Islam: Sufismus
Wie jede Religion besitzt auch der Islam einen äußeren (exoterischen) sowie einen inneren (esoterischen) Aspekt. Der innere Aspekt, also die sogenannte Mystik, wird im Islam Sufismus (Arabisch: tasawwuf) genannt, eine Bezeichnung für die Anhänger ist Sufi, eine im Westen sicherlich bekanntere auch Derwisch.
Einleitung
[Bearbeiten]Die meisten Sufis glauben, dass in allen Religionen eine grundlegende Wahrheit zu finden ist und dass die großen Religionen von ihrem Wesen/Geist her dasselbe sind. Muzaffer Efendi, ein Sufi-Meister des 20. Jahrhunderts, beschrieb die Religion einmal als einen Fluss, der durch viele Länder fließt. Jedes Land gibt diesem Fluss einen anderen Namen und beansprucht diesen womöglich auch noch für sich. Dabei ist der Fluss aber eigentlich unabhängig von den Ländern und entspringt darüberhinaus auch einer Quelle.
Für die Sufis besteht der Weg zu Gott im Allgemeinen aus vier Stufen:
- Scharia (das islamische Gesetz)
- Tariqa (der mystische Weg)
- Haqiqa (die Wahrheit)
- Marifa (die Erkenntnis)
Dabei dient die Scharia dem Sufi "nur" als Voraussetzung für die weiteren Stufen, sie bildet also gewissermaßen die Basis. Es wird aber auch deutlich gesehen, dass diese Basis nicht das Ziel der Reise ist, sondern lediglich als ein Werkzeug dient.
Der bekannte Mystiker Ibn Arabi (gest. 1240) aus Murcia (Spanien) beschreibt die vier oben genannten Stationen folgendermaßen: Auf dem Niveau von Scharia gibt es “dein und mein“. Das heißt, das religiöse Gesetz regelt die individuellen Rechte und ethischen Beziehungen zwischen den Menschen. Auf dem Niveau von Tariqa “ist meins deins und deins ist meins“. Von den Sufis wird erwartet, dass sie sich gegenseitig als Brüder und Schwestern behandeln, den jeweils anderen an seinen Freuden, seiner Liebe und seinem Eigentum teilhaben lassen. Auf dem Niveau der Wahrheit (Haqiqa) gibt es “weder meins noch deins“. Fortgeschrittene Sufis erkennen, dass alle Dinge von Gott kommen, dass sie selbst nur die Verwalter sind und in Wirklichkeit nichts besitzen. Diejenigen, die die Wahrheit erkennen, interessieren sich nicht für Besitz und Äußerlichkeiten im Allgemeinen, Bekanntheit und gesellschaftlichen Stand inbegriffen. Auf dem Niveau der Erkenntnis (Marifa) gibt es “kein ich und kein du“. Der einzelne erkennt, dass nichts und niemand von Gott getrennt ist. Dies ist quasi das oberste Ziel des Sufismus und in weiterem Sinne auch des Islam.
Der Sheikh
[Bearbeiten]In der sufischen Tradition ist es wichtig, dass das Wissen durch eine „lebendige Linie“ übertragen wird. Deswegen ist es für einen Derwisch unerläßlich, sich der geistigen Führung eines Lehrers (Sheikh) anzuvertrauen, der durch eine Überlieferungskette (Silsila) bis über den Propheten Muhammad mit der göttlichen Wissensquelle verbunden ist.
Der Sheikh leitet in gemeinsamen Zusammenkünften mit seinen Derwischen nicht nur den Dhikr, also Zeremonien, bei denen Gott auf die verschiedenste Art und Weise angerufen und gepriesen werden kann, sondern er gibt jedem seiner Schüler meist auch individuelle spirituelle Übungen, die dem Stand des einzelnen Derwisch entsprechen.
Der Weg
[Bearbeiten]Im Sufismus wird oft das Symbol der Rose gebraucht. Diese stellt die oben genannten Stufen auf dem Weg eines Derwisch folgenderweise dar: Die Dornen stehen für die Scharia, das islamische Gesetz, der Stängel ist Tariqa, der Weg. Die Blüte gilt als Symbol für Haqiqa, der Wahrheit, die schließlich den Duft, Marifa, die Erkenntnis, in sich trägt.
