Soziologische Klassiker/ Spencer, Herbert

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Biographie in Daten[Bearbeiten]

Spencer Herbert

  • geboren am 27. April 1820 in Derby (England)
  • gestorben am 8. Dezember 1903 in Brighton (England)


Familie[Bearbeiten]

Vater: William Georg Spencer, Lehrer

Mutter: Harriet Spencer (geb. Holmes), Hausfrau

Geschwister: Louise (starb mit drei Jahren)

4 Brüder und 3 Schwestern (starben alle vor dem ersten
Lebensjahr)

Ehe: keine

Kinder: keine


Werdegang[Bearbeiten]

27.4.1820: geboren als erstes und einzig überlebendes Kind in Derby

Spencer war ein sehr schwaches, wiederholt krankes Kind, weshalb ein regelmäßiger Schulbesuch nicht möglich war (3 Jahre Elementarschule).Privatunterricht von seinem Vater; war in keiner Weise ein „Wunderkind“, galt eher als zurückgeblieben; mit über sieben Jahren lernte er erst lesen; Schwerpunkt lag bei Mathematik und Naturwissenschaften


1833-1836: Übersiedlung zu seinem Onkel Thomas Spencer, ein Geistlicher und Lehrer, nach Hinten Charterhouse bei Bath (England), der ihm einen gleichmäßigen Unterricht und unter strenger Zucht ermöglichte; Weiterbildung in Chartismus und nonkonformistischem Protestantismus


1836-1837: Heimkehr nach Derby; wiederum Unterricht durch seinen Vater


Sommer 1837: Ende seiner eigentlichen Schulzeit; drei Monate Hilfslehrer an einer Schule in Derby


1837-1841: Eisenbahningenieur beim Bau der London-Birmingham Railway; 1838 Handwerker bei der Birmingham-Gloucester Railway; in der Zwischenzeit Fortsetzung seiner mathematischen Studien; 1839 Mitarbeiter bei der Zeitschrift „Civil Engineer and Architect’s Journal“


April 1841: Rückkehr ins Elternhaus nach Derby; studierte eifrig die Botanik, übte sich im Federzeichnen, mechanische Erfindungen und politische Tätigkeiten


1842: Beginn der Karriere als Wissenschaftler, Schriftsteller und als Journalist bei der radikalen Zeitung "The Nonconformist" und bei der wissenschaftlichen Zeitschrift "Zoist. A journal of cerebral physiology and mesmerism, and their application to human welfare"


1844-1846: wiederum als Bahningenieur tätig; danach endgültiges Ende seiner Laufbahn als Ingenieur


1847-1848: mit Erfindungen und technischen Entwicklungen beschäftigt


Herbst 1848-1852: Unterredakteur bei der angesehenen finanziellen und ökonomischen Wochenschrift Englands „ The Economist“ (London)


1848-1850: Vollendung seines ersten umfassenden Werkes „The Social Statics“; Werk erregte in auserlesenen Kreisen viel Aufsehen


1853: Erscheinung eines weiteren großen Werkes, seine Prinzipien der Psychologie


1853-1903: Privatgelehrter, Journalist, Philosoph und Wissenschaftler. Viele seiner Werke erschienen als Artikelserien, etwa in "The Fortnightly Review" (London). Regelmäßige Beiträge in "The Contemporary Review" (London-New York, N.Y.), "The Times" (London), "The Nineteenth Century. A monthly review"(London) und "Nature" (London)


1882: Reise in die USA


1898-1903: lebte in Brighton, wo er auch starb


Historischer Kontext[Bearbeiten]

Die industrielle Revolution, die bereits am Ende des 18. Jahrhunderts stark eingesetzt hatte, geriet am Ende des 19. Jahrhunderts in eine Krise. Bis dahin war jeder für sich selbst verantwortlich, ganz nach dem Motto „ Jedermann ist seines Glückes Schmied“. Nun fing aber der Staat an, Sozialpolitik zu betreiben, indem er im Wettbewerb der Menschen zugunsten der sozialen Schwächeren eingriff. Diese Sozialpolitik war Spencer ein Dorn im Auge. Für ihn stand fest, dass die Evolution die Stärksten und Lebenstüchtigsten übriglasse und sah daher im Eingreifen des Staates in diesen Prozess keinen Grund.


