Studienführer Hans Albert: Zusammenfassungen und Kommentare zu Büchern
1954-1960
1961-1970
1971-1980
- B 14: Traktat über rationale Praxis (1979)
Einleitung: Die Möglichkeiten der Philosophie und die menschliche Praxis
Bestimmte vorteilhafte Züge der Erkenntnispraxis können auf menschliche Praxis überhaupt übertragen werden. Dabei ist Kant auch für den Kritischen Rationalismus (KR) von Bedeutung, indes nicht seine ihm eigentümliche transzendentale Begründung. Auch Kants Betonung der Autonomie der Person wird übernommen. Insofern wird hier die politische Philosophie des KR behandelt. Eine Philosophie, die sich am alten Ideal einer umfassenden Erkenntnis orientiert, ist auch heute noch möglich, und zwar als stets hypothetisches und daher der Revision offen stehendes Überbrückungsunternehmen. Diese Funktion hatte auch schon Kants Philosophie. Eine derartige Philosophie lässt sich von den Wissenschaften weder sauber abgrenzen, noch kann sie ein eigenes Reservat beanspruchen. Distanzierung von marxistischer Geschichtsphilosophie durch methodischen Rationalismus.
I. Kapitel: Kritizismus und rationale Praxis
1. Die Überwindung des klassischen Rationalitätsmodells und ihre Konsequenzen
Es kann keine absoluten Begründungen geben. Sie zu fordern ist utopisch. Objektivität und Rationalität ist möglich, indem man die Forderung einer Wahrheitsgarantie fallen lässt. Den Ausweg in einem Dezisionismus zu suchen ist daher nicht notwendig. Bezüglich dieser fundamentalen Problemstruktur gibt es keinen Unterschied zwischen Erkenntnis und Moral. Dabei geht es nicht darum, einen besonderen wissenschaftlichen Verhaltensstil auf andersartige Lebensbereiche zu übertragen.
2. Transzendentaler Ansatz und kritischer Realismus
Von der Kritik am klassischen Rationalismus ist Kants transzendentale Methode als Ableitungsverfahren, das auf apodiktische Gewissheit zielt, mitnichten ausgenommen. Gibt man letztere Zielsetzung auf, kann Kants Erkenntnistheorie als Versuch uminterpretiert werden, Erkennen durch Hypothesen über die Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens zu erklären. Das Erkenntnissubjekt kann als reales Subjekt aufgefasst werden, das Erkennen als Prozess unter realen Bedingungen. Diese Konzeption wäre mit einem kritischen Realismus verträglich. Selbst wenn man die Geltungsproblematik in den Vordergrund stellte, kann die Vorstellung einer autonomen Erkenntnistheorie aufgegeben werden, schon um die Immunisierung gegenüber Kritik zu hindern. Aber auch Wissenschaft als ein Sprachspiel zu definieren wäre eine Immunisierung. Wissenschaftsmethodologie schlägt vielmehr Technologien vor, wobei letztere kritisierbare Annahmen über die wirkliche Problemlösungspraxis treffen. Auch Methodologien sind revidierbar. Der Schein eines logischen Zirkelschlusses ergibt sich nur beim Bestehen auf absolutem Begründen.
3. Die menschliche Problemlösungstätigkeit und die Idee rationaler Praxis
Eine rationale Konzeption kann an allgemeinen Strukturmerkmalen menschlichen Problemlösens anknüpfen. Beispiel: Probleme präsentieren sich immer kontextabhängig. Frühere Entscheidungen engen spätere ein. Unter dem Aspekt der Knappheit sind Lösungsalternativen sich ausschließend oder ergänzend. Sie müssen identifiziert und bewertet werden. Entscheiden unter Ungewissheit ist der Normalfall; Modelle mit kalkulierbarem Risiko oder unter Gewissheit können bestenfalls Näherungen liefern. Praktisches Handeln völlig kalkulierbar zu machen, ist Utopie.
