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Soziologische Klassiker/ Inglehart, Ronald

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Grundstruktur des Kapitels:

Biographie in Daten

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Ronald Franklin Inglehart


Akademischer Lebenslauf:

  • bis 1956: Bachelor Studium an der Northwestern University
  • bis 1962: Master Studium der Politikwissenschaft in Chicago
  • 1963/64: Fullbright Studium an der Universität Leiden (Niederlande)
  • 1967 Promotion an der Universität Chicago (Ph.D)
  • im selben Jahr Ass. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Michigan (University of Michigan - Ann Arbor)
  • 1972: Associated Professor ebenda
  • 1978: Professor an der Universität Michigan
  • seit 1985: Programmdirektor am Institut für Sozialforschung (Center for Political Studies) an der Univeraität Michigan
  • Gastprofessor u.a. in Genf, Mannheim, FU Berlin,University of Kyoto, Universität Rom


Privat:

  • Verheiratet mit Marita R. Inglehart (Ph.D)
  • Kinder: Elizabeth, Rachel, Ronald, Marita

Historischer Kontext

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Nachdem Inglehart (im Jahre 1967) promovierte, gab es eine Studentenrevolte in der "westlichen Welt" (68er Bewegung / vgl. in Deutschland: "Marsch durch die Institutionen" & "Rudi Dutschke"), die sich gegen Establishment und Authorität richtete und v.a. für "Werte" wie Selbstbestimmung, Mitsprache und kollektive Lebens- & Arbeitsformen eintrat. Kritisiert wurde dabei das kapitalistische Streben ebendieser Gesellschaft und gefordert wurde eine vermehrte Bedachtnahme auf Lebensqualität, vor allem im Hinblick auf Umweltschutz und die Akzentuierung der Individualität. Von dieser Bewegung beeinflusst, entwirft und publiziert Inglehart 1971 erstmals seine These vom Wertewandel, welche schließlich 1977 in seinem Buch "The Silent Revolution" Fuß fasste. Nachdem Inglehart seine Thesen vom Wertewandel im Zuge seiner "World Value Survey"(seit 1981) weiter ausbaute und verfestigte, waren es vor allem die Reformtätigkeiten Michail Gorbatschows seit 1985, die seine Thesen nach individueller Selbstverwirklichung der Bevölkerung untermauerten.


Theoriegeschichtlicher Kontext

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Vorab: Mit vierzehn hat Inglehart das Werk von George Orwell "1984" gelesen, welches ihm laut Eigenaussage (vgl. Armin Pongs S.191) die Augen für gesellschaftliche Phänomene geöffnet hat. Außerdem war Aldous Huxleys Roman "Brave New World" für Ingleharts Sensibilisierung gegenüber den Gesellschaftswissenschaften von Bedeutung.

Bedürfnispyramide nach Maslow

Selbstverwirklichung

Anerkennung und Wertschätzung

Sozialbedürfnis

Sicherheit

Grund- oder Existenzbedürfnisse

(Quelle:http://de.wikipedia.org/wiki/Abraham_Maslow)

Abraham Maslow entwickelte 1954 ein Bedürfnispyramidenmodell, anhand dessen sich die menschlichen Handlungsmotivationen beschreiben lassen. Diese Maslowsche Bedürfnishierarchie bildet die Grundlage für Ingelharts Forschung über den Wandel der Werte vom Materialismus hin zum Postmaterialismus. Erst wenn die Bedürfnisse der jeweils unteren Stufe der Pyramide erfüllt werden, werden die Bedürfnisse der nächst höhren Stufe interessant. Maslow liefert somit mit seinem Modell den Grundstein für Ingleharts Mangelhypothese (siehe weiter unten), welche einen gesellschaftlichen Wandel ursächlich erklären will.

Auch Max Webers Ausführungen über den Übergang von der vorindustriellen Gesellschaft zur Industriegesellschaft sind in Ingleharts Werken stets zu finden (Vgl.Modernisierung und Postmodernisierung, S.15). Die von Weber beschriebene protestantische Ethik und die daraus resultierende Anhäufung von Kapital zwischen 1870 und 1913 findet nach wie vor in den Studien von Inglehart Eingang, indem er zwischen protestantischen und katholischen "Kulturkreisen/Ländern" in seinen Studien unterscheidet (siehe:[1]). Von ihm übernimmt Inglehart die Ansicht, dass sich ein derartiger Übergang durch die alles durchdringende Rationalisierung jeglicher Bereiche einer Gesellschaft auszeichnet, was zu einer Verschiebung von traditionsgebundenen (religiösen) hin zu rationalen Werten im ökonomischen, politischen und sozialen Leben führt.

