Mensch und Kosmos: Karma

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Soweit sichtbar, ist die Wiedergeburt in allen Religionen, die sie lehren, etwas Zwangsläufiges, das dem Menschen als Schicksal auferlegt und seiner direkten Einwirkung entzogen ist. Er hat keinen Einfluss darauf, geschweige denn ein Bestimmungs- oder Wahlrecht darüber, mit welchem Geschlecht und welcher Hautfarbe er wann, wo, in welche familiäre Umgebung und in welche materiellen Umstände hinein wiedergeboren wird und welche körperlichen, seelischen und geistigen Anlagen er dabei mitbringt. Nach Auffassung von älteren Formen der klassischen Reinkarnationsreligionen Hinduismus, Buddhismus und Jainismus kann bei der »Seelenwanderung« die Seele sogar in einem Tier und selbst in einer Pflanze reinkarniert werden. Alle diese Gegebenheiten, die das Leben des Menschen von Anfang an bestimmen, aber auch alles, was ihm später als »Schicksal« begegnet oder zustößt – Unfälle, Krankheiten, alle nur denkbaren »glücklichen« oder »unglücklichen« Ereignisse – dies alles ist gleichsam über ihn verhängt. Die Ursache dieses »Verhängnisses« ist das Karma (altindisch Tat) des Menschen: die Gesamtheit aller von ihm in diesem oder einem früheren Leben vollzogenen guten und schlechten Taten. Nach dem Gesetz des Karma setzt jede Tat einen Vergeltungsprozess in Gang, der so zwangsläufig ist, wie wir es sonst nur vom naturwissenschaftlichen Kausalitätsprinzip kennen, und der sich in diesem oder einem späteren Leben auswirkt. Das zentrale Anliegen des Erlösungsstrebens in diesen Religionen ist es, dass der Mensch sich durch völlige Selbstentäußerung aus dem Kreislauf ständiger Wiedergeburten löse, um endlich als Erlöster in das Nirwana (wörtl. dt. Verwehen), den Zustand endgültigen Erlöschens, einzugehen.

Die unpersönliche Gnadenlosigkeit dieses Vergeltungsprozesses, die unabsehbare Dauer und die Mühseligkeit des Vorgangs der Selbstentäußerung, ja das Ideal der Selbstentäußerung selbst, wie auch ihr erwartetes Ergebnis – die völlige Auslöschung im Nirwana – hat für viele Menschen des Abendlandes etwas geradezu Grauenhaftes an sich.

Für Seth sind diese Vorstellungen groteske Verzerrungen uralter Weisheiten. Er sagt dazu:

Die Vermutung ist falsch, eure Handlungen in diesem Leben würden von einer früheren Existenz verursacht, oder ihr würdet in diesem Leben für die Verbrechen in einem vergangenen bestraft. (521)
Die Leben werden nicht von einer äußeren Macht über euch verhängt, sondern wachsen aus eurem innersten Kern hervor. (522)
Ich will einmal versuchen, den Einfluss früherer Leben kurz zu beschreiben: Sie beeinflussen euch wie jede andere Erfahrung auch. (523)

Dies kann sich zwar ähnlich auswirken wie ein durch Karma auferlegtes Schicksal, beruht aber ganz auf eigener Wahl:

Ein Mensch, der in einem Leben grausam war, erwählt sich im nächsten vielleicht Umstände, durch die er die Wirkungen von Grausamkeit (auf das Opfer) kennen lernt; dies heißt aber nicht, dass der Betreffende dieses ganze Leben lang dann Opfer sein muss. (The Way Toward Health, Sitzung vom 2. April 1984)

Viele Religionen lehren, dass ein Suizid das Karma besonders stark belastet und sich auf künftige Leben in ganz besonderer Weise negativ auswirkt. Auch dazu äußert sich Seth:

Menschen, die sich selbst töten, erwartet nicht etwa eine besonders ausgesuchte Strafe, noch ist ihre Situation von vornherein schlechter als die anderer. Auch sie werden als Individuen behandelt. Sind sie allerdings im letzten Leben irgendwelchen Problemen oder Schwierigkeiten ausgewichen, dann werden sie sich diesen in einem anderen Leben stellen müssen. (Aber auch dies geschieht dann durch eigene Wahl.) Aber das gilt nicht nur für Suizidanten. Und viele andere, die sich gewissen Erfahrungen des Lebens verweigern, begehen genauso wirksam Suizid, obwohl sie dabei am Leben bleiben. (546)

Über das Nirwana sagt Seth:

Das Ich, für das ihr euch haltet, wird niemals ausgelöscht. Euer Bewusstsein wird nicht ausgeblasen, noch wird es – im höchsten Glück seiner selbst nicht mehr bewusst – von irgendeinem Nirwana verschluckt. So wenig wie ihr jetzt im Nirwana seid, werdet ihr es auch künftig jemals sein. (637)
Es gibt nichts, das so tödlich wäre wie das Nirwana. Eure christlichen Vorstellungen lassen euch wenigstens die unsichere Hoffnung auf ein zwar langweiliges und eintöniges Paradies, in dem aber immerhin eure Individualität sich ausdrücken kann, während das Nirwana diesen Trost nicht kennt. Es verheißt euch lediglich die Auslöschung eurer Persönlichkeit in einer Glückseligkeit, die euer Sein zerstört. Rette sich wer kann vor einer solchen Glückseligkeit! (Fußnote zu 637)
Die Konzeption des Nirwana und die Idee des christlichen Himmels sind zwei Versionen desselben Bildes. In der ersten verliert sich die Individualität in der Glückseligkeit eines undifferenzierten Bewusstseins, in der zweiten geben sich Individuen, die sich zwar noch immer ihrer selbst bewusst sind, einer sinnlosen Anbetung hin. Keine der beiden Theorien enthält Verständnis für die Aufgaben des Verstandes, noch für die Evolution des Bewusstseins. (647)

Auch Seth benutzt den bekannten Vergleich der Reinkarnationen mit verschiedenen Dramen, in denen ein Mensch nacheinander auftritt. Bei Seth jedoch kommen einige neue, wesentliche Gesichtspunkte dazu: Der Mensch hat nicht nur das Drama, in dem er auftritt, selbst ausgewählt, er hat auch das Drehbuch geschrieben und die Kulissen selbst geschaffen. Und der Sinn der wiederholten Reinkarnationen ist nicht die Strafe für frühere Vergehen, das Abtragen des Karmas. Vielmehr dienen die vielfältigen Leben unter den unterschiedlichsten Bedingungen der Weiterentwicklung und der Entfaltung des Wesenskerns des Individuums und bieten ihm verschiedenartige Wirkungsfelder für seine schöpferische Tätigkeit. Kurzum: Es geht dabei um das Sammeln von Erfahrungen, um seelische Weiterentwicklung und um schöpferisches Tun in verschiedenen Umwelten und unter verschiedenen persönlichen Bedingungen.

Stellt euch euer gegenwärtiges Ich als Schauspieler in einem Theaterstück vor. Dieser Vergleich ist zwar nicht neu, aber treffend. Das Stück spielt im zwanzigsten Jahrhundert. Die Requisiten, die Szenerie, den Inhalt habt ihr selbst geschaffen; ja, ihr seid für dieses Stück Autor, Regisseur und Schauspieler in einer Person – ihr und jedes andere Individuum, das mitspielt.
Ihr seid jedoch dermaßen auf eure Rollen fixiert, derart gefesselt von der Realität, die ihr erschaffen habt, so hingerissen von den Problemen, Herausforderungen, Hoffnungen und Sorgen der einzelnen Figuren, dass ihr – die menschliche Spezies – schon seit langem vergessen habt, dass sie eure eigenen Schöpfungen sind. Dieses tief bewegende Drama mit seinen Freuden und Leiden entspricht in diesem Vergleich eurem gegenwärtigen Leben, sowohl individuell als auch kollektiv.
Diejenigen, die noch an diesen hoch komplizierten Passionsspielen, den so genannten Reinkarnationsexistenzen, teilnehmen, finden es schwierig, darüber hinaus zu sehen. Andere, die sich gleichsam zwischen den Stücken ausruhen, versuchen mit den noch am Spiel Beteiligten in Verbindung zu treten; aber sie befinden sich sozusagen lediglich zwischen den Kulissen und können auch nicht weiter sehen.
Ich benutze hier den Vergleich mit schriftlich fixierten Dramen, jedoch handelt es sich in Wirklichkeit um höchst spontane Aufführungen, in denen die Schauspieler innerhalb des Rahmens des jeweiligen Stückes völlig frei sind. Es gelten die oben erwähnten Grundannahmen, es gibt keine Proben; es gibt – wie ihr später sehen werdet – Zuschauer, und wie in jedem guten Stück gibt es auch hier jeweils ein Grundthema. So hat es zum Beispiel die zahlreichen großen Künstler bestimmter Epochen nicht einfach darum gegeben, weil sie zufällig in diese Zeit hineingeboren wurden oder weil die Verhältnisse dafür günstig waren. Vielmehr war es das Thema des Stückes, dass intuitiv erkannte Wahrheiten in Form von Kunstwerken zu Tage treten sollten. Das geschah mittels einer Kreativität von so weittragenden und überwältigenden Resultaten, dass die in jedem Schauspieler verborgen ruhenden Fähigkeiten geweckt wurden und Modelle für neue Verhaltensweisen entstanden.
Zeitalter der Renaissance – geistiger, künstlerischer oder psychischer Erneuerung – treten auf, weil die intensive innere Konzentration der Mitwirkenden auf solche Ziele gerichtet ist. Die Aufgabe mag in jedem Stück eine andere sein, aber die Themen sind immer Leuchtfeuer für jedes Bewusstsein.
Eure multidimensionale Wesenheit ist so beschaffen, dass sie diese vielfältigen Erfahrungen machen und dennoch ihre Identität bewahren kann. Sie wird natürlich von den verschiedenen Stücken, an denen sie mitwirkt, beeinflusst. Es findet eine ständige Kommunikation statt, oder, wenn ihr das vorzieht, eine fortwährende Rückmeldung.
Natürlich haben diese Spiele einen Sinn. Die multidimensionale Wesenheit lernt darin durch ihr Wirken. Sie probiert eine schier endlose Reihe von Lebensweisen, Verhaltensmustern und Einstellungen aus und verändert sie wieder, je nach dem Ergebnis.
Ihr seid Teil der multidimensionalen Wesenheit, die diese Existenzen lebt, diese kosmischen Passionsspiele erschafft und darin auftritt. Weil ihr euch aber ganz auf die jeweilige Rolle konzentriert, identifiziert ihr euer ganzes Sein damit. Übrigens habt ihr auch diese Regel aus bestimmtem Grund selbst aufgestellt.
Das Bewusstsein befindet sich im Zustand des Werdens, und daher hat die multidimensionale Wesenheit keine endgültig fertige psychische Struktur. Sie ist ebenfalls im Zustand des Werdens. Sie lernt die Kunst der Verwirklichung. In sich hat sie unerschöpfliche Quellen der Kreativität, unbegrenzte Möglichkeiten der Entwicklung. Aber sie muss erst die Mittel der Verwirklichung finden und selbst Wege suchen, um die unbeschreiblichen Schöpfungen, die in ihr sind, zum Leben zu bringen.
Zu diesem Zweck schafft die multidimensionale Wesenheit die unterschiedlichsten Bedingungen, um darin zu wirken, und stellt sich Aufgaben, an denen sie manchmal – nach euren Begriffen – wenigstens anfangs scheitert, weil sie nämlich erst die Voraussetzungen schaffen muss, unter denen ein Gelingen möglich ist. Und all das geschieht mit großer Spontaneität und unbändiger Freude.
Jeder Schauspieler hat, während er seine Rolle spielt und sich auf das Stück konzentriert, innere Richtlinien. Er ist also nicht ganz auf sich selbst gestellt und nicht einsam und verlassen in dem Stück, das er, ohne es noch zu wissen, selbst erschaffen hat. Er hat Kenntnisse und Informationen, die ihm durch das zukommen, was ich die inneren Sinne nenne. Er hat also noch andere Informationsquellen als die innerhalb des Stückes vorhandenen. Jeder Schauspieler weiß das instinktiv. Auch sind innerhalb des Stückes Ruhepausen vorgesehen, in denen er sich zurückziehen und erholen kann. In diesen Zeiten wird er von seinen inneren Sinnen über die anderen Rollen informiert, die er auch noch spielt, und es wird ihm klar, dass er viel mehr ist als das Ich, das in dem jeweiligen Stück auftritt. Während dieser Pausen erkennt er auch, dass er selbst das Stück mit verfasst hat, und er ist nicht an jene Vereinbarungen gebunden, an die er sich halten muss, solange er aktiv an dem Stück mitwirkt. Diese Ruhepausen sind natürlich die Zeiten, in denen ihr schlaft und träumt; aber es gibt auch noch andere Zeiten, in denen jeder Schauspieler deutlich sieht, dass er von Kulissen und Requisiten umgeben ist, und in denen er plötzlich die scheinbare Realität der Aufführung durchschaut.
