Benutzer:Bilanzgrenzer/Von Pythagoras bis Hilbert

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Von Pythagoras bis Hilbert (als Scan auf Commons)

Vorbemerkung[Bearbeiten]

Der Vorliegende Text hält sich weitgehend an den Text im eingescannten Buch. Der Text wurde nicht sprachlich modernisiert. Lediglich bei der Form des Dezimalkommas wurde eine Anpassung an die heute übliche Form vorgenommen. Im Originaltext erscheint das Dezimalkomma als leicht höher gestellter Punkt, etwa wie der heutige Multiplikationspunkt. Auch die heute unübliche Form der Tausender-Trennpunkte wurde modernisiert. Im Originaltext erscheinen bei jedem zweiten Tausender-Trennpunkt zusätzlich hochgestellt Semikolons, auch mehrfach, um das Lesen von sehr großen Zahlen zu erleichtern. Diese Darstellungsart wurde hier im Text weggelassen. Einige unwichtige Fußnoten (insbesondere mit Literaturverweisen auf andere Werke des Autors Egmont Colerus) wurden weggelassen, ebenso das Vorwort (1. Seite des Vorworts), das Literaturverzeichnis (1. Seite des Literaturverzeichnises) und das Namensregister (1. Seite des Namensregisters).
Sicherlich wäre es hilfreich, wenn weitere interessierte Mitarbeiter an passender Stelle auf Wikipedia-Artikel verlinken.

Inhalt[Bearbeiten]

INHALT
1. Kapitel: Pythagoras. Mathematik als Wissenschaft
2. Kapitel: Euklid. Mathematik und Philosophie
3. Kapitel: Archimedes. Mathematik und Wirklichkeit
4. Kapitel: Apollonios von Pergä. Mathematik als Virtuosität
5. Kapitel: Diophantos. Mathematik als Schrift
6. Kapitel: Alchwarizmi. Mathematik als Denkmaschine
7. Kapitel: Leonardo von Pisa. Mathematik als Anbruch
8. Kapitel: Nicole von Oresme. Mathematik und Natur
9. Kapitel: Vieta. Mathematik als Symbolik
10. Kapitel: Jost Bürgi. Mathematik als Tabelle
11. Kapitel: Descartes. Mathematik als Methode
12. Kapitel: Gottfried Wilhelm Leibniz. Mathematik als Kosmos
13. Kapitel: Jean Victor Poncelet. Mathematik als Zauberspiegel
14. Kapitel: Evariste Galois. Mathematik als Verallgemeinerung
15. Kapitel: C. F. Gauß. Mathematik als Weltfahrt
16. Kapitel: Bernhard Riemann. Mathematik als Geisterreich
17. Kapitel: David Hilbert. Mathematik und Logik

1[Bearbeiten]

Erstes Kapitel
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PYTHAGORAS
Mathematik als Wissenschaft
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Wir stellen uns in das sechste vorchristliche Jahrhundert. Und wir muten uns die Märchengabe zu, gleichsam allgegenwärtig zu sein, ohne selbst gesehen zu werden. Für diese Reise auf einem Zauberteppich haben wir keinen Plan. Nur der Wunsch soll uns führen, nur die Laune. Und die Bilder und die Gedanken werden Sätze, formen sich zum Überblick.
Satter Friede liegt über dem Lande der Pharaonen. Der Sturm aus dem Osten hat noch nicht zu brausen begonnen. Nichts deutet darauf hin, daß er sich zum Orkan verstärken wird. Wenn anders man verästelte diplomatische Verhandlungen mit den Persern nicht allzu ernst nimmt. Wer sollte sie auch allzu ernst nehmen? In der vieltausendjährigen Geschichte des ägyptischen Reiches hat ja die Diplomatie niemals geruht. Und rätselhaft wie seine Sphinxe liegt dieses Land da in all seiner Herrlichkeit.