4. Zielsetzungen, Maßstäbe und Methoden: Zur Methodologie rationaler Praxis
Methodologie ist kein striktes Regelwerk oder Algorithmus, der sich auf die Geltungsproblematik beschränkt, sondern nichts anderes als eine rationale Heuristik. Viele Normierungen schreiben nicht mehr als Ziele allgemeinerer Art vor. Forschungspraxis vollzieht sich nicht in einem Vakuum, sondern geht von überkommenen Problemstellungen und Lösungsversuchen aus; die Leistungsfähigkeit der letzteren ist zu beurteilen: Selektion, Klärung, Interpretation und vergleichende Bewertung und relevanten Gesichtspunkten. Die Pointe des Fallibilismus liegt in der Konstruktion alternativer Lösungsvorschläge und deren komparativer Bewertung. Die Suche nach Alternativen und Anomalien gehört wesentlich zur rationalen Praxis. Regulative Ideen oder Ideale wie Wahrheit, Gerechtigkeit oder Schönheit müssen bereichspezifisch gefasst und zu Kriterien konkretisiert werden. Die zu suchende Lösung soll der Kritik standhalten; also tut man gut daran, schon im Voraus nach schwachen Punkten selbst zu suchen und möglichen Einwänden zu begegnen.
II. Die Wahrheitsidee und die Steuerung der Erkenntnis
5. Der Normenwandel in der Erkenntnis und die Idee der Objektivität
Die Erkenntnispraxis der Wissenschaftler geht über Umweg und Sackgassen; das muss eine Wissenschaftstheorie berücksichtigen, die sich nicht als angewandte Logik, sondern als Kritik der in der Praxis angewandten Methoden und Kriterien versteht. Die Idee der Objektivität zusammen mit einem dialektischen Denkstil, der jede Problemlösung als eine Hypothese behandelt, erlauben, keine - auch nicht die angeblich letzten – Kriterien vor Kritik zu immunisieren.
6. Theoretische Erklärung und Wahrheit: Der kritische Realismus und das Erkenntnisprogramm der Realwissenschaften
Die Forderung der methodischen Einheit der Wissenschaften leugnet weder die Vielfalt der Forschungsinteressen noch die Unterschiedlichkeit der Objektbereiche und der darauf angewandten Forschungsstile. Die Einheitlichkeit ist gegeben auf der Ebene rationaler Problemlösung. Abzulehnen ist die Beschränkung auf die reine Beschreibung von Wissenschaftlerverhalten oder gar einer Legitimierung bestehender Erkenntnispraktiken durch Hinweis auf deren Existenz. Theoretische Wissenschaft ist ein Erkenntnisprogramm der theoretischen Erklärung auf der Basis von Gesetzmäßigkeiten und ist somit kritischer Realismus ins Methodische gewendet. Hierbei haben sich metaphysische Annahme als heuristisch fruchtbar erwiesen, obwohl nicht alle schon hinreichend geklärt sind: die Annahme einer subjektunabhängigen Wirklichkeit, deren prinzipielle Erkennbarkeit, die Existenz von Gesetzmäßigkeiten und die Möglichkeit nomologischer Erklärungen, die Möglichkeit zutreffender Darstellung realer Sachverhalte. Antirealismus ist motiviert durch die Koppelung der Wahrheitsidee mit der einer Garantie. Es muss weiterhin auseinander gehalten werden, 1. was unter "Wahrheit" zu verstehen sei (Begriff), 2. wie die Wahrheit festgestellt werden kann (Entscheidungsverfahren). Poppers Vorstellung der Wahrheitsannäherung hat sich als mangelhaft herausgestellt.
