Soziologische Klassiker/ Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim

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Biographie in Daten[Bearbeiten]

Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny

Hoffmann-Nowotny Hans-Joachim

  • geboren am 17. März 1934 in Mühlheim an der Ruhr (Niederrhein, Deutschland) als Sohn eines polnischen Einwanderers


  • 1961 Abitur
  • 1961-1966 Studium der Soziologie, Sozialpsychologie, Volks- und Betriebswirtschaftslehre sowie der Jurisprudenz an der Universität Köln
  • 1966 Heirat mit Maria Theresia, Lehrerin aus Deutschland
  • 1969 Promotion in Zürich (Soziologie)
    • Dissertationsthema: Migration. Ein Beitrag zu einer soziologischen Erklärung
  • 1973 Habilitation


Funktionen und Ämter[Bearbeiten]

  • 1973-2001 Lehrtätigkeit an der Universität Zürich
    • 1973-1974 als Privatdozent
    • 1974-1975 als außerordentlicher Professor
    • 1975-2001 als ordentlicher Professor
  • 1978-1986 Präsident des Research Committee on Migration der International Sociological Association
  • 1982-1986 Mitglied des Vorstandes und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft
  • 1982-2004 Stiftungsrat der Stiftugn für Weltgesellschaft
  • 1983-1988 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie
  • 1983-1997 Direktor des Soziologischen Instituts an der Universität Zürich
  • 1996-2002 Präsident der Stiftung für Weltgesellschaft


Historischer und theoriegeschichtlicher Kontext[Bearbeiten]

Hoffmann-Nowotny befasste sich in den 1960er Jahren als einer der ersten Soziologen mit der Migration und gilt heute dank seiner umfangreichen theoretischen sowie empirischen Studien zu dieser Thematik auch als Begründer der westeuropäischen Migrationssoziologie. Sein wichtigstes Thema sollte dabei sein strukturtheoretisches Modell zur Migrationsanalyse werden, welches ihn international berühmt machte. Seine Arbeit dazu beruht auf der "Theorie der strukturellen und anomischen Spannungen" von Peter Heintz (wie Hoffmann-Nowotny ein Mitglied der World Society Foundation) und führt bzw. entwickelt diese weiter. Warum sich Hoffmann-Nowotny gerade mit diesem Thema beschäftigt hatte liegt vor allem aus zweierlei Gründen nahe: Erstens war schon sein Vater nach Deutschland als Gastarbeiter (oder wie man in der Schweiz sagt: als Fremdarbeiter) eingewandert und Hoffmann-Nowotny tat im Verlauf seines Lebens das selbe als akademischer Fremdarbeiter in der Schweiz. Zweitens waren gerade in den 1960er und 1970er Jahren die Fremdarbeiter in aller Munde, da eine "Überfremdung" befürchtet wurde. Die Fremdarbeiter wurden als ein soziales Problem gesehen, was sich letztendlich auch in mehreren Volksbegehren zeigte.


Die Migrationstheorie von Hoffmann-Nowotny[Bearbeiten]

Die Grundannahmen (strukturelle Spannungen)[Bearbeiten]

Zentrale Ausgangspunkte für Hoffmann-Nowotnys Migrationstheorie sind klassische soziologische Konzepte wie Macht und Prestige.

  • Macht: "das Ausmaß mit dem eine Einheit (Akteur, Individuum) seinen Anspruch auf Teilhabe (oder Besitz) an zentralen sozialen Werten durchsetzen kann"
  • Prestige: "das Ausmaß mit dem dieser Anspruch auf Teilhabe oder Besitz von sozialen Werten als legitim angesehen wird" [1]

Zentrale soziale Werte sind materielle und immaterielle Güter wie Einkommen und Bildung; aus der Teilhabe an diesen zentralen sozialen Werten ergibt sich ein sozialer Status. Diese Teilnahme aber wird durch einen institutionellen Rahmen ermöglicht oder nicht ermöglicht, denn diese Güter sind in einer Gesellschaft ungleich verteilt. Da nun Macht und Prestige auch ungleich verteilt sind in einer Gesellschaft, kommt es zu "Spannungen innerhalb der verschiedenen Systemeinheiten". [2]

Diese Spannungen treten in zwei verschiedenen Formen auf:

  • soziale Spannungen: Macht und Prestige beim einzelnen Akteur sind ausbalanciert, doch innerhalb der Gesellschaft besteht ein Ungleichgewicht bezüglich Macht und Prestige zwischen den verschiedenen Teilen der Sozialstruktur
  • strukturelle Spannungen: Macht und Prestige beim einzelnen Akteur sind nicht in Balance, es gibt also entweder ein illegitimes Machtdefizit (in der Regel bei unteren Schichten), oder ein illegitimer Machtüberschuss (bei den oftmals überpriviligierten hohen Positionen eines Systems)

Die strukturellen oder anomischen Spannungen können nun dazu führen, dass der einzelne Akteur versucht sein Macht-Prestige-Gefälle auszugleichen. Dies kann nach Hoffmann-Nowotny auf vier verschiedene Arten geschehen:

  • Statusmobilität: Veränderung der Position auf der Machtlinie eines sozialen Systems
  • Rollenakzentuirung: Wertlegung auf Macht bzw. Prestigehältige Rollen
  • kultureller Wandel: Umbewertung des Werte in einem sozialen System, führt zur subkulturellen Differenzierung
  • Migration: Aufgabe der bisherigen Statusposition, Abbau oder Verlagerung der anomischen Spannungen

Die Migration[Bearbeiten]

Nachdem klar macht, wie es überhaupt zu Migration kommt, versucht er die Migration selber in einem breiteren Rahmen zu beleuchten, da es, seiner Meinung nach, nicht ausreicht die internen Strukturmechanismen zu berücksichtigen, wenn man das Fremdarbeiterproblem sowie die Folgen der Migration für beide Seiten erklären will. Stattdessen müsse man auch die "endogenen Spannungen" berücksichtigen, also die Beziehungen zwischen den nationalen Gesellschaften. Dann ergeben sich zwei mögliche Ausgangspunkte für Migration:

  • Ausgangspunkt A: Ein einzelner Akteur ist zwar selbt im Gleichgewicht, befindet sich allerdings in einem nationalen System mit Machtdefizit. Er schätzt die Chancen seiner nationalen Gesellschaft auf Ausgleich dieses Defizits als gering ein und wählt daher die Migration.
  • Ausgangspunkt B: Ein einzelner Akteur selbst befindet sich in einem Macht-Prestige-Ungleichgewicht, welches aber nicht auf durch die Herkunft aus seinem nationalen Systems begründet ist. Allerdings schätzt er seine Chancen zum Spannungsabbau innerhalb dieses Systems als gering ein und wählt die Migration in eine Gesellschaft, in welcher er größere Chancen dafür sieht.


Die Auswirkungen der Migration[Bearbeiten]

Da Migration in der Regel von niedriger- zu höherentwickelten Nationen erfolgt, ergibt sich eine "Unterschichtung" der Einwanderungsnation. Neue soziale Positionen werden also geschaffen bzw. übernehmen Einwanderer die bisher von Einheimischen ausgefüllten Positionen. Für die Einheimischen ergeben sich daraus Vor- und Nachteile:

Vorteile Nachteile
Beschäftigungsstruktur wird expandiert durch die Unterschichtung werden die traditionellen Strukturen gefestigt
Größere Mobilitätschancen für Einheimische Unterschichtung lenkt ab von anderen gesellschaftlichen Problemen
Erhöhung der Positionen der Einheimischen auf den vorhanden Statuslinien (finanzieller und sozialer Aufstieg)
weniger Einheimische mit niedrigeren Positionen

Die auf den ersten Blick für die Einheimischen verlockenden Vorteile entpuppen sich nach und nach als Fallen. Die traditionellen Strukturen werden gefestigt und ein sozialer Wandel bleibt somit aus. Die Einheimischen haben nun höhere soziale Positionen als zuvor und fürchten sich vor einem erneuten Abstieg. Durch Qualifikation und Leistung können sie sich aber nicht schützen, da ihr erhaltener Machtüberschuss nicht unbedingt darauf beruht, dass sie besser qualifiziert sind als ein Eingewanderten. Dies führt dazu, dass andere Kriterien als Legitimation für höheren Status gefunden werden müssen und hier kommen Faktoren wie Ethnie und Nationalität ins Spiel. Es kommt nun zu, wie Hoffmann-Nowotny es nennt, "neufeudalen Tendenzen", denn der Zugang zu zentralen sozialen Werte, wie Einkommen und Bildung, wird nun für Migranten erschwert oder gar gesperrt. Eine vollständige Integration wird dadurch unmöglich gemacht.