Werke

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Publikationen in deutscher Sprache:

  • Inglehart,Ronald (1982): Die stille Revolution. Vom Wandel der Werte, Athenaeum
  • Inglehart,Ronald (1989): Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Campus Verlag GmbH
  • Inglehart,Ronald (1998): Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Campus Verlag GmbH


(englische) Originalausgaben:

  • Inglehart,Ronald (1977): The Silent Revolution. Changing Values and Politic Styles among Western Publics, Princeton Univ. Press
  • Inglehart,Ronald (1990): Culture Shift in Advanced Industrial Society, Princeton Univ. Press
  • Inglehart,Ronald (1995): Value Change on Six Continents, Ann Arbor: University of Michigan Press
  • Inglehart,Ronald (1997): Modernization and Postmodernization: Cultural, Economic and Political Change in 43 Societies, Princeton Univ. Press
  • Inglehart,Ronald (1998): Human Values and Beliefs: A Cross-Cultural Sourcebook, University of Michigan Press
  • Inglehart,Ronald (2003): Rising Tide: Gender Equality and Cultural Change Around the World, Cambridge University Press, (with Pippa Norris).
  • Inglehart,Ronald (2004): Sacred and Secular: Reexamining the Secularization Thesis, Cambridge University Press, (with Pippa Norris).
  • Inglehart,Ronald (2004): Human Beliefs and Values: a cross-cultural sourcebook based on the 1999-2002 values surveys, Mexico City: Siglo XXI
  • Inglehart,Ronald/Welzel,Christian (2005): Modernization, cultural change, and democracy : the human development sequence, Cambridge Univ. Press


& zahlreiche Veröffentlichungen in Sammelwerken und soziologischen Zeitschriften!


Das Werk in Themen und Thesen

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Begriffsdefinitionen:

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  • Wertewandel: "Bezeichnung für die Veränderung von soziokulturellen Werten und Wertsystemen sowie von Wertvorstellungen, die in der modernen Gesellschaft beschleunigt abläuft und zu einem folgenreichen Schlüsselproblem geworden ist."(Hillmann, S. 966) Nach Inglehart: Verschiebung von modernen Werten (Wirtschaftswachstum, materielle Sicherheit,...) zu den postmodernen Werten (Lebensqualität, individuelle Autonomie, Selbstverwirklichung).
  • Postmaterialismus: "Begriff zur Bezeichnung [...] von [...] Wertprioritäten, die vorrangig nicht materielle Ziele beinhalten." (Hillmann, S.693) Gemeint sind damit vor allem Werte wie Mitbestimmung im politischen und Arbeitsumfeld, Rede- und Meinungsfreiheit, Umweltschutz, Ästhetik (Verschönerung städtischer und ländlicher Gebiete) et cetera. Es ist damit vor allem eine Aufwertung der Lebensqualität verbunden. Der Postmaterialismus ist ein Phänomen der Postmodernen Gesellschaft.
  • Postmoderne Gesellschaft: sind hochtechnisierte Gesellschaften, die über ein historisch einzigartiges Wohlstandsniveau verfügen. Sie durchlaufen einen gesamtstrukturellen kulturellen Wandel, der materialistische Werte stetig zurückdrängt. Eine derartige Entwicklung findet in Gesellschaften statt, die den Modernisierungsprozess erflogreich durchlaufen haben und sich nun im Prozess der Postmodernisierung befinden, der mit einer ansteigenden Betonung postmaterieller Werte einhergeht.

Wertwandelstheorie:

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In The Silent Revolution (1977) beschreibt Inglehart zum ersten Mal seine diesbezüglichen Thesen, dass die Werte der westlichen Gesellschaften sich insofern verändert haben, als dass eine Betonung der Lebensqualität im Verhältnis zur Betonung materieller und physischer Sicherheit voranschreitet. I. unterscheidet zwischen Materialisten und Postmaterialisten.

Zu den ersteren zählt die eher konservative Bevölkerungsmehrheit, also die überwiegend älteren und weniger gebildeten, ökonomisch schlechter gestellten Menschen, die noch "ältere" Wertorientierungen aufzeigen. Personen, deren Jugend von unsicheren Verhältnissen geprägt war, neigen eher zu materialistischen Werten.

Die Postmaterialisten bilden die Spitze der Inglehartschen Wertwandeltheorie: Es handelt sich dabei um jene eher junge Bevölkerungsschicht, die ein hohes Bildungsniveau und einen gehobenen Lebensstandart aufweisen. Gemäß der Maslowschen Bedürfnishierarchie sind Postmaterialisten solche Menschen, deren existenzielle und materialistische Nachfrage gedeckt ist und sich somit "höheren Werten" widmen. Eine interessante, sinnvolle Tätigkeit ist ihnen wichtiger als ein hohes Einkommen. Der Lebensstil und eine Statusmaximierung sind von zunehmender Bedeutung.

