Chemische Physik --- Thermodynamik
Einleitung
[Bearbeiten]Die Alchemie sammelte qualitative Fakten und ersann ohne vorheriges Rechnen die Kochrezepte, die das begehrte Metall liefern sollen. Die physikalische Chemie dagegen will quantitative Modelle haben, will Ergebnisse genau voraussagen für verlässliche Verfahrenstechnik. Eine Reaktion soll ideal schon "in silico" funktionieren, bevor sie "in vitro" ausprobiert wird.
Es ist hilfreich, den Formalismus der folgenden Abschnitte etwas geometrisch zu deuten. Ein sanfter Einstieg in die Mathematik der Sache, hoffentlich.
Das System-Modell hat mindestens einen Satz von unabhängigen, messbaren
Zustandsvariablen, die alles so gut wie möglich beschreiben. Die N-Tupel
solcher Variablen sind Punkte im N-dimensionalen Zustandsraum.
Mit der Zeit entwickelt sich das System längs eines Pfades, einer Kurve
in diesem Raum. Es gibt weit mehr als N Zustandsvariablen, aber sie sind
abhängig und können als Funktionen der primären Variablen geschrieben werden.
Es gibt Paare von "extensiven" und "intensiven" Variablen. Und es gibt
Umrechnungen, wenn man die freie Wahl hat, welchen Satz von N Variablen
man als Systemkoordinaten nimmt. Die Differenzialrechnung mit mehreren
Variablen sollte man dabei kennen, ein wenig.
Zum Beispiel, seien X,Y,Z drei unabhängige Variablen und W = W(X,Y,Z)
eine davon abhängige. Ein Pfad fängt am Punkt (X,Y,Z) an und geht in eine
Richtung (dX,dY,dZ) symbolisiert durch Differenziale. Dann gibt eine
Differenzialform die Entwicklung von W an, nämlich
- dW = (∂W/∂X)·dX + (∂W/∂Y)·dY + (∂W/∂Z)·dZ .
Die Form dW heißt eine exakte Form oder auch totales Differenzial, weil sie von einer Stammfunktion W abgeleitet wird. Daneben gibt es auch nicht-exakte, eben nicht-integrierbare, Differenzialformen, die mit drei beliebigen Koeffizienten aufwarten. Ein δ-Symbol deutet das an:
- δV = (V_x)·dX + (V_y)·dY + (V_z)·dZ.
Der große Unterschied ist messbar, wenn verschiedene Pfade zwischen zwei Punkten im Zustandsraum verlaufen. Die "Formen" sind genau die Integranden für Kurvenintegrale. Denn für eine zeitliche Bewegung (X(t),Y(t),Z(t)) ersetzt man einfach dX durch (dX/dt)·dt und so weiter und integriert über t. Das Integral einer exakten Form hat denselben Wert längs aller Pfade, sein Integral um eine geschlossene Kurve ist Null. Das Integral einer nicht-exakten Differenzialform ist abhängig vom Weg und Integrale um einen Rundweg herum verschwinden nicht.
Das Wort 'nicht-exakt' im Mathe-Jargon meint nicht etwa ungenau, schlecht definiert. Alle Differenzialformen ordnen an jedem Punkt im Zustandsraum jedem Ortsvektor linear eine Zahl zu, so dass ausnahmslos alle Kurvenintegrale eindeutig auszuwerten sind. Bei exakten Formen sind die Koeffizienten der Gradient einer einzigen Funktion, bei den anderen sind es N allgemeinere, aber klar bekannte Funktionen. Der Unterschied in wunderschöner Symbolik:
Große Fortschritte machte die Thermodynamik mit der Entdeckung wichtiger
Zustandsgrößen und ihrer Differenziale. Ein Ballon mit inertem Gas etwa
hat zwei mechanische Zustandsvariablen (p=Druck, V=Volumen) und die
Variable T=Temperatur. Wegen der idealen Gasgleichung sind die drei nicht
unabhängig. Der Zustandsraum hat die Dimension 2, man kann etwa auflösen
T = T(p,V). Die Zahl der Moleküle ist konstant und spielt in diesem
primitiven Fall keine Rolle.
Der Erste Hauptsatz sagt, dass es eine Zustandsfunktion U = U(p,V) gibt, die
Innere Energie. Der Austausch von Wärmeenergie und von mechanischer Arbeit
verändert U so, dass alle Energie erhalten ist:
- dU = δQ + δW.
Das Differenzial der Arbeit lässt sich mit bisherigen Variablen schreiben als
- δW = —p·dV.
Wächst das Volumen des Gases, verrichtet es Arbeit an einem Kolben oder ähnlichem, seine innere Energie nimmt ab.