Theoriegeschichtlicher Kontext[Bearbeiten]

Herbert Spencer stammt aus einer alten Lehrerfamilie; sein Großvater, Vater und Onkel waren Lehrer. Sein Vater war als ein überaus gebildeter, selbstständig denkender und geistig reger Mann bekannt. In seiner Tätigkeit als Lehrer legte er keinen Wert auf die üblichen Methoden, welche die Kinder mit Bücherwissen überlud, sondern brachte die Kinder dazu, ihr Wissen durch das selbsttätige und selbstständige Denken und Beobachten zu erlangen. Die Pädagogik seines Vaters findet sich in all seinen Aufsätzen über die Erziehung wieder und hat auf seine geistige Entwicklung einen bestimmenden Einfluss genommen.

Da Spencer über einen relativ langen Zeitraum publiziert hat, kommt es bei seiner Literatur häufig zu Unstimmigkeiten, da er wiederholt in sich widersprüchliche Ausführungen tätigte. Dies hat zu Folge, dass viele Abhandlungen über Spencer dem Autor nicht gerecht werden. Es wird die These vertreten, dass die britische Soziologie im Kampf gegen Spencers Theorien entstanden sei. Die organizistische Schule der Soziologie im deutschen Sprachraum, zu der Personen wie Ludwig Gumplowicz oder Gustav Ratzenhofer gehören, wurde von Spencer stark beeinflusst. In Gustav Schmoller’s Werk, ein führender Vertreter der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, kann man auch ganz deutlich die Einflüsse Spencers feststellen. Spencer ist noch immer einer der meist umstrittensten soziologischen Klassiker. Viele Autoren akzeptieren ihn nicht als Soziologen, sondern sehen in Spencer vielmehr einen „Philosophen“ bzw. „Sozialphilosophen“. Helmut Schelsky hingegen charakterisiert die Soziologie Spencers als „in ihren Grundannahmen höchst modern und meint, die modernen Systemtheoretiker wären ihm mehr verpflichtet, als sie angeben oder wissen“. Zusammenfassend lässt sich nun sagen: Spencer als Person ist allmählich in Vergessenheit geraten, seine Theorien und Ideen aber wirken weiter bzw. haben gegenwärtiges Denken vorweggenommen.


Werke[Bearbeiten]