Jahr für Jahr überschwemmt der Nil die Fluren, zerstört schlammbringend, neue Frucht verheißend, die sorgfältig ausgemessenen Gemarkungen. Wenn die Fluten sich verlaufen haben, dann eilen unzählige Feldmesser hinaus auf die Schlammflächen, auf denen noch Fische und Frösche zappeln, schlagen Pflöcke ein, verbinden sie mit Meßschnüren und rechnen. Rechnen Tag und Nacht, bis in kurzer Zeit jedem Grundbesitzer wieder seine Felder zugeteilt sind.
Auf diese Emsigen aber blicken in majestätischer Ruhe erhabene Bauwerke herab. Pyramiden mit scharfen Kanten, spiegelglatten grauen polierten Flächen. Über und über bedeckt mit grell-bunten Hieroglyphen. Warum stehen sie so unwahrscheinlich regelmäßig, so streng geometrisch da, diese Pyramiden? Warum auch geben die Formen der Obelisken, Tempelpylonen, Pfeiler, Kanalböschungen, Getreidespeicher den Pyramiden an peinlichster Arbeit nichts nach?
Wir erlauschen das Geheimnis: es ist Architektengeschicklichkeit, unterstützt von Seilspannern und Geometern, die aus dicken Papyrusrollen allerlei Formeln herauslesen und sie anwenden. Sie wissen genaue Verfahrensweisen, um rechte Winkel zu bestimmen. Es ist ihnen bekannt, daß, wenn man aus Seilen ein Dreieck mit den Seiten von 3, 4 und 5 Einheiten bildet und es durch Pflöcke an den Knotenpunkten dieser Seile fest legt, dann stets ein unbedingt verläßlicher rechter Winkel im Punkt des Zusammenstoßens der Seiten 3 und 4 entsteht. Aber solches Wissen ist ja höchst primitiv. Das reicht selbst für die ägyptischen Geometer in die Jahrtausende zurück. Heute weiß man mehr im heiligen Lande Kemi. Man kennt ein Verfahren, das Jahrtausende später Trigonometrie heißen wird. Wenigstens einiges kennt man davon. Nämlich die Winkelfunktion des Kotangens. Kurz, man weiß, daß die Winkelgröße eines spitzen Winkels im rechtwinkeligen Dreieck in genauer Abhängigkeit von den Katheten des Dreieckes steht. Eine dieser Katheten heißt „Pir-em-mus“. Das haben die Griechen erlauscht, schlecht gehört und daraus das Wort Pyramis oder Pyramide gemacht. Aber das ereignete sich erst später. Jetzt stehen wir am Beginn des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts. Und da gilt unsre Bewunderung nicht bloß den herrlichen Bauten, sondern auch der wohlgeordneten Staatsverwaltung Ägyptens, seinem blühenden Handel, seinem Rechts- und Finanzwesen.
Wie machen es wohl nur die Rechenmeister, die dort um den Getreideberg herumstehen und ihn streng nach vorher festgesetzter Anteilquote an verschiedene Eigentümer zuteilen, bevor auch nur eine einzige Mengeneinheit auf die Waage kommt? Sie haben eben auch für solche Zwecke Verfahrensarten ersonnen. „Haufenberechnung“ nennen sie es. Und sie schrecken auch vor sehr verwickelten Zuteilungsfragen nicht zurück. Gesellschaftsrechnung, Regeldetri, Gleichungen mit einer Unbekannten wird man später das nennen, was sich hier zum erstenmal regt und zum erstenmal den Zwecken der Menschen dient. Und es gibt auf dem Boden dieses heiligen Landes noch manches andre, manches auch, in das wir nicht eindringen, das wir nicht durchschauen können.
Wir aber wissen, daß wir am Beginn eines Fluges durch Jahrtausende sind. Kein Zauber darf uns gefangen halten. Wir fliegen nach Osten, denn man hat uns sonderbare Dinge erzählt, was es dort gibt und was - ebenfalls seit Jahrtausenden - dort von den „Ohaldäern“ getrieben wird.