Es gibt keine Zustandsfunktion "Q(p,V)" der gespeicherten Wärme und
leider für δQ keine Kombination aus Produkten von (p,V) mit
ihren Differenzialen. Kein Grund zur Aufregung, denn:
Der Zweite Hauptsatz lehrt, dass [erstens] die (intensive) Temperatur T
einen absoluten Nullpunkt hat und dass [zweitens] neben U eine weitere
Zustandsfunktion existiert, die (extensive) Entropie S(p,V).
Mit dem Paar (T,S) kann nun beim reversiblen Wärmetausch doch
ein totales Differenzial abgetrennt werden:
In einem abgeschlossenen System wächst bei irreversiblen Vorgängen die gesamte Entropie, niemals nimmt sie ab.
Die berühmteste geschlossene Kurve der Wärmelehre ist der Carnotsche Kreisprozess. Mit diesem idealisierten Gedankenexperiment wird reversibel Wärme zu Arbeit umgesetzt und umgekehrt. Die beiden haben keine Null-Bilanz und können deshalb nicht die Ableitungen von Zustandsfunktionen sein. Die absolute Temperatur und die Entropie wurden praktisch an diesem Kreislauf entdeckt. Man braucht unbedingt unterschiedliche Temperaturen. Ein Ding, das allein Wärme bei Zimmertemperatur absaugt und damit Batterien lädt, wäre ein Perpetuum Mobile zweiter Art.
- Notation:
Etwas schludrig bekommt eine Zustandsgröße stets denselben Buchstaben, gleich welche unabhängigen Variablen den Zustand bschreiben, U = U(T,V) = U(S,p) =.... In strenger Mathematik sind es verschiedene Funktionen und hätten verschiedene Buchstaben nötig. Zur Strafe muss daher bei partiellen Ableitungen peinlich genau dazu geschrieben werden, welche Variablen gerade das Koordinatensystem bilden, kurz, welche anderen Variablen bei der Ableitung festgehalten werden.
Das Differenzial von Zustandsvariablen hat die Produktregel
- d(U·V) = dU·V + U·dV .
Dabei ist es egal, ob U oder V aus einem Satz unabhängiger Variablen kommen oder ob eine oder beide schon ein totales Differenzial anderer Variablen darstellen.
Die Gleichung dU = T·dS — p·dV legt nahe, dass für die Variable U das Paar (S,V) die beste Koordinatenwahl im Zustandsraum ist:
was aus Koeffizientenvergleich mit dem totalen Differenzial folgt.
Nun ist experimentell die eher exotische Entropie schlecht zu messen und
auch das Volumen und seine Variationen sind schwer zugänglich. Zum Glück sind
die 'intensiven' Größen Temperatur und Druck gut messbar und sogar einstellbar.
Und die Bilanzen von
vielen Vorgängen werden gemacht bei Normaldruck und Normaltemperatur.
Daher kam die Idee auf, andere Zustandsvariablen der Dimension 'Energie' aus
den vorigen so zu kombinieren, dass sie genau auf das optimale
Koordinatenpaar (T,p) passen, anstatt auf (S,V).
Im ersten Schritt wird die Entropie rausgeworfen.
Definition der Freien Energie:
Analog wird das Volumen entfernt, besser gesagt von einer unabhängigen zu einer abhängigen Variablen degradiert. Definition der Freien Enthalpie:
Die Energiebilanz vieler Prozesse wird praxisgerecht mit der Veränderung ΔG der Freien Enthalpie beziffert, in Joule pro Kilogramm, oder Kalorien pro Mol, oder welche Einheiten sonst gang und gäbe sind. Denn die Zustände vorher und nachher liegen vor bei 'Atmosphärendruck' und 'Zimmertemperatur'.
Zu den zwei Energietransporten Wärme und mechanische Arbeit gesellt sich nun
der Austausch von chemischer Energie, die in den Bindungen von Molekülen steckt.
Mit drei Molekülsorten A,B,C und einer Reaktion A + B ←→ C soll die
totale innere Energie U chemische Terme bekommen, die von der
Zahl N_A der Moleküle A usw. abhängen. Der Einfachheit halber etwa additiv:
U darf aber auch komplizierter sein, nichtlinear, nicht-additiv. Das System-Modell hat 5 Zustandsvariablen und U hat das Differenzial
Die Koeffizienten sind per Definition die chemischen Potenziale der Substanzen. Wieder ist die Freie Enthalpie G(T,p,...) oft praktischer als U und ihr Differenzial lautet
G,S,V und alle 3 Potenziale sind in diesem Ansatz Funktionen der Zustandsvariablen , also der Punkte im 5-dimensionalen Zustandsraum. Es mag aber sein, dass eine nicht-ideale Gasgleichung besteht zwischen Druck, Volumen, Temperatur und Summe aller Moleküle. Mit dieser Kenntnis schrumpft der Zustandsraum auf eine Teilmenge von Dimension 4. Eine Mannigfaltigkeit, eine gekrümmte Hyperfläche im höherdimensionalen Raum.
Die Stöchiometrie vereinfacht eine Zustandsmenge mit linearen Gleichungen: