Martin Heidegger „Sein und Zeit“/ Viertes Kapitel §§ 25–27

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Kritik des cartesischen Subjektivismus. Zweitens: Destruktion des Subjekts als einzelnes
In diesem Abschnitt folgt der zweite Teil der Destruktion des cartesischen Subjektivismus. Hatte Heidegger zuvor versucht zu zeigen, dass es sinnlos ist von einem selbstgenügsamen Subjekt auszugehen, welches dann einen Zugang zur Welt und den Objekten zu finden hat, so konzentriert er sich nun auf eine in seinen Augen weitere Verfehlung Descartes: die Vorstellung eines Subjekts als von allen sozialen und zwischenmenschlichen Bindungen unabhängig seienden. Heidegger eröffnet den Abschnitt hierzu mit der Frage nach dem Wer? des Daseins. Gegen die nahe liegende Antwort ich wird Heidegger versuchen zu zeigen, dass das Dasein in seiner Alltäglichkeit gerade nicht eigentlich es selbst ist.[1]

Da Dasein nicht als Vorhandenes verstanden werden kann, darf die Frage nach dem Wer? nicht mit einer Essenz des Daseins, nicht mit einem Kern des Daseins beantwortet werden. Dasein ist nur, indem es existiert, also als Lebensvollzug, weshalb Heidegger die der ontologischen Tradition entspringenden Begriffe Essenz und Existenz gleichsetzt. Das Wesen des Daseins besteht somit darin, dass es als Möglichkeit ist: „die Substanz des Menschen ist nicht der Geist als die Synthese von Seele und Leib, sondern die Existenz“.[2]

Mit- und Selbstsein: Der Andere ist immer schon da
Dasein ist nie alleine, als isoliertes Ich ohne die Anderen. Im Laufe der Untersuchung wird sich erweisen, dass dieses Mitsein und Mitdasein grundsätzlich die Möglichkeit des Selbstseins bestimmen.[3] Daher schließt Heidegger zunächst eine Analyse dieser beiden Bereiche an. Die Anderen begegnen durch den zuhandenen, umweltlichen Zeugzusammenhang: so verweist zum Beispiel das verankerte Boot am Strand auf seinen Besitzer. Die Anderen sind nicht bloß zusätzlich vorhanden, sondern immer auch und mit da.[4] Auch meint, dass das Dasein die Anderen ebenfalls als Dasein versteht, ihr Sein als In-der-Welt-Sein begreift. Das Mit ist ein Existenzial und besagt, dass das Dasein sich gerade nicht von den Anderen unterscheidet, so nämlich, dass eine Brücke von isoliertem Subjekt zu Subjekt zu schlagen wäre: Mitsein lässt die Anderen immer als anderes Mitdasein begegnen, nie als zunächst nur Vorhandene. Mitsein meint also nicht ein summatives Vorkommen noch anderer Subjekte.

Da das Sein des Daseins als Sorge bestimmt wurde, gründet hierin auch das Mitsein: das Verhältnis zu Anderen fasst Heidegger in der Fürsorge. Sie umfasst auch die Modi der Defizienz (z. B. Wider-einandersein) und der Indifferenz (Einander-nichts-angehen).[5] Positive Fürsorge kann weiterhin in zwei Formen auftreten, sie kann für den anderen einspringen, dem Anderen die Sorge abnehmen, dies führt für diesen jedoch zur Abhängigkeit, oder aber sie kann für den Anderen vorspringen, sodass sie nämlich dem Anderen hilft, für seine eigene Sorge frei zu werden. Wie zum Besorgen die Umsicht gehörte, so eignet der Fürsorge die Rücksicht und Nachsicht. Mitsein ist somit umwillen Anderer, Besorgen umwillen seiner selbst.[6]

Das Man als das Wer des alltäglichen Daseins
Mit dem Terminus Man fasst Heidegger den kulturellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund des Daseins. Der Mensch ist als kulturelles Wesen stets auf ein Überlieferungsgeschehen angewiesen und durch dieses bestimmt. Die Summe der kulturellen und gesellschaftlichen Normen und Verhaltensweisen nennt Heidegger Faktizität. Von ihr kann niemals abgesehen werden, da sie wesentlich zum Mensch als kulturelles Wesen gehören. Wird dem Dasein seine Bestimmung durch die Tradition jedoch nicht bewusst, so ist es den vorgegebenen Verhaltensmustern und Anschauungen ausgeliefert. Diesen Zustand des Ausgelieferseins nennt Heidegger uneigentlich.[7]

Heidegger hat nun andererseits den Menschen als Möglichkeit bestimmt: was ihn ausmacht, ist seine Existenz. Allerdings ist unser Verständnis der Möglichkeiten zunächst durch die Anderen bestimmt. Sie nehmen dem Dasein das Sein ab, Dasein steht in der Botmäßigkeit der Anderen.[8] Die Anderen sind hierbei niemand Spezielles und so lautet die Antwort auf die Frage, wer das Daseins in seiner Alltäglichkeit ist: das Man.

„Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht.“

Das Man wacht über jede sich vordrängende Ausnahmen:

„Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung nennen wollen“.[9]

Diese Funktion des Man bezeichnet Heidegger als Öffentlichkeit. Das Man übernimmt zudem die Verantwortung für das Dasein, denn das Dasein kann sich stets auf es berufen: Das macht man so. Heidegger formuliert scharf: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“

Das Man hat auch auf die Entwicklung der philosophischen Tradition seine Auswirkung, denn es bestimmt das vorontologische Verständnis des Daseins, d. h. die Auslegung des Sinns des Seins, als auch seine ontologische Auffassung des Daseins als aus der Welt heraus verstanden.[10]

Der uneigentlichen Fremdbestimmung stellt Heidegger das eigentliche Selbstsein als existentielle (nicht existenziale) Modifikation des Man entgegen. Hierzu analysiert Heidegger im folgenden Abschnitt die drei dem In-sein zugeordneten Existenzialien Befindlichkeit, Verstehen und Rede. In dem Bestreben, ein authentisches Leben zu führen, kann das Dasein, so Heidegger, nur im Rahmen dieser Existenzialien bleiben, sie konstituieren ja das Menschsein. Allerdings ist es ihm möglich, sich zu ihnen zu verhalten und so eine Modifikation ihrer vom uneigentlichen hin zum eigentlichen zu vollziehen.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Vgl. SZ, Seite 115
  2. SZ, Seite 117
  3. Vgl. SZ, Seite 116
  4. Vgl. SZ, Seite 118
  5. Vgl. SZ, S. 121
  6. Vgl. SZ, S. 123
  7. Vgl. SZ, Seite 129
  8. Vgl. SZ, Seite 126
  9. SZ, Seite 127
  10. Vgl. SZ, Seite 130