Martin Heidegger „Sein und Zeit“/ Zweites Kapitel §§ 54–60
Heidegger hat soweit fast nur von der Uneigentlichkeit des Daseins gesprochen. Es steht nun aus zu zeigen, wie das Dasein zu einer eigentlichen, d. h. authentischen Lebensführung kommen kann. Mehr noch als in anderen Kapiteln könnte man hier den Begriff des Daseins mit dem der Person ersetzen, denn die Eigentlichkeit wird sich als eine besondere Form des personalen Selbstbezugs erweisen. Dabei ist Heidegger nicht so sehr die metaphysische Frage wichtig was eine Person ist, sondern die phänomenologische wie es ist eine Person zu sein. Heidegger wird es vermeiden dazu an irgendeiner Stelle zu sagen, was man soll, darf oder muss und er wird auch nicht zur Eigentlichkeit aufrufen. Gleichwohl er das Verhältnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit nicht bewertet, werden von ihm zur Beschreibung Begriffe benutzt, die eine wertende Konnotation haben. Dies jedoch deshalb, weil eine phänomenologische Beschreibung die Dinge so beschreiben muss, wie sie sich dem Dasein zeigen.[1]
Eigentliches Seinkönnen
Gesucht wird ein eigentliches Seinkönnen des Daseins, genauer: ein eigentliches Selbstseinkönnen. Das Selbst ist eine Weise, zu existieren, so nämlich, dass das Dasein der „Herrschaft des Man“ entrissen wird. Dieses Sich-zurückholen aus dem Man wird als Nachholen einer Wahl geschehen, als Wählen der Wahl, d. h. das Dasein selbst wählt sein Seinkönnen und wird hierin nicht mehr durch das Man bestimmt.[2] Heidegger wurde wegen dieser Betonung der Wahl häufig der Vorwurf gemacht, seine Philosophie sei dezisionistisch, d. h. es käme nur noch auf die Entscheidung an sich an, nicht mehr auf ihren Inhalt. Daher auch der bekannte Witz, der zwischen Heideggers Seminarteilnehmern in Marburg kursierte: „Wir sind ja alle so entschlossen, wir wissen nur noch nicht wozu.“[3] Allerdings ist das was Heidegger mit Entschlossenheit meint (siehe weiter unten) kein leerer Pathos, sondern es geht mit dem Entschluß, den eine Person trifft, stets etwas einher, wozu sie sich entschlossen hat.[4]
Dies geschieht nicht abgelöst vom Rest der Gesellschaft, deshalb handelt es sich nicht um einen einsamen Heroismus oder gar Solipsismus. „Auch der Entschluß bleibt auf das Man und seine Welt angewiesen […]. Der Entschluß entzieht sich nicht der ‚Wirklichkeit‘ sondern entdeckt erst das faktisch Mögliche, so zwar, dass er es dergestalt, wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist, ergreift.“[5] Das heißt es geht nicht darum, dass die Person (das Dasein) aussteigt, sondern sich die in den gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen bestehenden Möglichkeiten souverän aneignet. Uneigentlichkeit bedeutet dementsprechend, dass sich das Dasein in seinem Handeln einzig darauf verläßt was nach Regeln und Gebräuchen üblich ist.
