Ruhemasse und relativistische Masse eines Körpers

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Transversale und longitudinale Masse, Ruhemasse[Bearbeiten]

Schon einige Jahre vor der Veröffentlichung von Albert Einsteins Aufsatz „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“ (Annalen der Physik, Jg. 17, 1905), womit er die Spezielle Relativitätstheorie begründete, war bekannt, dass schnell bewegte Elektronen bei Beschleunigung in Richtung ihrer Geschwindigkeit (longitudinal) eine andere – und zwar eine höhere - Trägheit besitzen als bei Beschleunigung senkrecht dazu (transversal). H. A. Lorentz hat zur Charakterisierung dieser Phänomene die Begriffe »transversale und longitudinale Masse« eingeführt.

Ferner war bekannt, dass (schon) die kleinere der beiden Massen, die transversale Masse eines Elektrons, größer ist als die Masse eines ruhenden Elektrons, seine so genannte »Ruhemasse«.

Nach den experimentellen Befunden hat ein Körper der Ruhemasse bei der Geschwindigkeit die transversale Masse

und die longitudinale Masse

wobei die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist. Dabei wurde die Masse gemessen, indem die wirkende Kraft durch die Beschleunigung dividiert wurde:

Wie man erkennt, liegt dieser Messvorschrift das dynamische Grundgesetz »Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung« zugrunde.

Die Masse eines Körpers in der Speziellen Relativitätstheorie[Bearbeiten]

Im oben genannten Aufsatz hat A. Einstein gezeigt, dass aus der Hypothese der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit die Gruppe der Lorentz-Transformation abgeleitet werden kann. Daraus wiederum konnte er Transformationsgleichungen für das elektrische und das magnetische Feld gewinnen und schließlich zeigen, dass ein bewegtes Elektron der (Ruhe-)Masse me unter der Wirkung eines in seiner Bewegungsrichtung wirkenden elektrischen Feldes sich so verhält, als hätte es die Masse



also genau die Masse, die oben als longitudinale Masse bezeichnet wurde. (A. a. O. S. 919.)

Für die »transversale Masse« fand Einstein infolge eines Fehlers den falschen Wert



Ohne diesen Fehler ergibt sich aus der Relativitätstheorie auch für die »transversale Masse« der richtige Wert.

 

Worauf beruht der Unterschied zwischen transversaler und longitudinaler Masse?[Bearbeiten]

Die transversale Beschleunigung eines bewegten Körpers führt zu einer Kreisbewegung mit konstanter Bahngeschwindigkeit. Eine longitudinale Beschleunigung dagegen erhöht die Bahngeschwindigkeit des Körpers und damit sowohl seine transversale als auch seine longitudinale Masse.

Nehmen wir einmal an, die transversale Masse wäre die »eigentliche« Masse des Körpers (bei der Geschwindigkeit v), die Masse nämlich, welche die Trägheit des Körpers sowohl bei transversaler als auch bei longitudinaler Beschleunigung bestimmt. Da sich bei longitudinaler Beschleunigung diese »eigentliche« Masse erhöht, darf das dynamische Grundgesetz nicht mehr in seiner oben zitierten vereinfachten Form angewendet werden. Vielmehr muss man auf die ursprüngliche Newtonsche Formulierung zurückgreifen, wonach die Kraft gleich der Ableitung des Impulses p nach der Zeit t ist:



Demnach tritt bei Veränderung der Masse zu dem bekannten Term m a noch ein Summand hinzu, wodurch bei gegebener Beschleunigung die benötigte Kraft größer wird. Der Körper verhält sich bei naiver Betrachtung also tatsächlich so, als hätte er eine größere Masse. (»Naive Betrachtung« bedeutet hier die Bestimmung der Masse aus dem vereinfachten dynamischen Grundgesetz.)

Setzt man in Gleichung (3) für m den Wert mt aus Gleichung (1) ein, so erhält man


und schließlich


Der Körper verhält sich also (bei der oben zugrundegelegten) naiven Betrachtungsweise so, als hätte er die Masse



Diese ist aber identisch mit der »longitudinalen Masse«. Infolge der Massenveränderlichkeit verhält sich also ein Körper mit der Masse mt bei longitudinaler Beschleunigung tatsächlich so, als hätte er die Masse ml. Die transversale Masse scheint also wirklich die »eigentliche Masse« des Körpers bei der Geschwindigkeit v zu sein. Der Begriff »longitudinale Masse« ist damit hinfällig geworden; die transversale Masse des Körpers reicht zur Erklärung seines Verhaltens (seiner vermeintlichen Trägheit oder Masse) bei longitudinaler Beschleunigung völlig aus, wenn man nur die Veränderlichkeit der Masse berücksichtigt und folglich das dynamische Grundgesetz in seiner vollständigen Form verwendet.