7. Freiheit und Norm: Die Methodologie als rationale Heuristik
Methodologie ist kein Algorithmus, sie hat neben kalkulatorischen auch spekulative Aspekte und kann den Erfolg nicht verbürgen. Ziele, regulative Idee, methodische Normen, Wertgesichtspunkte, all das sind Konstruktionen und entsprechend kritisierbar. Das zwingt zu kontextgebundenen Entscheidungen über gesuchte und konstruierte Alternativlösungen. Kritik an Erkenntnissackgassen ist von Kritik an unerwünschten Wirkungen von Wissenschaft zu unterscheiden. Methodische Normen setzen Einsichten in die Beschaffenheit realer Zusammenhänge in eine Anleitung zum praktischen Handeln um, wobei bestimmte Zielsetzungen unterstellt werden. Hingegen ist kaum nachvollziehbar, woraus sich für einen Antirealisten der Sinn methodologischer Zwecksetzungen für Realwissenschaften ergibt. Das zeigt sich insbesondere im Begriff von "Bewährung" einer Hypothese. Die überlieferte Trennung zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang lässt sich nicht scharf durchhalten. Dadurch fällt auch die damit verbundene Scheidung von Methodologie und Heuristik.
8. Die soziale Einbettung der Wissenschaft und die Steuerung der Erkenntnispraxis
Für eine soziologische Erklärung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses; gegen einen totalisierten Ideologieverdacht. Die soziale Verankerung des Erkennens hat nichts mit der Geltungsfrage zu schaffen. Erkenntnisfortschritt ist nicht das Nebenprodukt eines Kampfes um Lehrstühle.; aber Belohnungssysteme sind institutionell wichtig. Wissenschaft ist ähnlich wie ein Markt anarchisch, zwar geordnet, aber ohne herrschende Zentralinstanz. Chance für Außenseiter; Konformitätsdruck, Zeitbudget eingeschränkt durch Bürokratisierung. Loyalität gegenüber einem Erkenntnisprogramm muss nicht unbedingt irrational sein. Was sind die institutionellen und motivationale Bedingungen für Kreativität und Kritikfähigkeit? "Lob" der Routine, Kosten der Innovationsbereitschaft.
III. Das Problem der sozialen Steuerung und die Idee einer rationalen Jurisprudenz
Recht setzt ein Regelungssystem, das private durch öffentliche Sanktionen ersetzt. Moral hingegen sanktioniert durch moralischen Druck. Wissenschaft kann für Recht und Moral keine fundamentale Begründung liefern; sie kann aber die mit Recht und Moral zusammenhängenden Tatsachen beschreiben und erklären suchen. So hat die schottische Moralphilosophie und die damit einhergegangene Politische Ökonomie sich besonders um die theoretische Erklärung der sozialen Steuerung gekümmert, wobei Wertfragen sicherlich nicht ausgeklammert waren. Die stellt eine Alternative dar zum hermeneutischen oder normativen Verfahren, wie es in der Rechtswissenschaft bislang mehr oder weniger üblich ist. An Stelle der Frage nach der normativen Begründung tritt die Erklärung der faktischen Geltung von Normierungen.
9. Die Erkenntnis und das Problem der sozialen Normen
Die Rechtswissenschaft ist stark auf bestimmte Berufsfelder bezogen und ähnelt in ihrer Ausrichtung auf Dogmatik der Theologie: Offenbarungsmodell der Wahrheit; Autoritätsinstanz entscheidet, es geht nur noch um Identifizierung und Auslegung der wahren Norm. Das kann nur geglaubt werden. Naturrecht entstammt sakralem Recht und setzt entsprechende Weltdeutung voraus (Einheit von Theologie und Jurisprudenz). Das positive Recht ist eine menschliche Kulturleistung in dem Bereich der sozialen Kontrolle, der Verhaltenssteuerung der Mitglieder der Gesellschaft. Schwanken zwischen realwissenschaftlicher und normativer Auffassung der Rechtswissenschaft. Bei der Frage nach der wirklichen Geltung kommt hinter der Rechtsfiktion die soziale Wirklichkeit zum Vorschein – mit all ihren Tatsachen, denen Rechnung getragen werden muss.
10. Der Charakter der Jurisprudenz: Die Dogmatik und das Problem der sozialen Verankerung
Strukturelle Ähnlichkeiten Religion-Recht, Theologie-Jurisprudenz. Anscheinend geht es hier um die Identifikation und Interpretation autoritärer Normoffenbarung. In der Praxis verfügen die Experten über breiten Deutungsspielraum. Die autoritäre Quelle ist oftmals rein fiktiv. Auch die Legitimität von Experten fällt in sich zusammen, wenn sie nicht von einem Offenbarungsglauben der jeweiligen Adressaten gestützt wird. Naturrecht hat ursprünglich sakralen Charakter; wenn man naturrechtlich positives recht legitimiert, führt das zu seiner Sakralisierung. Im Naturrecht ist noch die Einheit von Theologie und Jurisprudenz gegeben. Eine Form überkommenen Begründungsdenkens, das auf die bloße Faktizität einer Norm setzenden Instanz rekurriert und sie zu einem metaphysischen Faktum verklärt. Fehlschluss vom Sein auf Sollen. Plausibel nur durch Rekurs auf soziomorphes Weltbild, das mit der heutigen Wissenschaft unvereinbar ist. Eine realistisch-soziologische und eine normativ-analytische Konzeption der Rechtswissenschaft existieren nebeneinander. Aussagen über Normen sind ihrerseits nicht notwendig normativ. Kuriose Auffassung, man könne Normen kognitiv erfassen. Wenn man Geltung nicht einfach fiktiv unterstellen will, muss man sich den historischen Tatsachen stellen.
11. Der Charakter der Jurisprudenz: Die sozialtechnologische Deutung
Kenntnis der geltenden Normen durchaus wichtig für die Problematik der sozialen Steuerung. Die Überzeugungssysteme der Handelnden können hiermit rekonstruiert bzw. verstanden werden. Verstehen kann jedoch nie völlig auf Erklärung verzichten. Welche Rechtsordnung tatsächlich gilt, ist nicht so einfach festzustellen. Es müssen Auslegungspraktiken erarbeitet werden. Die "richterliche Rechtsschöpfung" sollte als Problem explizit unter normativen und technologischen Gesichtspunkten (Berücksichtigung der Wirkungszusammenhänge) erörtert werden. Wenn die Rechtswissenschaft der juristischen Berufspraxis echt helfen will, so muss man sie als Sozialtechnologie auffassen.
12. Politische Ökonomie als rationale Jurisprudenz: Die sozialtechnologische Grundlage der Politik
Die klassische Ökonomie kann aufgefasst werden als naturalistischer Ansatz zur theoretischen Erklärung der Probleme sozialer Steuerung. Neoklassik insofern eine Problemverschiebung hin zu formalistischer Entscheidungslogik in einem sozialen Vakuum. Utilitarismus nicht völlig unbrauchbar. Das individualistische Erkenntnisprogramm, das alle sozialen Vorgänge aus dem Zusammenspiel der Verhaltensweisen von Individuen zu erklären sucht, dies ich bemühen, die durch ihre Bedürfnisse und Erwartungen konstituierten Probleme zu lösen, ist seiner Struktur nach besonders dazu geeignet, als Grundlage auch einer möglichen Sozialtechnologie wie der Rechtswissenschaft zu dienen. Eine derartige angewandte Wissenschaft kann nur Möglichkeiten aufweisen und analysieren; jedoch vermag sie keinerlei Legitimation zu liefern: vergleichende Bewertung alternativer Problemlösungen. Wie ist rationale Politik möglich? Die Realisierbarkeit ist vorrangig zu beurteilen.