Heidegger muss nun erklären, wie es überhaupt möglich ist, dass das Dasein eigentlich wird. Das Vorgehen läßt sich wie folgt zusammenfassen: Eine zentrale Rolle für die Eigentlichkeit spielt das Gewissen. Das Gewissen hat erschließende Funktion und äußert sich im Ruf, dieser ist Anruf des Daseins durch es selbst. Das Dasein ruft sich selbst an, so nämlich, dass es sich aufruft zum eigentlichen Selbstseinkönnen. Heidegger legt dabei eine sehr eigene Interpretation dessen vor, was das Gewissen ist, welche er dadurch bewähren möchte, dass sich das ‚vulgäre‘ Gewissensverständnis aus ihr ableiten lässt. Dem Ruf des Gewissens, welcher sich an das Dasein richtet, entspricht eine Art, ihn zu hören, nämlich das Gewissen-Haben-Wollen, hierin liegt das Wählen der Wahl als Entschlossenheit[6]
Gewissen und Ruf
Das Gewissen ist für Heidegger nicht eine ‚innere Stimme‘, wie etwa die Gottes, der Gesellschaft oder die der Erziehungsberechtigten. Diese würden ja nur Handlungsmaximen und Regeln mitteilen, welchen zu folgen ist – damit wäre jede Möglichkeit der freien Persönlichkeit verbaut. Der Ruf des Gewissens ist nicht auf etwas konkretes weltliches hin orientiert. Heidegger läßt die konkrete Bestimmung leer, einzig relevant ist der aufrufende Charakter des Gewissens. Heidegger versteht unter dem Gewissen also etwas, dass das Dasein in Aufmerksamkeit versetzt: Das Dasein verläßt sich im alltäglichen Besorgen auf die durch das Man ausgewiesenen Wege. Es ‚hört‘ auf die durch das Man angebotenen Möglichkeiten. Damit überhört es sich jedoch selbst. Erst der Ruf durchbricht das Hinhören auf das Man. Der Ruf rüttelt auf.[7] Er macht das Dasein aufmerksam auf sich.
Es bleibt die Frage, wen der Ruf trifft. Der Ruf richtet sich an das Selbst, indem er das Man übergeht – jedoch ist das Selbst nicht ein aufregendes Innenleben, noch weniger drängt der Ruf das Selbst in ein Inneres, wo es sich nach außen hin abschließt. Das Selbst ist einzig in der Weise des In-der-Welt-Seins.[8] Das Gewissen ruft, aber es ruft nicht etwas zu, das zu tun oder befolgen wäre, sondern es ruft auf. Da es nichts zuruft, erfolgt sein Ruf als Schweigen. Die Stille zwingt das Selbst eigens in die Verschwiegenheit und unterbricht das Gerede des Man. Damit ist klar, dass das Gewissen nicht die verinnerlichte Stimme von gesellschaftlichen Institutionen sein kann, es kann ja gerade sein, dass sich die ‚Gewissensentscheidung‘ gegen jegliche Institution wendet. (Wie z. B. Luthers „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“[9])
Heideggers ‚Metapher‘ des Rufs folgend, wurde soweit geklärt, wen der Ruf trifft (das Selbst) und was der Ruf zuruft (nichts, denn er ruft lediglich auf). Offen bleibt wer ruft. Es sind nicht die gesellschaftlichen Regeln und Gesetze, die einen als verinnerlichte Autorität anrufen, wer aufruft ist das Daseins selbst, das sich aufgrund seiner „Sorge“ im Umgang mit den gesellschaftlichen Institutionen gewahr wird, dass es doch noch ‚etwas anderes geben muß‘, als sich einfach auf die vorhandenen Vorgaben zu verlassen. Damit zeigt sich der Ruf als „Ruf der Sorge.“
Der Ruf kommt nicht vom Man und ruft das Dasein nicht in den Betrieb, es ist das „im Grunde seiner Unheimlichkeit befindende Dasein“, das „ursprünglich geworfene In-der-Welt-sein, das nackte Daß im Nichts der Welt“ welches das Dasein anruft.[10] Es ist verständlich, dass dieser Ruf das Man befremdet, ihm als fremde Stimme erscheint. Wenn es aber das „nackte Daß“ ist, das ruft, dann erklärt dies andererseits warum der Ruf inhaltsleer ist: dem Dasein, der Person, wird eine allgemeine Struktur seiner Existenz bewusst, die sich auf nichts Konkretes bezieht.
Die meisten Erklärungen des Phänomens des Gewissens scheinen sich darin einig zu sein, dass das Gewissen eine Schuld zu verstehen gibt. Was für Heidegger also zu klären bleibt, ist der Zusammenhang von Gewissen und Schuld. Obwohl der Ruf des Gewissens nichts Konkretes zuruft, keine Handlungsanweisung, ist er, so Heidegger, trotz allem eindeutig. Missverstehen kann ihn das Dasein erst, wenn es ihn in einem verhandelnden Selbstgespräch mit dem Man verkehrt.[11] Das wirft außerdem die Frage auf, wie das Dasein den Ruf angemessen verstehen kann.