Auch das Zweistromland des Euphrat und Tigris, das jetzt eben von den Persern beherrscht wird, ist uraltes Kulturland. Sumerier und Akkadier, Assyrier und Babylonier haben hier gedacht, gekämpft, geackert, einander vernichtet und sich miteinander vermengt. Und alle haben sonderbare Keilschriftzeichen in Tontäfelchen geritzt. Ganze Magazine voll. Und auf Tausenden und Abertausenden dieser Täfelchen wurde gerechnet. Das letzte Ziel der Rechnungen aber ist hier, mit Ausnahme praktischer Dinge des Geldwesens, ja sogar der Transportversicherung, nicht sosehr auf die äußere Gestaltung gerichtet gewesen wie im Lande Ägypten. Hier, in Babylon und rundum im Zweistromland, richtet man seinen Blick zum Himmel. Die Chaldäer sind die besten Astronomen der bekannten Welt. Sie berechnen Verfinsterungen der Sonne und des Mondes voraus, prüfen und bestimmen den Kalender und wissen sehr genau Bescheid um die Winkel, unter denen die Gestirne erscheinen und untertauchen, und um die Bahnen, die von den Planeten durchlaufen werden.
Sie betreiben die sphärische Trigonometrie, die Winkelmeßkunde auf der Kugel, in der Hohlkugel des Firmamentes. Sie haben den Kreis in dreihundertsechzig Grade geteilt, sie benützen ein Ziffernsystem mit der Grundzahl 60 und meistern selbst schwierige, großzahlige Berechnungen, ja sogar Quadrat- und Kubikzahlen. Vielleicht stehen sie auch mit ihren östlichen Nachbarn, den Indern, und den fernsten Nachbarn, den Chinesen, in Verbindung?
Wir wollen da nicht Märchen ersinnen. Wir wissen bloß, daß die Inder in ungeheuren Zahlen schwelgen, daß sie eigene Worte für Zahlen besitzen, die an das Unvorstellbare grenzen. In ihrem uralten Epos Mahabharata ist von 24·1015 Göttern die Rede und Gautama Buddha soll 600.000 Millionen Söhne gehabt haben. Ein Volksmarchen aber, das wir am Markt von Benares erlauschen, berichtet, daß einst in grauer Vorzeit eine Affenschlacht stattfand, an der 1040 Affen teilgenommen haben. Was ist das wohl für eine Zahl? Jahrtausende später hat man berechnet, daß diese Affen nicht in einer Hohlkugel Platz hatten, deren Durchmesser gleich dem Durchmesser des ganzen Sonnensystems (der Neptunbahn) wäre. Gläubig sind sie, großzügig und phantastisch, diese alten Inder. Trotz oder infolge dieser zügellosen Geistigkeit entdecken sie jedoch eine Wahrheit nach der andern. Und sie kennen auch ähnliche Künste wie die Seilspanner (Harpedonapten) des Nillandes. Nur ist ihr Musterdreieck zur Erzeugung des rechten Winkels nicht das nächstliegende mit dem Seitenverhältnis 3, 4 und 5, sondern ein Dreieck der Seiten 5, 12 und 13. Mit diesem „Werkzeug“ nun stecken sie die Grundrisse von Altaren ab, deren Form manchmal etwa einem aus Dreiecken, Rhomben und Quadraten zusammengesetzten Adler gleicht.
In der Zeit aber, durch die wir fliegen, rechnen auch fleißige Chinesen mit „Rechenbrettern“, bei denen Kügelchen auf Drahten aufgereiht sind. Und ganz fern im Westen hält das amerikanische Reich der hochzivilisierten Majas, ohne Zusammenhang mit all den bisher von uns besuchten Völkern, Staat und Verwaltung, Handel und Kalender mit gut erdachten Ziffernsystemen in bester Ordnung.