Nach der Einwanderung erfolgt für die Migranten also ein Spannungsabbau, da sie in der neuen Gesellschaft in der Regel ein besseres Gehalt haben usw. Allerdings kann dieser Spannungsabbau nur so lange anhalten, wie sie sich an ihrer Herkunftsgesellschaft orientieren. Sobald sie dies an der neuen Heimat tun, entstehen neue Spannungen, da ihnen hier nicht die sozialen Werte und der Status zugänglich sind, die ihnen eigentlich zustehen würden. Die Migranten erleben sich in der Aufnahmegesellschaft als neue Unterschicht und der Kreis des Ungleichgewichts schließt sich für sie.

Lösungsansätze[Bearbeiten]

Migranten müssen sich in das Sprach-, Ausbildungs- und Berufssystem der Aufnahmenation integrieren, um der sozialen Unterpriveligiertheit zu entkommen. Durch solch eine komplette Assimilation in die Strukturen der neuen Gesellschaft werden größere Chancen für sich und die Nachkommen geschaffen. Allerdings entsteht dadurch die neue Gefahr, dass die eigene Kultur vernachlässigt wird, was oft zu internen Problemen wie Scheidungen und Eltern-Kind-Konflikten führt.


Werke[Bearbeiten]

  • Migration. Ein Beitrag zu einer soziologischen Erklärung, Stuttgart: Enke, 1970.
  • Soziologie des Fremdenarbeiterproblems. Eine theoretische und empirische Analyse am Beispiel der Schweiz, Stuttgart: Enke, 1973.
  • Umwelt und Selbstverwirklichung als Ideologie, München: Carl Friedrich von Siemsens Stiftung, 1977.
  • Soziale Indikatoren V. Politisches Klima und Planung. Konzepte und Forschungsansätze, Frankfurt: Campus, 1977.
  • Soziale Indikatoren VI. Messung sozialer Disparitäten. Konzepte und Forschungsansätze, Frankfurt: Campus, 1978.
  • Soziale Indikatoren VII. Soziale Indikatoren im internationalen Vergleich. Konzepte und Forschungsansätze, Frankfurt: Campus, 1980.
  • Soziale Indikatoren VIII. Sozialbilanzierung. Konzepte und Forschungsansätze, Frankfurt: Campus, 1981.
  • Auslander in Der Bundesrepublik Deutschland Und in Der Schweiz. Segregation Und Integration Eine Vergleichende Untersuchung, Frankfurt: Campus, 1982.
  • Soziale Indikatoren IX. Unbeabsichtigte Folgen sozialen Handelns. Konzepte und Forschungsansätze, Frankfurt: Campus, 1982.
  • Soziale Indikatoren X. Gesellschaftliche Berichterstattung zwischen Theorie und politischer Praxis. Konzepte und Forschungsansätze, Frankfurt: Campus, 1983.
  • Planspiel Familie. Familie, Kinderwunsch und Familienplanung in der Schweiz, Diessenhofen: Rüegger, 1984.
  • Soziale Indikatoren XI. Ansprüche an die Arbeit. Umfragedaten und Interpretationen, Frankfurt: Campus, 1984.
  • Chancen und Risiken multikultureller Einwanderungsgesellschaften, Bern: Schweizerischer Wissenschaftsrat, 1992.
  • Kinderzahl und Familienpolitik im Drei-Länder-Vergleich, Boppard am Rhein: Boldt, 1992.
  • Soziologische Marginalien zur Marginalisierung durch "illegitime" Geburt in: Ludwig Schmugge (Hg.): Illegimität im Spätmittelalter, München: Oldenbourg, 1994.
  • Kultur und Geselllschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt: Campus, 1998.
  • Das Fremde in der Schweiz, Zürich: Seismo, 2001.


Literatur[Bearbeiten]

  • Judith Katenbrink (2003):
    "Die klassische Migrationstheorie von Hoffmann-Nowotny: Darstellung und kritische Anmerkungen"
    München/Ravensburg


Internetquellen[Bearbeiten]

  • Hans-Georg Soeffner: Das Fremde im Eigenen. Zum Tode von Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Nachruf aus der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Weblink: [1]
  • Nachruf an Prof. Dr. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny auf der Website der World Society Foundation. Weblink: [2]


Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Judith Katenbrink: Die klassische Migrationstheorie von Hoffmann-Nowotny: Darstellung und kritische Anmerkungen, München/Ravensburg: Grin, 2003, S. 11
  2. Judith Katenbrink: Die klassische Migrationstheorie von Hoffmann-Nowotny: Darstellung und kritische Anmerkungen, München/Ravensburg: Grin, 2003, S. 12