Elementarwissen medizinische Psychologie und medizinische Soziologie: Patient und Gesundheitssystem

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Übersicht über das Kapitel.

Die Entscheidungsfindung des Patienten für oder gegen einen Arztbesuch ist ein komplexer Prozess und hängt von zahlreichen Faktoren ab[Bearbeiten]

Beschwerden kommen auch bei Gesunden vor (96% der Bevölkerung geben an, in der vergangenen Woche Beschwerden gehabt zu haben, 50-75% geben an, im letzten Jahr Schmerzen gehabt zu haben) → Menschen suchen also nicht sofort den Arzt auf, wenn Beschwerden auftreten.

Entscheidungsstufen von der Körper(-miss-)empfindung zum Aufsuchen des Arztes. Bis ein Patient den Arzt konsultiert, passieren verschiedene kognitive und soziale Prozesse.

Entscheidungsstufen des Patienten:

  1. Körperempfindung:
    • ignorieren (unbewusste Wahrnehmung, Einstufung als unbedeutend durch das adaptive Unbewusste)
    • Symptomaufmerksamkeit, bewusste Wahrnehmung der Körperempfindung (v. a. wenn diese intensiv oder auffällig ist; dies ist außerdem abhängig von psychischen Faktoren: Ängstlichkeit, somatoforme Störung mit "checking behaviour" etc.) → Bewertung
  2. Bewertung mittels Laien-Ätiologie: die Bewertung ist abhängig von emotionalen Faktoren (Stress, Angst, Depression) und unterliegt Einflüssen aus dem Laiensystem; Beschwerden sind also nicht die alleinige Ursache dafür, zum Arzt zu gehen, sondern müssen zusätzlich mit psychischen Belastungen einhergehen.
    • Bewertung als "normal" → Normalisierung
    • Bewertung als "Anzeichen einer (schweren) Krankheit" → Entwicklung einer subjektiven Krankheitstheorie (Kausalattributionen!), Aufsuchen des Laiensystems, Selbstmedikation
  3. Behandlung durch Laien-System und Selbstmedikation:
    • Laiensystem: wird v. a. in unteren Schichten aufgesucht (arztaversive Haltung!)
      • Laien-Ätiologie (z. T. stark von wissenschaftlichen Erkenntnissen abweichend, oft (sub)kulturell gefärbt)
      • Laien-Diagnose
      • Laien-Therapie
      • Laien-Zuweisung
    • Selbstmedikation, Selbstbehandlung
  4. Kontaktaufnahme mit dem medizinischen Versorgungssystem (→ dadurch wird eine neue Rolle erworben, nämlich die Patientenrolle): erfolgt oftmals erst nach einiger Verzögerung (Delay)
    • Nur in 16% der Fälle wird eine organische Ursache festgestellt, in den übrigen 84% wird keine organische Ursache festgestellt, denn...
      • ...es handelt sich um temporäre Beschwerden, die mit der Zeit wieder verschwinden (generell bessern sich 70-80% der Beschwerden in den ersten 14 Tagen, von den übrigen 20-30% bessern sich zwei Drittel innerhalb von drei Monaten)
      • ...es liegt eine somatoforme Störung vor (der Patient ist überzeugt, dass eine organische Ursache vorliegt, obwohl ihm der Arzt versichert, dass dem nicht so ist); der Patient versucht, körperliche Untersuchungen zu erzwingen (Aufsuchen eines anderen Arztes etc.).
      • ...es liegt eine andere psychische Störung vor (z. B. Angststörung, Depression), d. h. die Ursache wird durch körperliche Beschwerden verschleiert (→ nur in 50% der Fälle werden psychische Störungen richtig diagnostiziert, noch seltener richtig behandelt).
    • Delay (= Zeit zwischen Symptomwahrnehmung und Aufsuchen von Hilfe, verzögertes Hilfesuchen): erst spätes Aufsuchen eines Arztes, obwohl Symptome einer organischen Krankheit vorliegen
      • Gründe für Delay: psychosoziale Faktoren, v. a. motivationale Faktoren
      • Beispiele:
        • Herzinfarkt: 50% der Betroffenen sterben vor Erreichen des Krankenhauses (d. h. in der Prähospitalzeit), dabei oftmals wegen zu langem Delay; dieses Delay beruht oft auf einer Verharmlosung der Beschwerden oder einer Fehleinschätzung der eigenen Gesundheit ("ich bin gesund und sportlich, einen Herzinfarkt kann ich nicht bekommen"); beim Reinfarkt ist das Delay sogar noch größer, was zum einen auf der veränderten Symptomatik, zum anderen auf psychischen Faktoren beruht (kognitive [Selbstkonzept], emotionale [Angst, Scham, Schuldgefühle, "den Arzt nicht belästigen wollen"] und soziale Faktoren [Erreichbarkeit des Arztes etc.])
        • Krebserkrankungen: Delay kommt hier zustande vor allem durch Verdrängen der Angst sowie durch psychosoziale Einflussfaktoren (geringes Einkommen, geringe Bildung, geringe soziale Unterstützung, Informationsdefizit, Fatalismus, ungünstiges Gesundheitsverhalten, ungünstiger Bewältigungsstil); man versucht ihm entgegenzuwirken mittels Wissensvermittlung, Förderung der subjektiven Risikowahrnehmung (ein gewisses Maß an Angst ist förderlich) und Abbau von Barrieren (Zeitaufwand, Kosten); zudem hat die Empfehlung des Arztes einen großen Einfluss auf das Patientenverhalten.
  5. Genesungsprozess