Spencers Schriften und wichtigste Literatur

  • 1842: Letters on the Proper Sphere of Governement
  • 1951: Social Statics
  • 1852: Theory of Polulation (Teil 6 der Prinzipin
    der Biologie)
  • 1852: The Development Hypthesis (Bd.I) [1]
  • 1852: The Sourcs of Architectural Types (Bd. II)
  • 1852: Philosophie of Style (Bd.II)
  • 1852: Gracefulness (Bd. II)
  • 1853: Overlegislation (Bd. III)
  • 1853: The Universal Postulate (Später Teil VII,
    Kap. 9 der Prinzipien der Psychologie)
  • 1854: The Art of Education
  • 1854: Railway Morals and Railway Policy (Bd. III)
  • 1855: Principles of Psychology, erste Auflage
  • 1857: Progress, its Law and Cause (Bd. I)
  • 1857: Transcendental Physiology (Bd. I)
  • 1857: Representative Government (Bd. III)
  • 1858: State Tamperins with Monex and Banks (Bd. III)
  • 1858: Moral Education
  • 1858: The Nebular Hypothesis
  • 1858: Archetype and Homolgies of the Vertebrate Skeleton
  • 1859. The Lows of Organic Form (Teil IV der Biologie)
  • 1859: What Knowledge is of most Worth?
  • 1859: Illogical Geology (Bd. I)
  • 1859: The Morals of Trade (Bd. III)
  • 1860: Bain on the Emotions and the Will (Bd. I)
  • 1860: The Social Organism (Bd. 1)
  • 1860: The Physiology of Laughter (Bd. II)
  • 1860: Parliamentary Reform (Bd. III)
  • 1860: Prison Ethics (Bd. III)
  • 1861: Education, Intellectual, Moral and Physical;
    gesammelte pädagogische Aufsätze
  • 1862: First Principles
  • 1862: On Laws in General and the Order of their
Discovery (Bd. II)
  • 1864: Classification of Sciences (Bd. II)
  • 1864: Reasons for Dissenting from the Philosophy
    of A. Comte (Bd. II)
  • 1865: The Collective Wisdom (Bd. III)
  • 1865: Political Fetichism (Bd. III)
  • 1865: Mill versus hamilton (Bd. II)
  • 1867: First Principles; zweite, stark
    umgearbeitete Ausgabe
  • 1867: Priciples of Biology, 2 Bände
  • 1870: Origin of animal Worship (Bd. I)
  • 1871: Specialized Administration (Bd. III)
  • 1871: Morals and Moral Sentiments (Bd. I)
  • 1872: Principles of Psychology, 2 Bände, 2. Ausgabe
  • 1872: Mr. Marineau on Evolution (Bd. I)
  • 1873: The Study of Sociology
  • 1873: Replies to Criticisms (Bd. II)
  • 1876: Comparatice Psychology of Man (Bd. I)
  • 1877: Principles of Sociology, erster Band
  • 1879: Ceremonial Institutions (vierter Teil der
Soziolgie)
  • 1879: The Data of Ethics (erster Teil der
    Prinzipien der Ethik)
  • 1882: Political Institutions (fünfter Teil der
Soziologie)
  • 1882: The Americans (Bd. III)
  • 1884: The Man versus The State
  • 1884: Retrogressive Religion (Nineteenth Century
    Magazin, Juli)
  • 1884: Last Words about Agnosticism (Nineteenth
    Century Magazin, November)
  • 1885: Ecclesiastical Institutions (sechster Teil
    der Soziologie)
  • 1885: A Rejoinder to M. de Laveleye (Contemporary
    Review, April)
  • 1886: The Factors of Organic Evolution (Bd. I)
  • 1888: The Ethics of Kant (Bd, III)
  • 1890: Absolute Political Ethics (Bd. III)
  • 1891: From Freedom to Bondage (Bd. III)
  • 1891: Justice (vierter Teil der Ethik)
  • 1892: The Inducations of Ethics . The Ethics of
    Individual Life (zweiter und dritter Teil der Ethik)
  • 1892: Social Statics; umgearbeitete Ausgabe
  • 1892: The Inadequacy of Natural Selection
  • 1893: Negative Beneficence – Positive Beneficence
    (fünfter und sechster Teil der Ethik)
  • 1893: A Rejoinder to Prof. Weismann
  • 1894: Weismannism once more
  • 1894: The late Professor Tyndall (Fortnightly
    Review, Februar)
  • 1895: Professional Institutions (siebte Teil der Soziologie)
  • 1895: Mr. Balfour’s Dialectics (Fortnightly Review, Juni)
  • 1895: Lord Salisbury on Evolution (Nineteenth
    Century Magazin, November)
  • 1896: Industrial Institutions (achte und letzter
    Teil der Soziologie)
  • 1896: The Relations of Biology, Psychlogy and
    Sociology (Popular Science Monthly, Dezember)
  • 1896: Against the Metric System
  • 1897: Various Fragments
  • 1898: Principles of Biology, Vol. I (revised and
    enlarged edition)
  • 1899: Principles of Biology, Vol. II (revised and
    enlarged edition)


Das Werk in Themen und Thesen[Bearbeiten]

Spencers Grundthese war das Entwicklungsgesetz und all ihre einzelnen Teile: die Biologie, Psychologie, Soziologie und die Ethik. Die verschiedenen Formen des Lebens, was sein wird und alles was war, interessieren Spencer nur als Illustration für dieses Gesetz.

