind von Natur aus vierdimensional. Jedes Geschehen spielt sich eigentlich im vierdimensionalen Raum ab, lediglich unsre Wahrnehmung ist auf einen dreidimensionalen Schnitt durch die vierdimensionale Wirklichkeit beschränkt.
Unsere Welt ist also – bei vorläufiger Beschränkung auf die Spezielle Relativitätstheorie – ihrem Wesen nach vierdimensional.
2. Jede Veränderung des jeweils Bestehenden, die an einer Stelle des vierdimensionalen Raumes stattfindet (auch eine jede, die zum Beispiel von Menschen – scheinbar nur in W3 – verursacht wird), breitet sich in W4 aus und führt zu einer entsprechenden Veränderung des dort Bestehenden. Die Ausbreitung der Veränderung findet jedoch nur in Richtung der positiven W-Achse statt (das heißt in Richtung des Zukunftsraumes). Die letztere Einschränkung ist notwendig, um das Kausalitätsprinzip und den 2. Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) nicht zu verletzen. (Einfacher gesagt: Die Vergangenheit kann durch gegenwärtige Vorgänge nicht verändert werden.) Über die Geschwindigkeit, mit der sich Veränderungen in W4 ausbreiten, kann noch nichts ausgesagt werden.
Aus der 2. Hypothese folgt: Auch der menschliche Körper und alle physikalischen Vorgänge in ihm (insbesondere auch die mit der Wahrnehmung verbundenen Vorgänge) sind dem Wesen nach vierdimensional. Dagegen sind unser Bewusstsein, unser Vorstellungsvermögen und unsere Sinneswahrnehmungen auf drei Dimensionen beschränkt. Die Wahrnehmung der vierdimensionalen Realität von W4 ist uns daher nicht möglich. Stattdessen beobachten wir das zeitliche Nacheinander verschiedener Ausschnitte W3 aus W4, die in der Realität „übereinander“ angeordnet sind. (So wie der Besucher einer Gemäldegalerie zeitlich nacheinander Bilder wahrnimmt, die in Wirklichkeit räumlich nebeneinander angebracht sind.) Das bedeutet: Innerhalb der vierdimensionalen Welt W4 bewegt sich unser Bewusstsein (genauer: das Feld seiner Wahrnehmung) mit Lichtgeschwindigkeit in Richtung der vierten Dimension von W4. Die Veränderungen, die wir infolge dieser Bewegung durch den Raum an den Körpern in W3 wahrnehmen, interpretieren wir als zeitliche Veränderungen, die am selben Ort stattfinden. (In Wirklichkeit sind es die Veränderungen vierdimensionaler Körper von Ort zu Ort – also örtliche Veränderungen –, die alle zur selben Zeit vorhanden sind. Wir ersetzen also die (uns verschlossene) vierdimensionale Wahrnehmung vierdimensionaler Körper und Vorgänge durch die zeitlich nacheinander erfolgende Wahrnehmung dreidimensionaler Körper und Vorgänge. Der Zeitsinn ist also gleichsam ein Ersatz für den vierdimensionalen Raumsinn. So wird verständlich, was Albert Einstein nicht lange vor seinem Tod in einem privaten Brief schrieb: „Für uns gläubige Physiker ist die Zeit lediglich eine wenn auch hartnäckige Illusion.“ Diese Äußerung war damals eher visionär als wissenschaftlich begründet – es sei denn, Einstein hätte – so wie einst Newton und Gauß - mehr gewusst, als er veröffentlicht hat.