Merke: Nicht jeder, der körperliche Beschwerden hat, geht sofort zum Arzt – der Arzt bildet vielmehr die letzte Station in einem komplexen Entscheidungsablauf. Die meisten der Beschwerden vergehen dabei nach einiger Zeit von selbst. Bei einigen Erkrankungen kann jedoch zu langes Warten (Delay) tödlich sein. Man beachte zudem, dass Beschwerden mitunter Ausdruck einer psychischen Störung sind.


Faktoren, die die Entscheidung für oder gegen einen Arztbesuch beeinflussen:

  • "Innere" Faktoren des Patienten:
    • subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands (Symptomtoleranz; wichtigster Faktor!)
    • subjektive Einschätzung der Ernsthaftigkeit der Gesundheitsstörung
    • emotionale Faktoren (Angst, Depression, Stress)
    • kognitive Faktoren (Laienätiologie, falsche/fehlende Information)
  • "Äußere" Faktoren des Patienten: Geschlecht, Bildungsstand.
  • Beziehung des Patienten zu Ärzten: Einstellung gegenüber Ärzten, Erreichbarkeit des Arztes, Vorerfahrungen mit der Medizin (und mit Krankheiten)
  • Rahmenbedingungen: Kosten, finanzielle Zuzahlungen, Arbeitsmarktsituation

Komplementäre (alternative) Heilverfahren: einem Gesetz aus dem Jahr 1939 zufolge dürfen neben Ärzten auch andere Personen (Heilpraktiker) die Heilkunde ausüben; diese Personen müssen älter als 25 Jahre sein, einen Hauptschulabschluss besitzen, "sittlich zuverlässig" sein und in einer Prüfung nachweisen, dass von ihnen keine Gefahr für die Volksgesundheit ausgeht.

  • Eigenschaften komplementärer Heilverfahren:
    • Selbstverständnis: verstehen sich als Gegenstück zur "Schulmedizin" und sind oft mit einer bestimmten therapeutischen Ideologie verbunden.
    • Wirksamkeit der Verfahren wird geprüft: → für einige alternative Heilverfahren lässt sich eine über den Placeboeffekt hinausgehende Wirkung nachweisen, für viele jedoch nicht.
    • Inanspruchnahme alternativer Heilverfahren v. a. durch Frauen, Personen mit höherer Bildung, Menschen mit hohem Gesundheitsbewusstsein und hoher Körpersensibilität; chronisch Kranke (v. a. Krebskranke, v. a. bei internaler Kontrollüberzeugung); Inanspruchnahme alternativer Medizin kann allerdings zu höherer psychischer Belastung führen.
    • Anwendung: v. a. bei Störungen des Befindens, als Zusatzmedikation ("sanfte Medizin", wird als nebenwirkungsarm angesehen [vgl. KUSCHINSKY: "Wenn behauptet wird, dass eine Substanz keine Nebenwirkungen zeigt, so besteht der dringende Verdacht, dass sie auch keine Hauptwirkung hat."]).
  • Motive für Inanspruchnahme komplementärer Heilverfahren:
    • Ganzheitliches Menschenbild,
    • Schlechte Erfahrungen mit der Schulmedizin, Angst vor Behandlungen im Rahmen der Schulmedizin, Distanzierung von wissenschaftlichen Ansätzen,
    • Psychische Faktoren (ein Heilpraktiker bietet mehr Zeit und Zuwendung),
    • Empfehlung durch das Laiensystem,
    • Ergänzung zur schulmedizinischen Behandlung.
  • Praxistipp: das Thema "alternative Medizin" beim Patienten offen ansprechen (Patient fühlt sich besser verstanden; der Arzt kann die Medikation besser planen).