Spencers Philosophie:[Bearbeiten]

In den folgenden 16 Thesen hat Spencer selbst, die Quintessenz seiner Philosophie niederschrieben (Zitiert nach Gaupp Otto, 1900: Herbert Spencer,Stuttgart, S. 43-46)

  • Überall im Universum, im Allgemeinen wie im Einzelnen, geht eine unaufhörliche Andersverteilung von Materie und Bewegung vor sich.
  • Diese Andersverteilung ist Entwicklung, wenn Integration von Materie und Zerstreuung von Bewegung überwiegen; so ist Auflösung, wenn Aufnahme (Absorption) von Bewegung und Distintegration von Materie überwiegen.
  • Die Entwicklung ist einfach, wenn der Prozess der Integration oder der Bildung eines zusammenhängenden Aggregates vor sich geht, ohne durch andere Prozesse kompliziert zu sein.
  • Die Entwicklung ist zusammengesetzt, wenn diesen primären Übergang aus einem unzusammenhängenden zu einem zusammenhängenden Zustand sekundäre Veränderungen begleiten, die sich daraus ergeben, dass die verschiedenen Teile des Aggregats verschiedenen äußeren Einwirkungen ausgesetzt sind.
  • Diese sekundären Veränderungen stellen sich dar als die Umwandlung eines Gleichartigen (Homogenen) in ein Ungleichartiges (Heterogenes) – eine Umwandlung, die wie die erste das Universum als ein Ganzes und alle seine Bestandteile aufweisen: das Aggregat der Sterne und Sternennebel, das Planetensystem die Erde als eine unorganische Masse, jeder Organismus, er sei Pflanze oder Tier (von Bär’s Gesetz), das Aggregat der Organismen während der ganzen geologischen, der menschliche Geist, alle Produkte sozialer Tätigkeit.
  • Der Prozess der Integration, der sowohl lokal als allgemein wirkt, kombiniert sich mit dem Prozess der Differenzierung und macht dadurch diese Veränderung zu einem Übergang nicht einfach von Gleichartigkeit zu Ungleichartigkeit, sondern von unbestimmter Gleichartigkeit zu bestimmter Ungleichartigkeit. Dieses Merkmal zunehmender Bestimmtheit, das das Merkmal zunehmender Ungleichartigkeit begleitet, zeigt sich gleichfalls in der Gesamtheit der Dinge und in allen ihren Abteilungen und Unterabteilungen bis herab zu den kleinsten.
  • Begleitet wird die Andersverteilung der Materie, in der die Entwicklung eines jeden Aggregates besteht, von einer Andersverteilung der inneren gegenseitigen Bewegung seiner Bestandteile; diese wird gleichfalls schrittweise bestimmter ungleichartig.
  • In Abwesenheit einer Gleichartigkeit, die unbegrenzt und absolut ist, ist diese Andersverteilung, deren Eine Phase die Entwicklung ist, unvermeidlich. Die Ursachen, die sie notwendig machen, sind:
  • Die Unbeständigkeit des Gleichartigen, die darin begründet ist, das die verschiedenen Teile jedes begrenzten Aggregates den einfallenden Kräften auf ungleiche Weise ausgesetzt sind. Die Umwandlungen, die daraus folgen, werden kompliziert durch die ...
  • ... Vervielfältigung der Wirkungen: Jede Masse und jeder Massenteil, die eine Kraft trifft, zerteilen und differenzieren dies Kraft, die infolgedessen eine Mannigfaltigkeit von Veränderungen bewirkt, von denen dann jede die Quelle ähnlich sich vervielfältigender Veränderungen wird. Ihre Vervielfältig wird umso größer, je ungleichartiger das Aggregat wird. Und diese zwei Ursachen wachsender Differenzierungen werden unterstützt durch die ...
