Buchanfang Gewöhnliche Differentialgleichungen by Stephan Kulla/Wozu braucht man gewöhnliche Differentialgleichungen? – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

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Was sind gewöhnliche Differentialgleichungen?[Bearbeiten]

Viele Studierende beschäftigen sich irgendwann in ihrem Studium mit gewöhnlichen Differentialgleichungen. Diese gehören nämlich zum Curriculum vieler Studiengänge. So werden sie in der Mathematik, der Physik, der Wirtschaftswissenschaft, dem Ingenieurwesen, der Biologie und der Chemie verwendet – und diese Liste ist noch nicht vollständig. Vielleicht liest auch du diesen Text, weil gewöhnliche Differentialgleichungen Teil deines Studiums oder deiner Ausbildung sind. Was sind nun gewöhnliche Differentialgleichungen?

Differentialgleichungen sind Gleichungen, in denen Ableitungen einer Funktion vorkommen (dies kann die erste wie auch eine höhere Ableitung sein, auch partielle Ableitungen sind erlaubt). So sind folgende Gleichungen Beispiele für Differentialgleichungen:

Eigentlich sollte man diese Gleichungen „Ableitungsgleichungen“ oder „Gleichungen mit Ableitungen“ nennen. Im 18. Jahrhundert, als Newton das erste Mal Differentialgleichungen beschrieb, wurden Ableitungen noch über das so genannte Differential definiert. Damals waren Differentialgleichungen also wirklich Gleichungen mit Differentiale. Blöd nur, dass Differentiale im 19. Jahrhundert durch Mathematiker wie Augustin-Louis Cauchy verbannt und durch den heutigen Ableitungsbegriff ersetzt wurden. Der Name „Differentialgleichungen“ blieb erhalten.

Damit sind Differentialgleichungen Gleichungen mit Ableitungen einer Funktion. Zur Charakterisierung von Differentialgleichungen werden solche mit partiellen Ableitungen „partielle Differentialgleichungen“ genannt. Beispiele hierfür sind:

Um einfachere Differentialgleichungen, die nur Ableitungen und Funktionen bezüglich einer Variablen enthalten, von partiellen Differentialgleichungen abzugrenzen, wird der Begriff „gewöhnliche Differentialgleichung“ benutzt. So sind folgende Funktionen Beispiele für gewöhnliche Differentialgleichungen:

Im Folgenden werden wir uns ausschließlich mit gewöhnlichen Differentialgleichungen beschäftigen.

Wozu braucht man gewöhnliche Differentialgleichungen?[Bearbeiten]

Stellen wir uns die Frage: Wozu solltest du gewöhnliche Differentialgleichungen studieren? Was macht sie so besonders, dass sie so häufig im Studium und in der Ausbildung vorkommen? Der Grund: Mit Hilfe von Differentialgleichungen kann die Zustandsänderung eines Systems oder eines Modells beschrieben werden. So sind viele Naturgesetze als Differentialgleichungen formuliert. Egal, in welcher Naturwissenschaft du tätig bist, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass du Differentialgleichungen verwenden oder lösen musst. So treten Differentialgleichungen auf, um die Zerfallsrate bei radioaktiven Stoffen, die Bewegungsänderung eines Pendels, die Änderung einer Population oder die chemische Reaktionsrate zu beschreiben. Schauen wir uns dies am Beispiel des Steinwurfs an:

Beispiel des Steinwurfs[Bearbeiten]

Der Wurf eines Steins in den Fluss

Betrachten wir zunächst ein einfaches Beispiel eines physikalischen Systems: Der Wurf eines Steins. Wenn du einen Stein wirfst, wo und wann wird dieser landen? Wie kannst du seine Flugbahn beschreiben?