An den Ufern des Mittelmeeres aber ist ein großes Werden und eine Wunderbare Geburt im Gange. Auf den Inseln, die wie im Traum in heiteren blauen Wassern liegen, an deren Hängen glühender, Wein reift, und auf dem Festland, in der Rosenstadt Milet, erfaßt eine unentrinnbare Sehnsucht einzelne. Die Sieben Weisen Griechenlands stehen plötzlich vor den erstaunten Augen der Mitwelt, und einer dieser Weisen ist Thales von Milet. Gut, die Landsleute halten ihn schon als Jüngling für ein großes Licht des Geistes und des Wissens. Er aber hat Kunde vernommen von tieferer, älterer, klarerer Weisheit. Und er besteigt ein Schiff und fährt in die Welt. Dorthin, wo höchster Preis winkt. Im Delta des Nils liegen griechische Siedlungen. Dort stehen hellenische Hilfstruppen den Pharaonen zu Diensten. Kein Wunder, daß sich Thales in diesen Landstrich begibt. Freundlich und väterlich wird er von ägyptischen Priestern unterwiesen. Beileibe nicht im Geheimwissen. Man zeigt ihm eben, wie man einfache Dinge mißt und berechnet. Thales aber gerät in einen Rausch des Erkennenwollens. Sein Geist beginnt zu rasen. Und die Priester Ägyptens erstaunen nicht so sehr über das Ergebnis der Entdeckungen des Thales als vielmehr über die sonderbare, ihnen fremde Anschauungs- und Verallgemeinerungskraft, mit der der junge Hellene die Aufgaben anpackt.
Er steht im Wüstensand zu Füßen der großen Pyramiden. Ein Priester Ägyptens fragt ihn lächelnd, wie hoch wohl die Pyramide des Königs Chufu (die Cheops-Pyramide) sei. Thales überlegt. Dann antwortet er, er werde die Höhe nicht schätzen, sondern messen. Ohne jedes Werkzeug, ohne Hilfsmittel. Und er legt sich in den Sand und bestimmt die eigene Körperlänge. Was er vorhabe, fragen ihn die Priester. Er aber erklärt: „Ich werde mich einfach ans eine Ende dieser gemessenen Länge meines Körpers stellen und warten, bis mein Schatten genau so lang ist wie meine Körpergröße. In eben demselben Augenblick muß auch die Schattenlänge der Pyramide eures Ohufu (oder wie wir Hellenen sagen, des Oheops) genau so viele Schritte messen, wie die Pyramide hoch ist.“ Als der Priester, verblüfft von der unvorstellbaren Einfachheit der Lösung, noch nachsinnt, ob da nicht irgendein Trugschluß, ein Fehler vorliegen könnte, spricht Thales schon weiter: „Wenn ihr aber wollt, daß ich euch diese Höhe zu jeder beliebigen Stunde messe, dann werde ich diesen Wanderstab hier in den Sand stecken. Seht, sein Schatten ist etwa halb so kurz wie der Stab selbst. Folglich muß eben jetzt auch der Schatten der Pyramide etwa die Halfte ihrer Höhe messen. Ihr seid ja geschickt genug, die Messung sehr genau durchzuführen. Ihr habt dann bloß die Stablange mit der Schattenlänge zu vergleichen, um durch Teilung oder Vervielfachung des Pyramidenschattens die Höhe des Bauwerks zu ermitteln.“
In dieser Art setzt Thales von Milet die Ägypter in Staunen. In seiner Vaterstadt aber mißt er sogar die Entfernung von Schiffen, die draußen auf der See fahren. Nur einen Visierwinkel braucht er dazu und die Höhe seines Standortes über dem Meeresspiegel: er arbeitet mit der Ähnlichkeit von Dreiecken und hat die einfachsten „Verhaltnisse“ und „Proportionen“ in den Kreis seiner Betrachtungen einbezogen. Das ist aber noch durchaus nicht alles. Er hat viel Tieferes entdeckt, viel Folgenschwereres. Er weiß nämlich bereits, daß der Winkel im Halbkreis, jener Winkel also, dessen Schenkel durch die Endpunkte eines Durchmessers laufen und dessen Scheitel im Umfang des Halbkreises liegt, jederzeit ein rechter Winkel ist. Mit dieser Erkenntnis hat er ein Tor geöffnet, durch das in der Zukunft, und zwar schon in naher Zukunft, viel Neues einströmen sollte. Wir wollen es aber nicht bei dieser Andeutung bewenden lassen, sondern unseren Weltflug unterbrechen und deutlich sagen, was wir meinen. Wenn ein Mann vom geistigen Range eines Thales einmal gesehen hat, daß sich über einer und derselben Hypotenuse im Halbkreise unzahlig viele rechtwinklige Dreiecke bilden lassen, dann ist es fast verwunderlich, daß er sich nicht eine weitere Frage nach der Beziehung vorgelegt hat, in der die Katheten zueinander und zu ihrer gemeinsamen Hypotenuse stehen. Insbesondere, da ja als fast sicher anzunehmen ist, daß er in Ägypten vom Dreieck mit dem Seitenverhältnis 3, 4 und 5 gehört hat. Oder hat Thales dort nichts von solchen Dreiecken erfahren? Wir haben keine nähere Kenntnis davon. Es steht nur fest, daß Pythagoras von Samos ein Schüler desselben Thales von Milet war. Und was die Nennung dieses Namens in eben diesem Zusammenhang bedeutet, dürfte jedem klar sein, der nur die einfachsten Anfangsgründe der Geometrie kennt. Wir werden aber gleichwohl darüber später eingehender sprechen. Allerdings erst, nachdem wir unseren Weltflug noch ein wenig fortgesetzt haben.