IV. Die Anatomie des Friedens und der Staat
13. Knappheit, Krieg und Eroberung: Die Despotie als Normalform des Staates
Verfügbare Mittel sind stets knapp; dabei ist Gewalt anzuwenden für Einzelne oft lohnender als selbst zu produzieren. Daraus entstehende Kriege können für die siegreiche Partei dauerhaften Vorteil gewähren. Wenn aus offener latente Gewalt wird, folgt Befriedung und Ausbeutung der Unterworfenen. Ein derart erfolgreiches Beispiel verführt zum Nachahmen. Aneinander grenzende Staaten konkurrieren dann in Kriegsführung und Vorbereitungen der Gewaltbereitschaft. Militärische Erfolge werden bis zur Grenze des Technisch Machbaren ausgedehnt und führen in der Geschichte zu despotischen Großreichen. Die Normalform des Staates ist die Despotie; in den Hochkulturen bei genügend großer Bevölkerungsverdichtung in Städten die Agrodespotie mit bürokratischen Eliten. Die dauernde Kriegsgefahr von außen verstärkt die Notwendigkeit der inneren Machtkonzentration. Dass freiheitliche Herrschaftsformen wie etwa in Europa entstehen, ist historisch eher ein Ausnahmefall. Die Ausbreitung der industriellen Revolution ist nicht gleichbedeutend mit der Ausbreitung der korrelierenden europäischen Institutionen. Aus der Agrodespotie kann eine industrielle Despotie werden mit totalitären Herrschaftsformen, die sich der modernen Technik und Organisationsformen bedient, um die Bevölkerung von einem Machtzentrum aus bürokratisch zu kontrollieren, meist unter der Maske einer egalitären Ideologie mit geschichtsphilosophischem Hintergrund.
14. Die Utopie der Herrschaftslosigkeit: Die anarchistische Herausforderung und das Problem der Gewalt
Agrodespotie ist oft auch Theokratie. Staat als Teil der göttlichen Weltordnung; Offenbarungsideologien legitimieren Thron & Altar; Deutungsmonopol begünstigt Priesterherrschaft. Von Hobbes zu Max Weber: Staat beansprucht das Monopol legitimer Gewaltanwendung. Vom Minimalstaat zu autoritären Staatsformen. Die anarchistische Idee des Absterbens des Staates führt im Sozialismus zu einer paradoxen Verbindung; plausibler ist die Verbindung mit Kapitalismus, wo sie zu einer Reihe konkreter Gestaltungsvorschläge geführt hat. Anarchismus ist Utopie, weil eine Ordnung ohne Zwang praktisch nicht durchführbar ist. Bis zu einem Grade sind jedoch Moral und Recht substituierbar.
15. Friedenssicherung und Gewaltmonopol: Der Machtstaat als Schutzverband und die internationale Anarchie
Sicherung des Friedens elementare Staatsaufgabe; ein öffentliches Gut, zu dem die Mitglieder der Gesellschaft in unterschiedlichem Maße beitragen. Vom allgemeinen Landfriedens des Adels zur Verstaatlichung des Militärwesens. Anarchie der internationalen Beziehungen zwingt die einzelnen Staaten zur gewaltsamen Selbsthilfe, wodurch Kriege fast unvermeidlich werden. Ein Weltstaat wäre nur eine definitorische Lösung, solange er zu nichts anderem als Weltbürgerkriegen führen würde. Doch ist die Schaffung einer stabilen Weltfriedensordnung für alle Staaten heute vorteilhaft. Frage, wie dahin kommen.
Realistische Einschätzung vonnöten: Jeder Staat ist von der Grundfunktion her Militär- und Polizeistaat.
16. Die Ambivalenz des Staates und die regulative Idee der Friedenssicherung
Vorteile des Staates liegen im allgemeinen Interesse, Nachteil Eigeninteressen. Problem. Zähmung der Staatsgewalt. Auch bei noch so großem Kostenaufwand ist das Ziel der Sicherung gegen Gewalt nicht ganz erreichbar. Die regulative Idee der Friedenssicherung ist nur eine unter mehreren Wertgesichtspunkten für eine zu entwickelnde Sozialtechnologie.
V. Die Anatomie des Wohlstandes und die Wirtschaft
17. Knappheit, Macht und Wert: Die kommunistische Fiktion und der Begriff des Sozialprodukts
Die Ökonomen haben bis dato wenig Notiz von Machtaspekten in und außerhalb der Wirtschaft genommen. Auch Marxens Arbeitswerttheorie erklärt nichts. Die Wohlfahrtsökonomie steckt im Dilemma, von individuellen Wertmaßstäben zu einer kollektiven Bewertung zu gelangen. Die Idee einer einheitlichen gesellschaftlichen Zwecksetzung und einer daran orientierten objektiven Wertskala kann man mit Myrdal eine "kommunistische Fiktion" nennen, da hiermit die Gesellschaft zu einem Kollektivsubjekt hypostasiert wird; dasselbe Denken findet sich beim Hantieren mit dem recht fragwürdigen Konstrukt "Sozialprodukt" (Was ist für wen ein Gut oder ein Übel?). Selbst bei Schumpeter ist hier eine Inkonsequenz feststellbar. Das Sozialprodukt wird von der ökonomischen Theorie als Mittel auf den Zweck Bedürfnisbefriedigung der Endverbraucher bezogen. Doch der Zweck heiligt nicht jedes Mittel.