Weblinks:  Arztbesuch,  Laienätiologie,  Somatoforme Störung,  Verzögertes Hilfesuchen,  Heilpraktiker, Unwirksame Behandlungsmethoden in der Medizin


Selbsttest:

  1. Welche Stationen durchläuft der Patient von der Wahrnehmung eines Symptoms bis zur Diagnose beim Arzt?
  2. Wovon hängt die laienätiologische Bewertung von Symptomen hauptsächlich ab?
  3. Wie groß ist der Anteil an psychischen Störungen, die in der Primärversorgung richtig erkannt werden?
  4. Welche Voraussetzungen muss ein Heilpraktiker erfüllen?



Die Patientenversorgung spielt sich unter den Rahmenbedingungen des Gesundheitsmarkts ab, wobei die Leistungen von untereinander konkurrierenden Krankenkassen vergütet werden[Bearbeiten]

Gesundheitsmarkt: Bedarf, Nachfrage, Angebot, Preis und Diskrepanzen zwischen den Marktgrößen[Bearbeiten]

Zusammenhänge von Bedürfnis, Bedarf, Nachfrage und Angebot. Aus subjektiven Bedürfnissen erwächst ein Bedarf, der sich als Nachfrage niederschlägt; zusammen mit dem Angebot bestimmt sie den Preis einer Ware. Zwischen Bedarf und Nachfrage sowie zwischen Angebot und Bedarf können Diskrepanzen entstehen.

Allgemeines:

  • Grundbegriffe:
    • Bedürfnis (subjektiv, vom Einzelnen abhängig)
    • Bedarf ("need"; Summe der mit finanziellen Mitteln befriedigbaren Bedürfnisse; objektiv, von Experten ermittelt); wird zur Nachfrage ("demand"), wenn auf dem Markt Kaufintentionen verwirklicht werden.
    • Nachfrage (Teil des Bedarfs, den sich der Mensch faktisch leistet)
    • Angebot
    • Preis: wird bestimmt durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage.

Bedarfsgerechte und nicht bedarfsgerechte Versorgung

  • Bedarfsgerechte Versorgung: Angebot entspricht dem Bedarf
  • Nicht bedarfsgerechte Versorgung: Diskrepanz zwischen Angebot und Bedarf
    • Unterversorgung: Angebot < Bedarf
      • Versorgung chronisch Kranker (Dominanz der akutmedizinischen Versorgung; zu wenige Schulungen [z. B. für Asthmatiker, Diabetiker])
      • Arterielle Hypertonie (nur in 50% der Fälle erkannt und dann oft inkonsequent behandelt),
      • Psychische Störungen (Depression: wird nur bei 50% der Fälle erkannt und dann meist inkonsequent behandelt; somatoforme Störung)
      • Psychosoziale Unterstützung von Menschen, die körperlich schwer erkrankt sind
    • Überversorgung: Angebot > Bedarf
      • Kardiologische Interventionen (z. B. immer mehr Bypass-Operationen und PTCAs, v. a. bei älteren Menschen): Ausweitung, macht sich aber nicht in günstigeren Morbiditäts- oder Mortalitätsraten bemerkbar.
      • Bildgebenden Untersuchungen (z. B. bei Rückenschmerzen)
    • Fehlversorgung: unwirksame oder sogar schädliche Behandlungen (z. B. bei Rückenschmerzen: passive Behandlung [Schonung] statt aktiver Bewegung)

Diskrepanzen zwischen Bedarf und Nachfrage (trotz Bedarf und Bedürfnis muss der Patient die Leistung noch lange nicht nachfragen):

  • Gründe für Diskrepanzen: einseitiger Fokus auf akutmedizinische Behandlungen, passive, die Wünsche des Patienten nicht berücksichtigende Behandlung von chronisch Kranken, bestimmte Merkmale des Patienten
  • Arten:
    • Over-Utilization (Nachfrage > Bedarf); Sonderform: High-Utilization (Nachfrage, obwohl kein Bedarf vorhanden): somatoforme Störung, chronische Rückenschmerzen
    • Under-Utilization (Nachfrage < Bedarf); Sonderform: "indolente Patienten" (keine Nachfrage vorhanden, obwohl Bedarf existiert)

Wechselwirkungen zwischen Angebot und Nachfrage:

  • Unerwünschte Wechselwirkungen
    • Angebotsinduzierte Nachfrage (Angebot kann Nachfrage fördern, z. B. bei hoher Arztdichte; daher: Niederlassungssperren durch kassenärztliche Vereinigungen)
    • Iatrogen induzierte Nachfrage: je mehr Spezialisten vorhanden sind, desto stärker werden sie konsultiert (aus dem finanziellen Interesse des Arztes, bspw. bei technischen Untersuchungen wie der MRT [das Gerät muss möglichst intensiv genutzt werden, damit sich die hohen Anschaffungskosten amortisieren]).
  • Gegenmaßnahmen: finanzielle/rechtliche Anreize, Restriktionen
    • Einzelleistungshonorierung (→ Zahl ärztlicher Leistungen erhöht sich [erhöhte Nachfrage bei gegebenem Angebot]) mittels Budgetierung begrenzen
    • Qualitätssicherung


Merke: Im Gesundheitsmarkt spielen Bedarf, Nachfrage und Angebot auf komplexe Weise zusammen. Dabei kann es zu Diskrepanzen kommen zwischen Angebot und Bedarf (Over- oder Under-Utilization); Nachfrage lässt sich zudem über erhöhtes Angebot oder iatrogen induzieren. Dem versucht man durch Honorarlimitierung entgegenzuwirken (Budgetierung).


Weblinks:  Angebot,  Bedarf,  Nachfrage,  Preis,  Überversorgung,  Unterversorgung,  Fehlversorgung,  Over-Utilization,  High-Utilization,  Under-Utilization,  Indolenz,  Einzelleistungshonorierung,  Budgetierung


Selbsttest:

  1. Nennen Sie Arten der nicht bedarfsgerechten Versorgung!
  2. Was versteht man unter Over-Utilization?
  3. Erklären Sie den Begriff "angebotsinduzierte Nachfrage"! Mit welcher Maßnahme versucht man gegenwärtig, sie einzudämmen?



Gesetzliche und private Krankenkassen[Bearbeiten]

Krankenkassen: Steuerung Nachfrage nach Gesundheitsleistungen mittels finanzieller und rechtlicher Anreize

  • Gesetzliche Krankenkassen (GKV, umfasst 90 % aller Versicherten): Versicherungspflicht nur bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe (Beitragsbemessungsgrenze); darüber ist die Mitgliedschaft freiwillig (d. h. man kann sich gesetzlich, privat oder gar nicht versichern).
    • Beitragshöhe gemäß Solidarprinzip: einkommensabhängige Beiträge, beitragsunabhängige Leistungen; die Reicheren unterstützen die Ärmeren (→ die Motivation zur Eigenvorsorge kann dabei aber unterminiert werden).
    • Leistungsvergabe gemäß Umlageverfahren: eingezahlte Beiträge werden umittelbar wieder ausgegeben (→ kein Aufbau eines Kapitalstocks in Zeiten des Überflusses, sondern Erweiterung des Leistungskatalogs).
    • Leistungsvergütung gemäß dem Sachleistungsprinzip (Nachteil: aufgrund der mangelnden Transparenz keine finanzielle Verantwortung des Patienten, viel eher noch "moral hazard" [Ausnutzen des Systems]); aus staatlichen und privaten Leistungen.
    • Wettbewerbsgleichheit der Krankenkassen untereinander aufgrund Risikostrukturausgleich (Krankenkassen mit günstiger Risikostruktur ihrer Versicherten unterstützen diejenigen, deren Versicherte eine schlechtere Risikostruktur aufweisen).
    • Die Kosten für die stationäre Versorgung machen den Hauptteil der Gesundheitskosten der Krankenkassen aus.
  • Private Krankenkassen (PKV):
    • Beitragshöhe gemäß Äquivalenzprinzip (d. h. der Beitrag orientiert sich wie bei der Autoversicherung am Risiko)
    • Kapitaldeckungsverfahren (Beiträge werden gespart)
    • Kostenerstattungsprinzip: Leistungen muss der Patient zunächst selbst bezahlen und bekommt sie dann erstattet (→ erhöhte Transparenz, ermöglicht gezieltere Steuerung des eigenen Inanspruchnahmeverhaltens).
Gesezliche KV Private KV
Beitragshöhe Solidarprinzip Äquivalenzprinzip
Leistungsvergabe Umlageverfahren Kapitaldeckungsverfahren
Leistungsvergütung Sachleistungsprinzip Kostenerstattungsprinzip


Merke: Von zehn Versicherten sind neun bei gesetzlichen Krankenkassen versichert. Diese funktionieren gemäß dem Umlageverfahren, es gelten das Solidar- und das Sachleistungsprinzip.


Andere Finanzierungsmodelle:

  • Semaschko-Modell (ehemalige DDR): Finanzierung der Gesundheitsversorgung aus allgemeinen Steuern; ist allerdings vom Steueraufkommen und von politischen Entscheidungen abhängig.
  • Beveridge-Modell (Großbritannien): Finanzierung aus zweckgebundenen Steuern; wegen der Knappheit der Finanzmittel (aufgrund der geringeren Ausgaben für die Gesundheitsversorgung) müssen die Gesundheitsgüter rationiert werden.
  • Markt-Modell (USA): Finanzierung aus den privaten Mitteln des Patienten; allerdings können manche Menschen teuere Leistungen nicht bezahlen; zur Zeit Umstieg auf Managed-care-Systeme (geringere Autonomie von Ärzten und Patienten).

Wettbewerb im Gesundheitswesen: wird gefördert, um Qualität zu steigern

  • Risikostrukturausgleich: Umverteilung zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, um Wettbewerbsgleichheit zu gewährleisten.
  • Freiere Wahl- und Wechselmöglichkeiten des Patienten
  • IGEL (individuelle Gesundheitsleistungen): Spezialangebote in der ambulanten Versorgung, die vom Patienten selbst bezahlt werden müssen.

Weitere Aspekte

  • Medikalisierung: Phänomene des normalen Lebens werden in den medizinischen Bereich verlagert (z. B. Anti-Aging, In-vitro-Fertilisation) → Entstehung "neuer Nachfragen" (für gewöhnliche Phänomene entsteht nun ein Leistungsbedarf); übermäßige Einnahme von Medikamenten, was gesundheitliche Probleme zur Folge hat
  • Überdiagnostik (fehleranfällig [Fehler 1. Art, Fehler 2. Art]!) aufgrund von Angst vor Kunstfehlerprozessen


Weblinks:  Krankenkasse,  Solidarprinzip,  Äquivalenzprinzip,  Sachleistungsprinzip,  Kostenerstattungsprinzip,  Umlageverfahren,  Kostenerstattung,  Risikostrukturausgleich,  Individuelle Gesundheitsleistung,  Medikalisierung,  Überdiagnostik


Selbsttest:

  1. Durch welche Prinzipien hinsichtlich Beitragshöhe, Leistungsvergabe und Leistungsvergütung sind die gesetzlichen Krankenkassen charakterisiert? Wie heißen die hierzu konträren Prinzipien der privaten Krankenkassen?
  2. Was sind die Nachteile des Beveridge- und des Markt-Modells?
  3. Wofür steht das Akronym "IGEL"?
  4. Nennen Sie ein Beispiel für Medikalisierung!



Ein Patient durchläuft während seiner Behandlung bestimmte Stufen der Gesundheitsversorgung und erwirbt dadurch eine individuelle "Patientenkarriere"[Bearbeiten]

Organisationsstruktur des deutschen Gesundheitssystems[Bearbeiten]

Stufengliederung:

  • Primärversorgung durch Primärarzt (Hausarzt; Allgemeinmediziner, praktische Ärzte, Internisten, Gynäkologen, Pädiater):
    • Bildet die erste Anlaufstation für den Patienten, ggf. Überweisung an sekundäre Versorgung;
    • Stärkung durch Hausarztmodelle (Managed Care)
    • Funktionen des Hausarztes (im Rahmen der Prävention):
      • Lotse (d. h. er ordnet die Patientendaten und steuert den Behandlungsverlauf)
      • Gatekeeper (d. h. er kontrolliert den Zugang zu anderen Gesundheitsleistungen)
  • sekundäre Versorgung: Facharzt (wenn speziellere diagnostische Verfahren und Behandlungen notwendig werden)
  • tertiäre Versorgung: spezialisierte Zentren an Universitäten


Merke: Die Gesundheitsversorgung in Deutschland umfasst drei Stufen mit zunehmender Spezialisierung: 1. Primärärzte, 2. Fachärzte, 3. Zentren.


Freie Arztwahl (in der Klinik eingeschränkt)

Die Konsultationsdauer ist abhängig vom Arztsystem (groß bei offenem Markt, klein bei Arztbezahlung nach Leistung, mittelgroß bei Gatekeeperfunktion + Entlohnung pro Patient): in Europa durchschnittlich 10,7 Minuten (Deutschland 7,6 Minuten, Schweiz 15,6 Minuten); längere Konsultationszeit bei Patienten mit psychischen Problemen

Disease-Management-Programme: Patienten mit chronischen Krankheiten werden entsprechend leitlinienartiger Konzepte behandelt (→ Anpassung der Versorgung an den Bedarf).