  • ...Scheidung eines Prozess, der darauf hinarbeitet, unähnliche Einheiten zu trennen und gleiche Einheiten zusammenzubringen, was beständig dazu dient, Differenzierungen, die auf andere Weise entstanden sind, zu verschärfen oder bestimmt zu machen.
  • Entstehung eines Gleichgewichts ist das endgültige Ergebnis der Umwandlungen, die ein sich entwickelndes Aggregat durchläuft. Die Veränderungen dauern fort, bis ein Gleichgewicht hergestellt ist zwischen den Kräften, denen alle Teile des Aggregats ausgesetzt sind, und den Kräften, die diese Teile ihnen entgegensetzen. Die Gleichgewichtsherstellung kann auf dem Weg zum endgültigen Gleichgewicht hindurch müssen durch ein Übergansstadium ausgeglichener Bewegungen ( wie im Planetensystem) oder ausgeglichener Funktionen (wie im lebendigen Körper); aber der Zustand der Ruhe in unorganischen Körpern oder des Todes in organischen ist die notwenige Grenze der Veränderungen, aus denen Entwicklung besteht.
  • Auflösung ist die entgegengesetzte Veränderung, der früher oder später jedes entwickelte Aggregat verfällt. Indem es umgebenden Kräften, die nicht ausgeglichen sind, ausgesetzt bleibt, neigt es beständig dazu, sich durch allmähliche oder plötzliche Vermehrung der in ihm enthaltenen Bewegung aufzulösen. Diese Auflösung, die bei früher belebten Körpern schnell und bei unbelebten Massen langsam vor sich geht, steht in unbestimmt entfernter Zeit auch jeder Sternen- und Planetenmasse bevor, die sich seit einer unbestimmt entfernten Zeit in der Vergangenheit langsam entwickelt hat. Der Zyklus ihrer Umwandlungen ist damit vollendet.
  • Dieser Rhythmus von Entwicklung und Auflösung, der sich in kleinen Aggregaten in kurzer Zeit vollendet und in großen, durch den Raum zerstreuten Aggregaten Perioden braucht, die menschliches Denken nicht abmessen kann, ist, soweit wir sehn können, allgemein und ewig: jede der zwei abwechselnden Phasen des Prozesses herrscht bald in diesem, bald in jedem Teil des Raumes vor, wie es die lokalen Verhältnisse bestimmen.
  • Alle diese Erscheinungen in ihren großen Zügen bis herab zu ihren kleinsten Einzelheiten sind notwendige Folgen des Fortbestehens der Kraft unter ihren Formen, Materie und Bewegung. Wenn diese in ihrer bekannten Verteilung im Raum gegeben sind, und wenn die Unveränderlichkeit ihrer Quantität, sei es durch Zu- oder Abnahme, gegeben ist, so folgen unvermeidlich die beständigen Andersverteilungen, die wir als Entwicklung und Auflösung unterschieden, und alle jene besondern Merkmale, die wir bisher aufgezählt haben.
  • Das, was unter diesen Erscheinungen unveränderlich in Quantität, aber immer wechselnd in der Form fortbesteht, übersteigt menschliches Wissen und Begreifen; es ist eine unbekannte und unerkennbare Kraft, die wir als unbegrenzt im Raum und ohne Anfang und Ende in der Zeit anerkennen müssen.