18. Die Wohlfahrtsökonomie und das Problem der externen Effekte
Die moderne wohlfahrtsökonomische Diskussion schert sich aber weniger um die Berechnung der richtigen Sozialproduktgröße, sondern diskutiert, wie unter idealen Bedingungen (z.B. vollkommene Konkurrenz, Gleichgewicht, Axiome der Nutzentheorie) ein Wohlfahrtsoptimum zu bestimmen wäre. Auch wird eine gegeben Einkommensverteilung unterstellt; damit werden zwar mögliche Interessenkonflikte ausgeklammert, was aber die erzielte Lösung nichtssagend macht. Auch werden externe Effekte ausgeklammert, was auf eine Immunisierung des Modells hinausläuft. Die Frage nach der möglichen Rolle des Staates kann in diesem Rahmen demnach noch nicht einmal gestellt werden. Die Wohlfahrtsökonomie taugt aber nicht für eine sozialistische Politik, weil sie die unausweichliche Frage des institutionellen Unterbaus, wie etwa den Markt, überhaupt nicht thematisiert.
19. Pareto-Kriterium, Bedürfniskonstellation und soziale Wohlfahrtsfunktionen
Um ein Konkurrenz-Gleichgewicht als pareto-optimal zu charakterisieren, wird die Abwesenheit externer Wirkungen vorausgesetzt, eine möglicherweise fatale Einschränkung. Es wird zudem vernachlässigt, dass Mitglieder einer Gesellschaft keineswegs indifferent sind in Bezug auf Änderungen in ihren relativen Positionen. Der soziale Rangplatz beeinflusst ihren erreichten Grad der Bedürfnisbefriedigung, zudem ihre jeweilige Machtposition. Überhaupt dürfen auch Bedürfnisse mehr sozialer Art nicht aus der Betrachtung ausgeklammert werden. Öffentliche Güter sind oft private Übel, und umgekehrt. Auch die Reichweite eines öffentlichen Gutes kann sehr unterschiedlich sein. Die Wohlfahrtsökonomie blendet kulturelle und Mentalitätsunterschiede aus und ist mit ihrer Idee der Kalkulierbarkeit adäquater Entscheidungen von der politischen Wirklichkeit und einer dieser angepassten rationaler Entscheidungspraxis weit entfernt.
20. Die Realität der Konkurrenz und die regulative Idee der Wohlstandssicherung
Das neoklassische Modell der vollkommenen Konkurrenz entspricht nicht der sozialen Wirklichkeit. Dieser ökonomische Erklärungsansatz hat seine Problemstellung verschoben hin zu einer Entscheidungslogik optimaler Allokation unter statischen Bedingungen. Erst heute werden Ansätze zur Beseitigung des institutionellen Defizits sichtbar (property rights, Transaktionskosten, Informationskosten, Bedürfniswandel, Innovation). Nicht allein die Marktform ist wichtig, auch die verhaltenstheoretischen Grundannahmen für die handelnden Akteure sowie kulturelle Unterschiede. So wird auch kaum durch die ökonomische Theorie hinreichend erklärt, auf welche Faktoren und Bedingungen die Sonderentwicklung des abendländischen Kapitalismus zurückzuführen ist. Die Klärung der Bedingungen, wie Konkurrenz funktioniert, ist außerordentlich bedeutend für die Fragen der Freiheit und der politischen Verfassung.