Tatsächlich wurde der Begriff »longitudinale Masse« etwa von der Mitte des 20. Jahrhunderts an nach und nach aufgegeben; er findet sich aber in dem seinerzeit berühmten »Lehrbuch der theoretischen Physik« von G. Joos noch mindestens in der 11. Auflage von 1964. Für die transversale Masse wurde (etwa gleichzeitig) der Begriff »Impulsmasse« vorgeschlagen, der sich auch weitgehend (neben der Bezeichnung »relativistische Masse«) durchgesetzt hat. Er soll darauf hinweisen, dass es sich dabei um die Masse handelt, die unter Anwendung des vollständigen dynamischen Grundgesetzes (Kraft ist gleich Änderungsgeschwindigkeit des Impulses) bestimmt wurde. Demnach hätte ein Körper zwei verschiedene Massen: seine Impulsmasse und eine andere, für die die Bezeichnung Ruhemasse beibehalten wurde.


 

Die Trägheit der Energie[Bearbeiten]

Als nächstes muss die Frage untersucht werden, warum die Körper in bewegtem Zustand bei transversaler Beschleunigung eine größere Masse zu haben scheinen als in Ruhe.

Einstein hat schon drei Monate nach seiner ersten Veröffentlichung zur Speziellen Relativitätstheorie gezeigt, dass (unter den Voraussetzungen der Speziellen Relativitätstheorie) die Masse eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängt (A. Einstein, Hängt die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt ab? Annalen der Physik, Jg. 18, 1905). Dies bedeutet, dass Energie träge ist, oder deutlicher gesagt, dass Energie Masse besitzt. Wenden wir diese Erkenntnis auf das vorliegende Problem an, so folgt daraus, dass der Unterschied zwischen der transversalen Masse eines Körpers und seiner Ruhemasse auf der Trägheit (oder der Masse) seiner kinetischen Energie beruht. Bezeichnen wir diese Masse mit mE, so ist



Um diesen Gedanken weiter zu verfolgen und zu präzisieren, berechnen wir die kinetische Energie E eines Körpers bei der Geschwindigkeit v. Diese ist nach dem Energieerhaltungssatz gleich der Arbeit W, die aufzuwenden ist, um einen Körper mit veränderlicher Masse aus der Ruhe auf die Geschwindigkeit v zu beschleunigen.

Bei longitudinaler Beschleunigung (sie allein führt bekanntlich zu einer Geschwindigkeitszunahme) ist die Kraft F, die für die Beschleunigung eines Körpers mit der Ruhemasse m erforderlich ist, nach Gleichung (4)



Also ist die aufzuwendende Beschleunigungsarbeit



Nach der Substitution



kann das Integral leicht berechnet werden. Man erhält schließlich



Durch Reihenentwicklung des Bruchs in der Klammer erhält man



und daraus schließlich


Für hinreichend kleine Werte von ß gilt



Die »klassische« Formel für die kinetische Energie wäre demnach nicht exakt, sondern lediglich eine für nicht zu große Geschwindigkeiten gültige Näherung.

Ferner ergibt sich aus Gleichung (6) zusammen mit Gleichung (5)



Die linke Gleichung ist die berühmte Einstein'sche Gleichung, die also allein schon aus dem Verhalten eines Körpers gegenüber transversaler und longitudinaler Beschleunigung gewonnen werden kann.

Die Ergebnisse bestätigen die Annahmen, die diesen Überlegungen zugrunde liegen. Demnach sind auch die Begriffe transversale Masse (alias Impulsmasse oder relativistische Masse) und Ruhemasse hinfällig. Jeder Körper hat nur eine einzige, von seiner Geschwindigkeit (und somit vom Bezugssystem) unabhängige Masse. Die Massenzunahme bei Bewegung ist bedingt durch die Masse der kinetischen Energie.

Damit ist wohl die letzte Ungereimtheit in der Speziellen Relativitätstheorie ausgeräumt. Es war schon immer nicht recht einzusehen, warum zwar elektrische Ladungen, nicht aber Massen invariant gegenüber Wechsel des Bezugssystems (gegen Lorentz-Transformation) sein sollten. Auch war die »Relativität der Masse« das einzige relativistische Phänomen, das nicht unmittelbar aus der pseudoeuklidischen Metrik (Minkowski-Metrik) des vierdimensionalen Raumes hergeleitet werden konnte. Der Grund dafür ist jetzt offensichtlich: Es gibt sie – die Relativität der Masse – gar nicht!


 

Zugabe[Bearbeiten]

Man kann das Pferd auch von hinten aufzäumen, indem man die Einstein'sche Gleichung als bewiesen voraussetzt und daraus auf das Verhalten eines Körpers gegenüber transversaler und longitudinaler Beschleunigung schließt. Das wird im Folgenden ausgeführt.

Bezeichnen wir die Masse der kinetischen Energie wieder mit mE, so gilt bei longitudinaler Beschleunigung


Mit mE = E/c2 wird daraus


und nach Multiplikation mit ds:


und


Durch Integration zwischen den Grenzen 0 und E bzw. 0 und v ergibt sich








Dies ist der früher als »transversale Masse« bezeichnete Wert.

Für mE erhält man wieder den Wert



Setzt man diese Werte in Gleichung (7) ein, so erhält man schließlich auch den richtigen Wert für die »longitudinale Masse«.

Ergebnis: Die Trägheit (Masse) der Energie erklärt den scheinbaren Massenzuwachs der Körper mit zunehmender Geschwindigkeit sowie ihr unterschiedliches Verhalten gegenüber transversaler und longitudinaler Beschleunigung.

  si.pe@arcor.de