Hierbei lässt sich folgende Sichtweise der Sufis erkennen: Die Dornen schützen den Stängel, ohne sie könnte die Rose leicht von Tieren angegriffen werden. Ohne den Stängel haben die Dornen alleine aber auch keinerlei Bedeutung; man sieht hier also deutlich, dass die Sufis Schari'a und Tariqa unbedingt als zusammengehörig betrachten. Der Stängel ohne Blüte wäre nutzlos, und auch eine Blüte ohne Duft hätte keinen Zweck. Der Duft alleine ohne die Rose hätte aber ebenfalls keine Möglichkeit zu existieren.
Im Sufismus haben sich seit dem 12. Jahrhundert hunderte von Sufi-Orden (Tariqa, pl. Turuq) gebildet, die im eigentlichen Sinne den Weg zu Gott darstellen (wie schon in der Einleitung erwähnt, bedeutet "Tariqa" der "mystische Weg"). Es ist bemerkenswert, dass diese Orden, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sich gegenseitig respektieren, denn sie haben alle das selbe Ziel. Man kann es vielleicht so sehen, dass das ganze Gebilde wie ein Wagenrad ist, dessen Achse das Ziel darstellt. Der äüßere Teil des Rades steht für Scharia, die quasi den ganzen Rahmen zusammenhält. Die einzelnen Streben sind demnach die Tariqas, die Orden, wobei jede für sich steht, aber doch gemeinsam und als stabiles Gefüge zur Mitte hin führen.
Die Liebe
[Bearbeiten]Der Mittelpunkt der sufischen Lehre ist die Liebe (arabisch Hubb, 'aschq, muhabba), die immer im Sinne von Hinwendung (zu Gott) zu verstehen ist. Die Sufis glauben, dass sich die Liebe in der Projektion der göttlichen Essenz auf das Universum ausdrückt. Dies läßt sich oftmals in den „berauschten“ Gedichten vieler islamischer Mystiker erkennen, die die Einheit mit Gott und die Gottesliebe besingen. Da diese poetischen Werke meist mit Metaphern durchsetzt sind, wurden sie in der Geschichte oft von islamischen Rechtsgelehrten argwöhnisch betrachtet. In ihren Augen haben sie ketzerische Aussagen, wenn beispielsweise der Suchende vom „Wein“ berauscht ist; wobei in der Symbolik des Sufismus der Wein für die Liebe Gottes steht, der Sheikh für den Mundschenk und der Derwisch für das Glas, das mit der Liebe gefüllt wird, um zu den Menschen getragen zu werden.
Al-Ghazali (gest. 1111) bezeichnet die Liebe zu Gott als die höchste der Stationen und sogar als das eigentliche Endziel der Stationen auf dem Weg zu Gott. Er sagt, dass nur Gott allein der Liebe würdig ist; die Liebe zu Muhammad nennt er jedoch als lobenswert, weil sie nichts anderes ist, als die Liebe zu Gott. Die Liebe zu den Gottesgelehrten und Frommen erwähnt er ebenfalls als lobenswert, denn „man liebt diejenigen, die den Geliebten lieben“.
Als im Jahr 1926 Kemal Atatürk die Türkische Republik ausrief, verbot er gleichzeitig das religiöse Leben in der Öffentlichkeit. Für die Derwisch-Zentren hatte das ebenfalls zur Folge, dass sie geschlossen werden mußten. Viele von ihnen agierten zwar im Geheimen weiter, aber die Situation war alles andere als rosig, verglichen mit der osmanischen Zeit. Trotzdem erkannten manche Sufis, dass dieser Schritt von Atatürk eigentlich schon fast ein Segen für den Islam war. Während er von Seiten der orthodoxen Muslime angefeindet wurde, erklärten die Sufis, dass durch das Religionsverbot in der Öffentlichkeit der Islam gewissermaßen eine Reinigung erfuhr, denn diejenigen, die ihren Glauben lebten, konnten dies weiterhin tun, denn sie trugen ihren Glauben im Herzen. Diejenigen, die den Islam vorher nur aus gesellschaftlichen Zwängen ausüben mußten, damit sie nicht unangenehm auffielen, konnten endlich so leben, wie sie es wollten, sie mußten niemandem mehr etwas vorheucheln.
Und für den Sufi, der die Liebe Gottes in seinem innersten Herzen trägt, ist es vollkommen egal, auf welche Art und Weise er sich kleiden darf oder muß, und ob die Gesellschaft, in der er lebt, offiziell muslimisch ist oder nicht. Die Religion wurde für ihn durch den Erlaß von Atatürk wieder eine Sache des Herzens, er hat also in gewisser Hinsicht dem Islam einen guten Dienst erwiesen.