Patientenkarriere[Bearbeiten]

Sektorale Gliederung des Gesundheitssystems. Der Patient gelangt über die ambulante Versorgung (primärer Sektor) in die übrigen Sektoren und anschließend wieder zurück in den primären Sektor.

Sektorengliederung des deutschen Gesundheitssystems (Patientenkarriere):

  • Prinzip:
    1. ambulante Versorgung (Hausarzt)
    2. ggf. stationäre Versorgung
    3. ggf. Rehabilitation (bezahlt von Rentenversicherung [für Arbeitnehmer; Rentenversicherung ist regional untergliedert] oder Krankenkasse [für Rentner])
    4. wieder zurück in ambulante Versorgung
  • Probleme:
    • Für den Patienten ist das System wenig transparent.
    • Es exisitieren Schnittstellenprobleme (Probleme z. B. bei Informationsweitergabe [verzögerte Ausgabe von Arztbriefen nach Entlassung aus dem Krankenhaus]).
    • Der stationäre Sektor hat die höchsten Krankheitskosten (denn Patienten beanspruchen immer mehr Leistungen).


Merke: Ein (chronisch kranker) Patient durchläuft eine Patientenkarriere, die vom Hausarzt ("Lotse und Gatekeeper") gesteuert wird: ambulante Versorgung → evtl. stationäre Versorgung → evtl. Rehabilitation.


Weblinks:  Primärarzt,  Hausarzt,  Disease-Management,  Sektorengliederung


Selbsttest:

  1. Nennen Sie die drei Stufen der medizinischen Versorgung!
  2. Die europaweit durchschnittliche Konsultationsdauer beim Primärarzt beträgt etwa 10 Minuten. Liegt die deutschlandweite durchschnittliche Konsultationsdauer darüber oder darunter?
  3. Beschreiben Sie die sektorale Gliederung des deutschen Gesundheitssystems!



Mittels verschiedener Methoden soll die Qualität der Behandlung in allen drei Dimensionen verbessert werden[Bearbeiten]

Qualität im Gesundheitssystem[Bearbeiten]

Definition: Qualität = Güte eines Gegenstands

Dimensionen der Qualität. Strukturqualität umfasst die Güte der Rahmenbedinungen einer Leistung, Prozessqualität die der Leistungserbringung und Ergebnisqualität die des Ergebnisses.

Dimensionen der Qualität im Gesundheitssystem

  • Qualität im Gesundheitswesen = "das Ausmaß, in dem Gesundheitsleistungen die Wahrscheinlichkeit gewünschter gesundheitlicher Behandlungsergebnisse erhöhen und mit dem gegenwärtigen professionellen Wissensstand übereinstimmen" → eine Gesundheitsleistung ist qualitativ hochwertig, wenn sie (1) wirksam, (2) qualifiziert, (3) bedarfsgerecht und (4) wirtschaftlich ist.
  • Qualitätsdimensionen:
    • Strukturqualität: Qualität der Rahmenbedingungen einer Leistung
    • Prozessqualität: Qualität des Leistungsablaufs
    • Ergebnisqualität: Qualität des Ergebnisses


Merke: Man unterscheidet drei Arten von Qualität: Strukturqualität (Wie ist der Kontext der Leistungserbringung zu beurteilen?), Prozessqualität (Wie ist die Art und Weise zu beurteilen, mit der die Leistung erbracht wird?) und Ergebnisqualität (Wie ist das Resultat der Leistung zu beurteilen?).


Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle[Bearbeiten]

Qualitätssicherung (QS)

  • Ziel: die Qualität der gegenwärtigen Versorgung zu einem bestimmten Zielwert hin verbessern und dabei die Abläufe transparent, überprüfbar und korrigierbar machen.
  • Externe und interne QS: ergänzen sich gegenseitig
    • Externe QS: eine externe Institution überprüft das Handeln einer Institution und ergreift ggf. bestimmte Maßnahmen.
    • Interne QS: die eigene Institution bemüht sich selbst darum, die Qualität zu optimieren.
  • Mögliche Probleme:
    • Allgemein:
      • Konflikte zwischen Qualität und wirtschaftlicher Effizienz
      • Konflikte zwischen Qualität und Zufriedenheit von Patienten
    • Bei externer QS:
      • Mitarbeiter fühlen sich kontrolliert
      • Erhöhter Arbeitsaufwand
      • Bei fehlender Akzeptanz (wenn z. B. Mitarbeiter nicht genügend in die Konzeption der QS einbezogen werden): ggf. Verfälschung ("Frisieren") von Daten


Merke: Bei der Qualitätssicherung unterscheidet man externe und interne Qualitätssicherung. Beide können mit Problemen verknüpft sein.