Diese Fragestellungen sind durchaus relevant. Mit der Ballistik, der „Lehre von geworfenen Körpern”, widmet sich ein kompletter Teilbereich der Physik diesen Fragestellungen. Die Ballistik wiederum findet mit der Raumfahrt (Welche Flugbahn durchlaufen Satelliten ohne Eigenantrieb?), dem Militär (Wie muss eine Kanone eingestellt werden, um ein gewisses Objekt zu treffen?) und der Forensik (Wo hat der Schütze eines Attentats gestanden, wenn der Eintreffwinkel des Projektils bekannt ist?) viele Anwendungen.

Als erstes finden wir ein mathematisches Modell für den realen Vorgang eines Steinwurfs. Wir wählen den Vektor für die aktuelle Position des Steins. Hier ist bereits etwas Interessantes passiert: Wir haben die Realität auf ein einfacheres Modell reduziert. Der Vektor beschreibt einen Punkt im Raum. Ein Stein ist aber mehr als nur ein Raumpunkt: Er besitzt eine Ausdehnung, eine gewisse Form, eine chemische Zusammensetzung, eine Farbe. Diese Eigenschaften haben wir weggelassen, so dass wir nur die Position des Steins im Raum betrachten. Wir haben das reale Phänomen eines Steinwurfs auf ein einfaches Modell abstrahiert.

Da sich der Stein bewegt, müssen wir unser Modell ausbauen. Deswegen führen wir zusätzlich den Zeitparameter ein und beschreiben die Position des Steins als Funktion . Damit ist die Position kein Vektor mehr, sondern eine Funktion, die die aktuelle Position zum Zeitpunkt zurückgibt.

Um die Flugbahn des Steins zu bestimmen, können wir nun Experimente durchführen. Wir können Steine auf verschiedene Arten werfen und auf Grundlage der beobachteten Flugbahnen einen Term für postulieren. Die aufgenommene Flugbahn in einem Experiment könnte so aussehen:

Flugbahn eines geworfenen Steins (bei vernachlässigbarer Luftreibung)
Flugbahn eines geworfenen Steins (bei vernachlässigbarer Luftreibung)

Wie lautet die Formel für ? Dies ist schwer zu sagen. Vielleicht hast du gesehen, dass die Flugbahn einer Parabel gleicht und tatsächlich ist dies (bei vernachlässigbarer Luftreibung) der Fall. Dies postulierte auch Niccolò Tartaglia im 16. Jahrhundert, der damit als Vater der Ballistik gilt[1]. Es gibt aber eine einfachere Methode, das Phänomen des Steinwurfs exakt zu beschreiben. Nun kommen die Differentialgleichungen beziehungsweise die Ableitungen von ins Spiel. Anstatt das Modell direkt zu beschreiben (also Rechenvorschriften oder Terme für die Funktion aufzustellen), erklären wir, wie sich das System mit der Zeit ändert. Du weißt, die Ableitung ist die momentane Änderungsrate des Ortes, also die Geschwindigkeit des Steins. Die zweite Ableitung von ist die momentane Änderungsrate der Geschwindigkeit des Steins, also dessen Beschleunigung.

Nun gilt nach dem berühmten zweiten Newtonschem Gesetz der Mechanik, dass zu jedem Zeitpunkt die auf einem Körper wirkende Kraft direkt proportional zur Beschleunigung des Körpers zu diesem Zeitpunkt ist[2]. Dabei ist die Masse des Körpers der Proportionalitätsfaktor[2]. Wir nehmen also die Masse sowie die zum Zeitpunkt auf den Stein wirkende Kraft in unser Modell auf. Das zweite Newtonsche Gesetz kann nun durch folgende Differentialgleichung formuliert werden:

Voilà, hier ist unsere Differentialgleichung, die die Bewegung des Steins beschreibt. Wenn wir zu jedem Zeitpunkt die Kraft kennen, die auf den Stein wirkt, können wir mit obiger Gleichung dessen Beschleunigung ausrechnen. Mit der Beschleunigung wissen wir, wie sich die Geschwindigkeit des Steins ändert und können so jeweils die aktuelle Geschwindigkeit bestimmen. Mit Hilfe der Geschwindigkeit können wir wiederum bestimmen, wie sich der Ort des Steins ändern wird. Damit können wir mit der obigen Differentialgleichung (bei Kenntnis des Anfangsorts und der Anfangsgeschwindigkeit) die Flugbahn des Steins bestimmen (es stellt sich natürlich hier die Frage: Wie?). Dabei ist diese Differentialgleichung viel allgemeiner, weil viele Bewegungen durch sie beschrieben werden. Sie gilt auch für den freien Fall, der Bewegung eines Pendels oder den Bewegungen von Planeten.