Das bedeutet nicht, dass das Stück nicht real wäre oder dass es nicht ernst genommen werden müsste. Es bedeutet lediglich, dass die beteiligten Personen Rollen spielen – wenngleich wichtige Rollen. Jeder Schauspieler muss jedoch selbst darauf kommen, welcher Art das Stück ist und was sein Part darin ist. Und er muss sich schließlich über die dreidimensionalen Grenzen der Szenerie hinaus verwirklichen.
Indem er seine Rolle spielt, muss jeder Schauspieler sich zunächst einmal selbst in der dreidimensionalen Realität verwirklichen. Die multidimensionale Wesenheit kann nicht in der dreidimensionalen Realität wirken, wenn sie nicht einen Teil ihrer selbst darin körperlich auftreten lässt. Dann setzt sie in dieser Realität vielerlei Schöpfungen und Entwicklungen in Gang, die auf andere Weise nicht stattfinden könnten.
Während ihrer dreidimensionalen Existenz hilft die Persönlichkeit auch anderen, und sie selbst profitiert davon und entwickelt sich weiter. Beides wäre auf anderen Wegen nicht möglich.
Die Bedeutung des Stücks liegt also in euch selbst. Der Sinn des Lebens ist euch zugänglich; das Wissen darum liegt unter der Oberfläche des Bewusstseins. Auch werden euch alle möglichen Winke und Fingerzeige gegeben. Ihr habt das Wissen eurer gesamten multidimensionalen Wesenheit in Reichweite. Wenn ihr das erkennt, hilft euch dieses Wissen, eure Probleme rascher zu lösen und die Aufgaben, die ihr euch gestellt habt, schneller zu erfüllen. Außerdem werden euch dadurch weitere Bereiche der Kreativität erschlossen, wodurch die ganze Aufführung profitieren kann. In dem Maße, in dem ihr der Intuition und dem Wissen der multidimensionalen Wesenheit erlaubt, durch euer bewusstes Ich zu fließen, in dem Maße werdet ihr nicht nur eure Rolle wirkungsvoller spielen, sondern auch dem ganzen Stück neue Energie, Einsichten und Kreativität schenken.
Nun kommt es euch natürlich so vor, als wäret ihr der einzige bewusste Teil eurer selbst, eurer multidimensionalen Wesenheit, denn ihr identifiziert euch ja ganz mit dem Darsteller in dem speziellen Stück. Die anderen Teile eurer multidimensionalen Wesenheit, die in den anderen Reinkarnationsdramen auftreten, sind sich ihrer aber ebenfalls bewusst. Und weil ihr ein gemeinsames multidimensionales Bewusstsein habt, deshalb seid ihr auch in diesen anderen Realitäten bewusst. Eure multidimensionale Wesenheit ist sich ihrer selbst in allen diesen Rollen bewusst. (521)
Die »Zeitstücke« haben alle einen bestimmten Zweck. Es liegt in der Natur des Bewusstseins, dass es sich in so vielen Bereichen wie möglich zu verkörpern sucht, dass es aus sich heraus neue Ebenen der Bewusstheit und neue Ableger zu schaffen sucht. Auf diese Weise erschafft es alle Realität. Daher ist die Realität immer im Zustand des Werdens. Die Gedanken, zum Beispiel, die ihr in eurer Rolle als Schauspieler denkt, sind vollkommen einzigartig und führen zu neuer Kreativität. Gewisse Aspekte eures Bewusstseins könnten auf keine andere Weise verwirklicht werden.
Menschen, die an Reinkarnation glauben, stellen sich im Allgemeinen vor, die verschiedenen Leben bildeten eine Reihe von Stationen auf einem vorgeschriebenen Weg, den sie gehen müssten. In Wahrheit aber werden die Leben nicht von einer äußeren Macht über euch verhängt, sondern wachsen aus eurem innersten Kern hervor. Sie gehören wesentlich zur Entwicklung des Bewusstseins der multidimensionalen Wesenheit. Während es sich immer weiter entfaltet, sucht es sich möglichst vielfältig auszudrücken. Dazu reicht ein einziges dreidimensionales Leben nicht aus, und auch nicht die dreidimensionale Existenzform allein.
Das Bewusstsein nimmt dabei viele verschiedene Formen an. Die Seele besitzt vollkommene Ausdrucksfreiheit. Sie wählt die Formen, je nach dem, was sie ausdrücken möchte; sie gestaltet Umgebungen wie Kulissen und formt Welten nach ihrem Bedarf. Und jede Umgebung, jede Welt, bringt neue Entwicklungen hervor.
Die Seele ist ein Individuum aus geistiger Energie. Sie gestaltet jeden eurer Körper und ist die treibende Kraft hinter eurem Fortbestehen; von ihr stammt alle eure Vitalität. Das Bewusstsein ruht niemals, sondern ist immerfort schöpferisch tätig.
Die Seele verleiht der dreidimensionalen Realität und dem dreidimensionalen Ich etwas von ihren Eigenschaften. Die Fähigkeiten der Seele sind innerhalb des dreidimensionalen Ich angelegt. Das dreidimensionale Ich, der Schauspieler, hat Zugang zu diesem Wissen und diesem Potenzial. Indem das dreidimensionale Ich dieses Potenzial zu nützen lernt und seine Verbundenheit mit der Seele entdeckt, steigert es seine Leistungsfähigkeit, sein Verständnis und seine Kreativität. Das dreidimensionale Ich wird mehr, als es selbst weiß. (522)