Qualitätsüberprüfung:

  • Peer-Review (extern): Beurteilung durch unabhängige Gutachter (Kollegen: "peers")
  • Qualitätszirkel (intern): geleitete Gesprächsgruppe, bei denen die Mitarbeiter berufsspezifische Probleme zur Sprache bringen
  • Supervision: Mit Unterstützung eines Supervisors werden einzeln oder in der Gruppe berufliche Probleme besprochen und Lösungswege erarbeitet (z. B. Balintgruppen); externe und interne Qualitätskontrolle, Supervisor reflektiert mit Supervisanden die Praxis.
  • Organisationsentwicklung (Verbesserung der Arbeit einer Organisation) und Personalentwicklung (Verbesserung der Fähigkeiten von Mitarbeitern [Höherqualifizierung])
  • Fragebogen an Patienten (Patientenurteil als wichtiger Indikator für die Qualität einer Behandlung): Patienten werden gefragt, wie sehr sie mit bestimmten Behandlungsmaßnahmen zufrieden sind.
    • Dimensionen des Fragebogens:
      • Strukturqualität: Zufriedenheit mit organisatorischen Leistungen und technischer Qualität, Umgebung und "Hotelleistungen"
      • Prozessqualität: Zufriedenheit mit dem kommunikativen, zwischenmenschlichen Verhalten und mit Art und Umfang der erhaltenen Informationen
      • Ergebnisqualität: Zufriedenheit mit Effizienz und Effektivität der Behandlung
        • Bewertung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (= subjektive Wahrnehmung des eigenen Gesundheitszustandes)
        • QUALY (= qualitätsangepasste Lebensjahre, Quotient aus Lebensqualität und Lebenserwartung)
    • Probleme
      • Ergebnisse der Befragungen sind meist nur bedingt aussagekräftig: Zufriedenheitswerte fallen generell recht hoch aus (Milde-Effekt) und hängen von den Eigenschaften des Patienten (v. a. Alter: ältere Patienten sind zufriedener als jüngere) stärker ab als von der Einrichtung und dem Kontakt mit den behandelnden Ärzten.
      • Zufriedenheit mit der Behandlung hängt nicht vom objektiven Behandlungsergebnis ab, sondern von der subjektiven Bewertung des Behandlungsergebnisses (Patient ist zufriedener, wenn seine Erwartungen an die Behandlung erfüllt worden sind); Zufriedenheit ist aber eng mit Compliance verknüpft!


Merke: Mögliche Methoden, mit denen sich die Qualität von Struktur, Prozess und Ergebnis kontrollieren lässt, sind Peer-Review, Qualitätszirkel, Supervision, Organisations- und Personalentwicklung sowie Patienten-Fragebögen.


Kostendruck und Qualitätswettbewerb: Wettbewerb soll zu höherer Qualität führen; organisatorischer Wandel aufgrund Rationalisierungsmaßnahmen und Effizienzsteigerungen

  • Kostendruck steigt (→ für Patienten und Kliniken spürbar) → organisatorischer Wandel des Gesundheitswesens notwendig (z. B. bei stationärer Behandlung: Abschaffung der Tagessätze, Einführung von Fallpauschalen [DRGs]; intensivere Selbstbeteiligung der Patienten).
  • Kostendruck führt bei Patienten zu höherer Erwartungshaltung → höherer Qualitätswettbewerb (Qualitätsvergleich mehrerer Kliniken).

Managed Care (aus USA): der Kostenträger führt den Patienten durch definierte Behandlungs-"Haltestellen" (weniger Wahlfreiheit des Patienten, v. a. Einschränkung der freien Arztwahl: Ärzte und Kliniken, die eine bestimmte Strukturqualität aufweisen, werden als Vertragspartner engagiert, so dass ein Behandlungsnetz entsteht; der Hausarzt dient dabei als Gatekeeper) → Optimierung von Qualität, Kosten und Krankenhausverweildauer


Weblinks:  Qualität,  Strukturqualität,  Prozessqualität,  Ergebnisqualität,  Qualitätssicherung,  Peer-Review,  Qualitätszirkel,  Supervision,  Managed Care,  DRG


Selbsttest:

  1. Erklären Sie die Begriffe "Ergebnisqualität", "Strukturqualität" und "Prozessqualität"!
  2. Ein Mann berichtet von seinem Krankenhausaufenthalt: "Die Ärzte waren zwar nicht sehr gesprächig, dafür aber recht freundlich und geduldig. Das konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Krankenhaus veraltet ist – die Röntgenanlage etwa schien aus der Zeit vor dem ersten punischen Krieg zu stammen. Egal, jedenfalls kann sich das Ergebnis der Operation sehen lassen! Allerdings hätte ich mir doch gewünscht, die Ärzte hätten mir zumindest die Diagnose mitgeteilt..." Ordnen sie die verschiedenen Aspekte den Dimensionen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zu!
  3. Überlegen Sie, welche negativen Auswirkungen externe Qualitätssicherung haben kann!
  4. Was ist ein Peer-Review, was eine Balintgruppe?
  5. Erläutern Sie grob das Konzept des Managed Care!