Anrufverstehen und Schuld
Wenn das Gewissen nichts konkretes zuruft, so wird auch die Schuld von welcher es spricht keine konkrete Verfehlung der Person sein. Heidegger möchte deshalb zunächst die besondere Art der Schuld klären:[12] Man könnte Schuld als Schulden haben auffassen, oder als schuld sein an, jedoch das wäre stets eine Schuld gegenüber Anderen. Heidegger möchte hingegen ein noch grundlegenderes Schuldverständnis entwickeln. Hierzu formalisiert er die Idee der Schuld soweit, dass Schuld zunächst nicht heißt, sich an den Anderen schuldig zu machen. Heidegger findet eine Bestimmung der Schuld, die der Schuld gegenüber Anderen vorgelagert ist, als „Grundsein einer Nichtigkeit“[13] Damit meint er, dass es zur Seinsweise von Personen gehört, dass sie sich für bestimmte Möglichkeiten entscheiden und andere auslassen. Wenn man eine Möglichkeit realisiert, macht man sich an den ausgelassenen schuldig, diese sind „nichtig“, was bei Heidegger nicht ‚unwichtig‘ bedeutet, sondern dass sie nicht sind.
Die Schuld ist für Heidegger kein Mangel des Daseins, sondern gehört zum Personsein dazu, weshalb Heidegger sagt, Dasein ist ursprünglich schuldig. Das Dasein ist in diese Struktur geworfen, es konnte sich nicht aussuchen, ob es „auf die Welt kommt“, es ist nicht selbst Grund seines Daseins. Trotzdem hat es nun sich selbst als Person zu übernehmen, es muss ja ständig Entscheidungen treffen.
Heidegger kann nun für den vollständigen Charakter des Rufs resümieren: Er ist vorrufender Rückruf, denn er stellt das Dasein vor die Möglichkeit, sich selbst zu ergreifen, er ruft zurück in die Geworfenheit, d. h. er ruft das Dasein aus dem Betrieb des Man und bringt es dazu sich seines Personseins bewusst zu werden und erschließt so das Schuldigsein. Das rechte Hören auf den Ruf versteht also sein Seinkönnen, es ist „hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit“ gegenüber.[14] Das heißt, das Dasein versteht nicht nur, was es konkret bedeutet eine Person zu sein, sondern es ändert auch seinen Selbstbezug so, dass es die Verantwortung für seine Person übernimmt. Heidegger faßt dies als Gewissen-Haben-Wollen.[15]
Die vulgäre Gewissensauslegung
Um zu zeigen, dass seine Interpretation des Gewissens als Eigenschaft dessen wie es ist eine Person zu sein, anderen Gewissensinterpretationen vorausgeht, untersucht Heidegger einige solcher Auslegungen. Sie zeigen sich für ihn vor allem durch das Man bestimmt, wodurch sie teilweise der ontologisch-existenzialen Auslegung widersprechen. Charakterisieren lässt sich Heidegger zufolge die „vulgäre“ Gewissensauslegung durch vier Aspekte, insofern jene beinhaltet, dass das Gewissen[16]
- eine kritische Funktion habe,
- sich relativ auf eine bestimmte Tat beziehe
- somit sich nicht auf das Sein des Daseins beziehe
- als gutes und schlechtes auftreten könne.