Auf die Fragen, ob es etwas Absolutes gibt und ob hinter der Erscheinungswelt eine letzte Realität steckt, gibt Spencer eine durchaus positive Antwort. Wobei er meint, dass wir von ihm mehr wissen könnten als seine bloße Existenz. Um die innerste Natur des Kosmos, also die Gesamtheit der Phänomene verstehen zu können, versucht Spencer zu erklären, wie es zu dem geworden ist, was es ist. In der Philosophie gibt es hier zwei Erklärungsansätze: Der eine besagt, dass die Welt und was sie enthält, von einem höheren Wesen geschaffen worden ist und hält sich dabei an die Analogie menschlichen Schaffens. Der zweite Erklärungsansatz, an dem auch Spencer festhält, folgt der Analogie des Wachsens. D. h. die Welt ist gewachsen und hat sich auf natürlichem Wege zu dem entwickelt, was sie ist.


Spencers Soziologie:[Bearbeiten]

So wie Spencer versucht das Werden des Kosmos zu erklären, sind für ihn dieselben Gesetze und Ursachen der Schlüssel für das Verständnis der Entwicklung der Menschheit. Die Entwicklung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Spencer als superorganische Entwicklung bezeichnet, hat er in den drei Bänden „Prinzipien der Soziologie“ zusammengefasst. Spencer schildert darin die Entwicklung des Menschen als einen allmählichen Prozess der Selbstanpassung an ihre Lebensbedingungen, wobei er davon ausgeht, dass der Mensch in einen Zustand kommt, in dem diese Selbstanpassung vollendet ist. Hier setzt dann die Ethik an.


Seine Grundthesen zur Soziologie:

  • Die Gesellschaft gleicht einem Organismus: Damit meint Spencer, dass die Gesellschaft mit all ihren Einrichtungen etwas organisch Gewachsenes ist, nicht etwas Fabriziertes. Sie ist ein lebendiger Organismus und kein toter Mechanismus.


  • „Survival of the Fittest“: Diese Formel wird heute häufig fälschlicherweise Charles Darwin zugeschrieben. In Wirklichkeit wurde sie jedoch von Spencer geprägt. Er geht davon aus, dass jeder Organismus versucht, zu überleben. Die Gesellschaft als Organismus sucht nun dafür nach einem inneren und äußeren Gleichgewicht, das sich durch Differenzierung und Anpassung ergibt. Nur Gesellschaften die sich an die Umwelt anpassen können, überleben. Einzelne Menschen oder bestimmte soziale Gruppen, die diesem Kampf nicht standhalten können, gehen dabei unter und spielen für das Gesamtsystem keine weitere Rolle. Der Einzelne ist nur insofern wichtig, wenn er den Gesamtorganismus voranbringt. Dieser Kampf ums Dasein des Organismus bestimmt gleichzeitig die Evolution.


  • Zwischen dem gesellschaftlichen und dem individuellen Organismus bestehen Analogien: Die soziale Entwicklung ist nur ein Teil des allgemeinen Weltprozesses der Entwicklung. Spencer führt hier vier Hauptpunkte an, bei denen sich seiner Meinung nach Gemeinsamkeiten zwischen Gesellschaft individuellen Organismen finden lassen:
    1. „Mit kleinen Ansammlungen beginnend nehmen sie unmerklich an Masse zu, so dass einige von ihnen schließlich zum Tausendfachen dessen werden, was sie ursprünglich waren.“
    2. „Während ihre Struktur anfangs so einfach ist, dass sie beinahe strukturlos erscheinen, wird sie im Lauf ihres Wachstums immer verwickelter.“
    3. „Während in ihrem ursprünglichen, unentwickelten Zustand eine gegenseitige Abhängigkeit der Teile kaum besteht, wächst diese gegenseitige Abhängigkeit schrittweise, bis sie schließlich so groß wird, dass Tätigkeit und Leben jedes Teiles durch die Tätigkeit und das Leben aller übrigen bedingt sind.“
    4. „Das Leben der Gesellschaft dauert länger und ist unabhängig von dem Leben der sie bildenden Einheiten, die geboren werden, wachsen, arbeiten, sich vermehren und sterben, während der gesellschaftliche Körper, den sie bilden, Generation um Generation überlebt und dabei an Masse, in Vollständigkeit der Struktur und Vielseitigkeit der funktionellen Tätigkeiten zunimmt.“


Die hier von Spencer formulierten Übereinstimmungen zeigen, dass nicht nur alle anderen organisierten Aggregate dem Entwicklungsgesetz folgen, sondern dies auch für die gesellschaftliche Entwicklung gilt. Indem eine Gesellschaft immer mehr an Masse gewinnt, sich immer mehr differenziert, ihre Teile voneinander immer unabhängiger und ihre Strukturen ungleichartiger werden, wird eine Gesellschaft immer mehr integriert. Gesellschaften entwickeln sich demnach von einer unzusammenhängenden Gleichförmigkeit zu einer zusammenhängenden Ungleichförmigkeit, also von einer Homogenität zu einer Heterogenität.