Differentialgleichungen in mathematischen Modellen[Bearbeiten]

Das Beispiel mit dem Steinwurf zeigt exemplarisch, was ich dir bereits in der Einleitung gesagt habe: Differentialgleichungen tauchen überall dort auf, wo die Veränderung eines Systems (beziehungsweise eines mathematischen Modells der Wirklichkeit) beschrieben wird. Viele Naturgesetze sind beispielsweise als Differentialgleichungen formuliert. Dies begründet auch die Prominenz von Differentialgleichungen in vielen Studiengängen und in der Ausbildung.

Ein tiefergehendes Verständnis von Differentialgleichungen wird dir damit helfen, Modelle und Naturgesetze mit Differentialgleichungen zu verstehen und selbst Modelle mit Differentialgleichungen aufzustellen. Auch wirst du lernen, wie du Lösungsfunktionen für eine Differentialgleichung findest. Dies ist wichtig, da diese Lösungsfunktionen den konkreten Zustandsverlauf des Systems angibt. So wollen wir im Beispiel des Steinwurfs am Ende eine Funktion finden, die die Differentialgleichung erfüllt.

Gewöhnliche Differentialgleichungen in der Mathematik[Bearbeiten]

Gewöhnliche Differentialgleichungen sind auch aus der Sicht der Mathematik interessant. Sie sind nicht nur Voraussetzung für gewisse Gebiete der Mathematik (zum Beispiel der Differentialgeometrie oder der Theorie dynamischer Systeme). Ihre Theorie verbindet auch auf eine schöne Art und Weise die Analysis mit der linearen Algebra. Die Theorie gewöhnlicher Differentialgleichungen verwendet und erweitert nämlich Konzepte der Analysis und der linearen Algebra.

Auch können gewöhnliche Differentialgleichungen genutzt werden, um Objekte der Mathematik wie Funktionen zu charakterisieren. So ist die Exponentialfunktion charakterisiert als die eindeutige Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung mit .

Fragen zu gewöhnlichen Differentialgleichungen[Bearbeiten]

Nachdem wir nun wissen, wieso Differentialgleichungen in so vielen Wissenschaften auftreten, stellen sich einige Fragen, die in der Theorie zu den gewöhnlichen Differentialgleichungen beantwortet werden:

  • Wie findet man eine Lösung zu einer gewöhnlichen Differentialgleichung? – Mit Hilfe einer gewöhnlichen Differentialgleichung wird häufig ausgedrückt, wie sich der Zustand eines Systems (zeitlich, räumlich oder bezüglich einer anderen Variablen) ändert. Um den konkreten Zustandsverlauf des Systems zu bestimmen, muss man eine Lösungsfunktion für die Differentialgleichung finden. Hierfür wirst du verschiedene Lösungsmethoden kennen lernen.
  • Besitzt die gewöhnliche Differentialgleichung eine Lösung? – Besitzt jede gewöhnliche Differentialgleichung eine Lösung? Wenn nein: Wie kann bei einer gewöhnlichen Differentialgleichung entschieden werden, ob es für sie eine Lösung gibt?
  • Ist eine gefundene Lösung eindeutig? – Stell wir vor, wir haben bereits eine Lösungsfunktion einer gewöhnlichen Differentialgleichung gefunden. Gibt es noch andere Funktionen, die die gewöhnliche Differentialgleichungen lösen? In welchen Fällen sind die Lösungsfunktionen einer gewöhnlichen Differentialgleichung eindeutig?


  1. Wikipedia-Artikel Ballistik
  2. 2,0 2,1 Wikipedia-Artikel Newtonsche Gesetze