Gegen diese Auffassung von Gewissen wendet Heidegger ein: Das Gewissen als schlechtes Gewissen basiert, ebenso wie das vorwarnende Gewissen, in einer Auffassung des Daseins als einem Vorhandenen, welches abläuft. Dasein läuft in seiner Existenz jedoch nicht einfach ab; (konstruktivistisch gewendet könnte man auch formulieren: Das Dasein ist kein Lebenslauf, sondern gegebenenfalls hat/produziert Dasein einen solchen). Nach Heidegger zeigt sich deshalb die vulgäre Gewissensauffassung als die eines Verrechnens und Ausgleichens von Schuld und Unschuld im Lebenslauf. [17] – daher auch das von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft gewählte (letztlich christlich geprägte) Bild vom Gewissen als eines Gerichsthofs sowie Kants Rede von einem (über den Lebenslauf erhabenen) Sittengesetz. Auch das gute Gewissen kann es nicht wirklich geben, denn gerade der Gute würde nicht von sich behaupten, dass er es hätte.[18] Hinsichtlich Punkt zwei gesteht Heidegger den Tatbezug des Gewissensrufs zu, jedoch kritisiert er, dass hier nicht der volle Ruf zur Geltung komme: Der Gewissensruf der Sorge ist ursprünglicher als der tatbezogene Ruf des Gewissens des Man, denn die Möglichkeit sich überhaupt auf Entscheidungen zu Beziehen geht der konkreten Entscheidung voraus. Der Gewissensruf der Sorge muss also „inhaltsleer“ sein, in dem Sinne, dass er sich auf keine konkrete Tat bezieht, sondern auf die Existenz und das eigentliche Selbstseinkönnen.[19]
Entschlossenheit
Verantwortung für die eigene Person zu übernehmen, nannte Heidegger das Gewissen-Haben-Wollen. Da sich dem Dasein hierbei grundlegende Strukturen seiner Existenz erschließen, ist es eine bestimmte Art und Weise der Erschlossenheit. Die Erschlossenheit setzte sich aus drei Strukturmomenten zusammen: Befindlichkeit, Verstehen und Rede. Diese werden nun im Gewissen-Haben-Wollen modifiziert, die neue Weise des Selbstbezugs ist eigentlich. Die eigentliche Erschlossenheit nennt Heidegger kurz die ENTschlossenheit[20]
Erschlossenheit (Wahrheit der Existenz) | Entschlossenheit (eigentliche Erschlossenheit / Wahrheit) |
---|---|
Verstehen | sich entwerfen auf das eigenste Schuldigsein |
Befindlichkeit | Angst |
Rede | Verschwiegenheit |
Das Verstehen nimmt sich aus der Auslegung des Man zurück in sein Selbst, ebenso kommt das Dasein aus der vom Man vorgegebenen Stimmung in die Grundbefindlichkeit der Angst. Durch die Verschwiegenheit entzieht sich das Dasein dem Gerede des Man. Statt sich auf die Vorgaben zu verlassen, kann die Person sich bestimmte Handlungsmaxime und Eigenschaften aneignen, so dass sie aus diesen heraus handelt und zu ihnen steht. Sie unterstellt sich somit diesen selbst gewählten Ansprüchen, was Heidegger als Gewissen-Haben-Wollen bezeichnete. Indem sie sich zu konkreten Handlungen und Maximen entschließt steht sie aus ihrer eigenen Freiheit heraus zu ihnen, dies macht die Entschlossenheit aus. Damit ist also keine Isolation auf ein freischwebendes Ich gemeint, sondern die Entschlossenheit bringt das Dasein gerade in das besorgende Sein beim Zuhandenen und die vorspringend-befreiende Fürsorge für die Anderen, damit diese für ihre Existenz frei werden und ebenso eigentlich sein können. Auch die Entschlossenheit ist auf die Welt des Man angewiesen, aber ihr ist nun das eigene Da erschlossen, die eigene Existenz ist ihr durchsichtig geworden.
Damit einher vollzieht Heidegger eine Erweiterung des Wahrheitsbegriffs. Zuvor wurde Wahrheit bestimmt als Wahrheit der Existenz, weil überhaupt erstmal Dasein sein muss, damit es jemand gibt, der Wahrheit „entdeckt“. In der Entschlossenheit ergibt sich nun eine eigentliche Wahrheit.[21] Sie modifiziert die Entdecktheit der Welt dahingehend, dass das Dasein die Bestimmung der Bedeutsamkeit aus dem Selbstsein vornimmt.
Einzelnachweise
[Bearbeiten]- ↑ Vgl. Andreas Lückner: Wie es ist, selbst zu sein. in: Thomas Rentsch: Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 151.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 268.
- ↑ Zitiert nach Andreas Lückner: Wie es ist, selbst zu sein. in: Thomas Rentsch: Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 156.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 298.
- ↑ SZ, S. 299.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 270.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 271.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 273.
- ↑ Vgl. Andreas Lückner: Wie es ist, selbst zu sein. in: Thomas Rentsch: Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 161f.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 276.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 274.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 281.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 283.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 287.
- ↑ SZ, Seite 288.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 290.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 292.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 291.
- ↑ Vgl. SZ, Seite 294.
- ↑ SZ, Seite 296.
- ↑ SZ, Seite 297.