Zusammenfassung[Bearbeiten]

Die Entscheidung zur Konsultation eines Arztes fällt oft nicht leicht und ist von vielen Faktoren abhängig. Menschen suchen also nicht sofort einen Arzt auf, sobald sie Beschwerden haben; sie tun dies stattdessen meist erst dann, wenn sie das Symptom als belastend erleben und mit Hilfe des Laiensystems nicht hinreichend beheben können. Oftmals entsteht dadurch eine Verzögerung (Delay), die bei bestimmten Krankheiten lebensbedrohlich sein kann. Der weitaus größte Teil der Beschwerden ist allerdings nur von relativ kurzer Dauer und oftmals harmlos. Dennoch sollte man bedenken, dass es sich bei körperlichen Symptomen um somatische Begleiterscheinungen von psychischen Erkrankungen oder um die Manifestation einer somatoformen Störung handeln kann.

Im Gesundheitsmarkt herrscht ein Zusammenspiel von Angebot, Bedarf und Nachfrage. Diese Größen stehen miteinander in Einklang – oder nicht. Bei Diskrepanzen zwischen Angebot und Bedarf liegen Unter-, Über- oder Fehlversorgung vor. Bei Nichtübereinstimmung von Nachfrage und Bedarf spricht man von Under- oder Over-Utilization. Das Angebot kann zudem die Nachfrage beeinflussen, was man mittels Budgetierung zu verhindern versucht. Die Leistung wird in den meisten Fällen von gesetzlichen oder privaten Krankenkassen vergütet. In den gesetzlichen Krankenkassen herrschen das Solidaritätsprinzip, das Prinzip der unmittelbaren Umlage eingezahlter Beiträge und das Sachleistungsprinzip; in den privaten Krankenkassen gelten dagegen Grundsätze, die zu den genannten Prinzipien der gesetzlichen Krankenkassen in konträrem Gegensatz stehen. Mittels verschiedener Maßnahmen wird zudem versucht, den Wettbewerb im Gesundheitswesen zu befördern.

Das Gesundheitssystem weist zum einen eine Stufengliederung mit zunehmender Spezialisierung pro Stufe auf: Primärarzt, Facharzt, universitäres Zentrum. Zum anderen ist es sektoral gegliedert, das heißt, die "Patientenkarriere" beginnt im ambulanten Sektor und wird danach gegebenenfalls im stationären Sektor und hierauf eventuell in der Rehabilitation fortgeführt. Allerdings gibt es hierbei oftmals Kommunikationsschwierigkeiten (Schnittstellenproblematik) und andere Probleme.

Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle sind erforderlich, um eine gute Versorgung zu gewährleisten. Man bezieht sich hierbei auf die Dimensionen Struktur, Prozess und Ergebnis. Die Qualitätssicherung kann intern oder extern erfolgen, wobei es zu Reibungen zwischen einem hohen Qualitätsstandard und anderen Zielen (Effizienz, Patientenzufriedenheit) kommen kann; es besteht daher die Gefahr der Manipulation. Methoden der Qualitätsüberprüfung sind Maßnahmen wie Peer-Reviews, Qualitätszirkel, Supervision oder von Patienten beantwortete Fragebögen, deren Validität jedoch aufgrund von Verzerrungseffekten oftmals eingeschränkt ist. Durch verstärkten Wettbewerb versucht man, auch die Qualität innerhalb medizinischer Institutionen zu fördern.


Wichtige Prüfungsthemen (alphabetisch geordnet, näher erläutert im Glossar): Balintgruppe, Fallpauschale (DRG), Hausarzt als Lotse und Gatekeeper, induzierte Nachfrage (angebotsinduziert, iatrogen induziert), Krankenkassen und ihre Organisationsprinzipien (GKV: Solidarprinzip, Umlageverfahren, Sachleistungsprinzip), Laienätiologie, Managed Care, Medikalisierung, Over-Utilization und Under-Utilization, Qualitätsdimensionen (Struktur-, Prozess-, Ergebnisqualität)