"Auch Freizeitaktivitäten spielen für sie eine wichtigere Rolle als für Materialisten" [1].

Postmaterialisten halten ihren Wohlstand für selbstverständlich und fokusieren somit andere Aspekte des Lebens an.


Ingleharts Theorie basiert auf zwei Schlüsselhypothesen:

  • Mangelhypothese:

Die Menschen begehren solche Güter, die knapp sind. Wie bereits im vorigen Absatz in Anlehnung an Maslow erwähnt, drängen Menschen nach dem Erreichen ihres physiologischen Befriedigungsniveaus (Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Sexualität) auf das Erreichen der nächsthöheren Stufe in der Bedürfnispyramide (staatliche & wirtschaftliche Stabilität, sicheren Arbeitsplatz, traditionelle Werte wie Religion, Familie...)usw.


  • Sozialisationshypothese:
    Der postmaterialistische Wertewandel 1970 png

Ein Wertewandel wird erst dann soziologisch relevant, wenn ein Großteil der Generationen in ihrer Kindheit und Jugend wirtschaftliche Prosperität (Wohlstand) erleben, und dadurch gemeinschaftlich nach neuen kulturellen Werten wie Selbstbestimmung streben. Wer in Zeiten des materiellen Notstandes aufgewachsen ist, wird mehr zu materiellen Werten tendieren als solche, die dieses Schicksal nicht teilen bzw. teilen mussten. Das ausschlaggebende Kriterium sind die formative years der in einer Wohlstandsgesellschaft sozialisierten Generation: Ein Wertewandel findet nach Inglehart demnach nicht innerhalb ein und derselben Generation statt, sondern bei bestehendem wirtschaftlichen Wohlstand nur in den jüngeren Folgegenerationen nach "Aussterben" der nach materialistischen Werten sozialisierten älteren Generationen (vgl. Grafik). Der Wertwandel vollzieht sich somit im Sinne einer Stillen Revolution.

In Ingleharts Folgewerken [Inglehart (1989) und Inglehart (1998)] werden seine Theorien weiter ausgeführt und zudem stützen sie sich mittlerweile auf in 43 Gesellschaften (70% der Wetlbevölkerung) erhobenen Daten. Weiters kann er nachweisen, dass eine zunehmende Toleranz gegenüber Abtreibung, Ehescheidung, Homosexualität, außerehelichen Sex, Sterbehilfe und Selbstmord in Staaten stattgefunden hat, in welchen von ihm bereits 1977 eine postmaterialistische Wende festgestellt respektive prognostiziert wurde.

Rezeption und Wirkung

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Inglehart ist für die Wertewandelforschung einer der bedeutendsten (wenn nicht sogar der bedeutendste) Vertreter der Gegenwart. Seine empirischen Studien bezüglich des Postmaterialismus und der Postmoderne machen ihn zum wegweisenden und vielleicht wichtigsten noch lebenden Sozialforscher, wenngleich er auch Kritik erntet. Als Präsident der schwedischen World Value Survey Organisation ist er der Kopf eines beinahe weltweit tätigen Forscherteams, welches seit 1981 empirische Daten sammelt und somit einzigartig in diesem Umfang, Aussagen über die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Einstellungen der (Welt)Bevölkerung treffen kann. Diese Daten, sind für Organisationen wie die Weltbank oder die Vereinten Nationen gute Anhaltspunkte, wie sich die Welt entwickeln könnte.


Literatur

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  • Hillmann, Karl-Heinz(2007):
    "Wörterbuch der Soziologie. 5., vollständig überarbeitete Auflage"
    Stuttgart
  • Inglehart, Ronald (1998):
    "Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften"
    Frankfurt/Main
  • Kässler, Dirk/Vogt, Ludgara [Hg.] (2000):
    "Hauptwerke der Soziologie"
    Stuttgart
  • Oesterdiekhoff, Georg W. [Hg.] (2001):
    "Lexikon der soziologischen Werke"
    Wiesbaden
  • Pongs, Armin (2004):
    "In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Individuum und Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung. 2., erw. u. überarb. Auflage. Band 1"
    München
  • Reinhold, Gerd [Hrsg.] (2000):
    "Soziologie-Lexikon. 4. Auflage"
    Oldenburg


Internetquellen

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Einzelnachweise

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  1. Inglehart , Ronald in: Pongs, Armin, S. 201