VI. Die Anatomie der Freiheit und das Recht
21. Knappheit, Recht und Eigentum: Das Problem einer Verfassung der Freiheit
Das Problem der Knappheit der Mittel führt zur Herausbildung von Eigentums- und Rechtsordnung. Die Entwicklung eines autonomen Entscheidungsbereich für eine Person ist eine historische Ausnahme. Die Verwirklichung sozialer Wohlfahrt scheitert an dem Problem sozialer Konflikte; das Recht bietet hier Lösungsmöglichkeiten. Moral allein hilft nicht. Das Staatsmonopol auf Gewaltanwendung muss als notwendiges Übel Beschränkungen unterworfen werden. Ein Staat kann alle möglichen Ziele verfolgen; wenn er nach Kant die Freiheit sichern soll, geht es auch um Gerechtigkeit als eine regulative Idee (analog der Wahrheit beim wissenschaftlichen Erkennen). Staatlicher Zwang ist nur Mittel zum Zweck, Freiheitsordnung zu sichern. Alle sollen vor dem recht gleich behandelt werden, Gesetze müssen allgemein gehalten sein. Gesetze sollten dabei die Freiheit des Einzelnen möglichst wenig einschränken. Zur Sicherung des inneren Friedens muss der Staat sozialen Spannungen begegnen.
22. Die Idee der Gerechtigkeit und das Verteilungsproblem
Kants Idee der Gerechtigkeit unterscheidet sich von distributiver und retributiver Gerechtigkeit. Leistungsgerechtigkeit steht vor der hoffnungslose Aufgabe, einen von allen akzeptierten Maßstab zu gewinnen. Zudem sind ihre Ergebnisse durch das Vorhandensein von Monopolen (Verfügen über knappe Ressourcen) verzerrt. Auf dem freien Markt kommt bekanntlich durch das freie Spiel der Kräfte auch keine Verteilung nach dem Verdienst zustande. Leistungseinkommen sind in der Marktwirtschaft stets auch Machteinkommen. Grundsätzlich ist es ein Fehler, eine Gesellschaft als ein Gebilde mit einem gemeinsamen Willen zu betrachten (kommunistische Fiktion).
23. Rationale Heuristik, Sozialtechnologie und Alternativanalyse: Zur politischen Methodologie
Für eine rationale politische Praxis müssen realisierbare und in ihren Wirkungszusammenhänge grundsätzlich durchschaubare Alternativen vergleichend beurteilt und die Vor- und Nachteile realistisch abgeschätzt werden. Für institutionelle Reformen ist eine langfristige Strategie gefordert, und eine rationale Heuristik. Gegen ein revolutionäres Katastrophendenken, das auf Herstellung eines sozialen Vakuums zielt.
24. Die regulative Idee der Freiheitssicherung und die Möglichkeiten der Politik
Es geht ja nicht um die Alternative totale Freiheit oder völlige Unfreiheit. Tatsächlich verbringen ja viele ihr Arbeitsleben innerhalb von Organisationen mit einer Hierarchie von Befehl und Gehorsam mit eingeschränkten Freiheitsräumen. Dieses Freiheitsopfer muss dem Individuum auch zumutbar sein; es wird im Gegenzug auch eine Leistung für das Individuum erwartet. Ein gezähmter Kapitalismus erscheint aufgrund gemachter Erfahrungen besser als die Verstaatlichung der Produktionsmittel. Nicht alle Probleme der Marktwirtschaft sind mit staatlichen Eingriffen am besten zu lösen; Hayek schlägt institutionelle Arrangements vor, die durch Ausnutzung des Eigeninteresses bestimmte Funktionen erfüllt werden. Vom Gesichtspunkt der Freiheit wären also Marktmechanismen für die Koordination individueller Handlungen und damit für die Steuerung sozialer Prozesse stets vorzuziehen, wenn nicht durch große Machtunterschiede der Beteiligten auch in ihnen Situationen entstehen könnten, die Zwangscharakter haben. Marktversagen kann oft auf die unzulängliche Definition der Eigentumsrechte zurückgeführt werden. "Das" Privateigentum als zeitunabhängige fixe Regelung ist ebenso ein Hirngespinst wie "der" Kapitalismus.