  • Soziale Evolution: Spencer unterteilt den Evolutionsprozess in die unorganische Evolution (also die Entstehung des Weltalls und der Erde), die organische Evolution (biologische Evolution) und schließlich die superorganische Evolution, womit er die soziale Entwicklung und die Entstehung der Moral meint.


  • Klassentheorie: Spencer unterteilt die Gesellschaft in drei Grundsysteme, die man je nach Gesellschaftszustand vorfindet.
    1. Ernährungsorgane:' Diese Stufe findet man in allen Gesellschaften wieder. Hier werden die Rohstoffe für den sofortigen Gebrauch verarbeitet. Es ist die unterste soziale Schicht, die von den angeeigneten Stoffen der Erde lebt (Ackerbaugesellschaft).
    2. Organe der Regulierung: Es wird nicht mehr nur für den Eigenbedarf, sondern auch Überschuss produziert. Es gibt jedoch noch keine Verteilung im Sinne eines Tausches. Die Verteilung erfolgt vielmehr auf Basis der Macht.
    3. Organe der Verteilung: Die Produzierte Ware muss an den Endverbraucher weitergeleitet werden.


  • Von primitiven Gesellschaften zu industriellen Gesellschaften
    1. Primitive Gesellschaften:
      • nur geringe Arbeitsteilung
      • Zusammenballung von Einzelnen (Aggregate)
      • wenig regulierte Gruppenarbeit
      • durch Sitte erfolgt die soziale Kontrolle
      • Funktionen werden erst später geteilt; Nahrungsmittelproduktion und Verteilung ist die Aufgabe aller Mitglieder
      • natürliche Umwelt dominiert
    2. Militärische Gesellschaft:
      • mehr Arbeitsteilung und Berufsdifferenzierung
      • der Zusammenhalt wird durch Macht garantiert
      • Kooperation erfolgt durch Zwang
      • Kontrolle der Gesellschaft erfolgt durch die Politik
      • es wird nach Befehlen gehandelt
      • Konformität ist erzwungen
    3. Industrielle Gesellschaft:
      • hohe Komplexität, d.h. große Differenzierung
      • die einzelnen Teile sind dadurch stark voneinander anhängig
      • der Zusammenhalt wird durch Verträge garantiert
      • Kooperation erfolgt freiwillig; die staatliche Kontrolle wird abgebaut
      • Chancen auf Nonkonformismus


Rezeption und Wirkung[Bearbeiten]

Spencer gilt als der wichtigste Repräsentant des geistigen Lebens der Victorianischen Epoche. Seine Werke reflektieren die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und in den USA dominanten Wertstrukturen. Der publizistische Erfolg von Spencers Werken lässt sich zum Großteil darauf zurückführen, dass seine Schriften und Arbeiten leicht als wissenschaftliche Rechtfertigungsideologie eines extrem liberalen Manchesterkapitalismus ausgelegt werden konnten. Spencer war der Ansicht, dass zur Erreichung des größtmöglichen Gemeinwohls die Verfolgung von Eigeninteressen ohne staatliche Eingriffe nötig sei. Dieser Gedanke traf insbesondere in den USA auf eine große Rezeptionsbereitschaft.


Literatur[Bearbeiten]

  • Gaupp, Otto (1900):
    "Herbert Spencer, zweite, vermehrte Auflage"
    Stuttgart
  • Kaesler, Dirk [Hrsg.] (1999):
    "Klassiker der Soziologie. Von Auguste Comte bis Norbert Elias"
    München
  • Korte, Hermann (1995):
    "Einführung in die Geschichte der Soziologie, 3. Auflage"
    Deutschland
  • Wiswede, Günter (1985):
    "Soziologie- Ein Lehrbuch für den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereich"
    Landsberg


Internetquellen[Bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Angaben in Klamer (Bd. I,II,III) beziehen sich auf Essays: Scientific, Political and Speculative. Library Edition 1891. 3 Bde.