VII. Revolution oder Reform?
25. Die Theologie der Revolution und die Praxis der Revolutionäre
Die eschatologisch-apokalyptische Tradition verbindet radikale utopische Hoffnung mit einem Katastrophendenken, das die Wende vom Unheil zum Heil, von einem radikal schlechten zu einem radikal guten Zustand der Welt für die nächste Zukunft prophezeit wird. Auf der Parusieverzögerung beruht die ganze innere Geschichte des Christentums. Politische Strategien in dieser Art erfordern eine Umerziehung des Menschen und totalitäre Herrschaft. Die erreichten Ergebnisse stehen in paradoxem Gegensatz zu dem Ziel eines Reiches der Freiheit; sie sind zu erklären durch die praktisch angewandten Methoden, die durch utopische Denken geprägt ist, das soziale Gesetzmäßigkeit vernachlässigt. Die Logik der totalen Revolution führt zu einer totalitären Ordnung. Die Liebhaber unbeschränkter Gewaltanwendung und staatlicher Omnipotenz sind die wirklichen Gewinner solcher Revolutionen.
26. Die Kontextabhängigkeit politischer Problemlösungen
Vakuumfiktion: die Idee, man müsse zunächst eine Tabula rasa herstellen, weil die Mängel bisheriger Lösungen anders nicht zu beseitigen seien. Dabei wird das Kapital der Tradition vernichtet. Kosten. Je umfassender eine Umgestaltung sein soll, desto mehr Wissen wird von den Gestaltenden erfordert. Als Zwischenlösung muss oft eine technokratische Lösung aushelfen: die Gesellschaft als soziale Maschinerie.
27. Das Legitimitätsproblem und die Idee rationaler Praxis
Früher hat Gott die soziale Ordnung garantiert. Kants Idee der autonomen Vernunft ist vereinbar mit einer Form politischer Legitimation, die nicht mit einer Garantie auf Wahrheit und Gerechtigkeit verknüpft ist. Was Menschen als legitim betrachten, ist eine Frage, die sich in Wirklichkeit in der Praxis stellt und beantwortet werden muss.
28. Aufklärung und Steuerung: Revisionismus als politische Methodologie und die Politik der Reformen
Konsequenter Fallibilismus: Auch politische Problemlösungen müssen grundsätzlich der Kritik und der Revision offenstehen.
- B 15: Das Elend der Theologie (1979)
In "Das Elend der Theologie" wird der Versuch, Gottesglauben und Rationalität zu versöhnen, einer kritischen Prüfung unterzogen. Zu diesem Zweck werden die zwei Werke "Existiert Gott?" und "Christ sein" des katholischen Theologen Hans Küng analysiert. Albert geht dabei sehr textnah vor, indem er Küngs Argumente vorstellt und sie daraufhin auf ihre Stichhaltigkeit untersucht.
Albert stellt dar, wie Küng künstliche Entscheidungssituationen konstruiert, in denen nur die Wahl zwischen zwei extremen Polen bleibt (etwa "Hoffnung" oder "Verzweiflung"). Dieser "Alternativ-Radikalismus" erfülle lediglich die Funktion, die Hinwendung zum Gottesglauben als rational vertretbar erscheinen zu lassen, sei aber unrealistisch. Die Eigenschaften des von Küng postulierten Gottes werden von Albert als Wunschvorstellungen identifiziert. Zudem seien keine akzeptablen Argumente für einen spezifisch christlichen Gottesglauben zu finden. Küngs Behauptung, die von ihm vorgestellte Form des Glaubens sei vernünftig oder gar mit einem kritisch-rationalen Weltbild vereinbar, wird somit scharf zurückgewiesen.
Darauf folgen Anmerkungen zur Situation der deutschsprachigen Theologie allgemein sowie eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Varianten des religiösen Pragmatismus. In der Neuauflage im Jahr 2005 wurde das Buch um ein Kapitel über Küngs Eschatologe erweitert.
1981-1990
1991-2000