Das Leben des Pythagoras von Samos verläuft im sechsten vorchristlichen Jahrhundert, das wir schon mehrfach erwähnten und dessen prinzipielle Wichtigkeit für die Wissenschaftsgeschichte wir auch bald erörtern werden. Als Jüngling hat Pythagoras weite Reisen unternommen. Ein ganzer Kranz von Sagen wurde später um diese Reisen gelegt. Sicher dürfte Pythagoras in Ägypten gewesen sein. Man behauptet, er sei dort nach allerlei Bemühungen schließlich in die ägyptischen Priesterschaften aufgenommen worden und habe den ganzen Bildungsgang dieser Priester geteilt. Ja, es wird noch weit mehr erzählt. Im Jahre 525 vor Christi Geburt, als Kambyses Ägypten eroberte, soll Pythagoras als ägyptischer Priester in Gefangenschaft geraten und nach Babylon verschleppt worden sein. Von dort sei er sogar nach Persepolis und nach Indien gekommen. Endlich befreit, sei er nach Samos zurückgekehrt, habe aber die Heimat sofort wieder verlassen, da sie sich undankbar zeigte.
So wird später erzählt. Doch gilt bloß der ägyptische Aufenthalt als wissenschaftlich gesichert. Auf jeden Fall aber ging Pythagoras in reiferen Jahren nach Unteritalien, wo damals in ungeheurer Pracht und Macht die griechischen Pflanzstädte lagen, die man als Großgriechenland bezeichnete. Dort war zu dieser Zeit das Schwergewicht hellenischer Kultur und Bildung. In Sybaris, Kroton, Metapont, um nur einige Namen zu nennen. Pythagoras wählt das dorische Kroton, die Stadt der berühmtesten Athleten, als Aufenthalt und gründet dort seine esoterische, geheimnisvolle Schule, deren priesterlicher Charakter stark an die Ägypter und Babylonier erinnert. Aus der Schule wird in kurzer Zeit eine Art von Geheim-Orden, eine Sekte. Ihr Einfluß wächst überraschend schnell. Sybaris soll zerstört worden sein, weil die Sybariten Pythagoras beleidigten. Auch um all diese Ereignisse ist viel Sage und Geheimnis. Die Schule wird schließlich zerstört, da sie sich durch ihre aristokratische Struktur zahllose Feinde machte und ihr geheimnisvolles Wesen viele Handhaben zu Angriffen bot. Ob dies noch zu Lebzeiten des Pythagoras erfolgte, wissen wir nicht. Es ist aber wenig wahrscheinlich, obgleich Pythagoras sein Leben nicht in Kroton, sondern in Metapont beschloß.
Unbedingt feststehend sind folgende für uns wichtige Tatsachen: die Sekte der Pythagoreer betrachtete als Mittelpunkt ihrer Tätigkeit die Beschäftigung mit Mathematik. Und sie hat sich in der oder jener Form durch fast zweihundert Jahre erhalten. Eben dieser ursprüngliche Geheimcharakter jedoch macht es beinahe unmöglich, zu unterscheiden, was Pythagoras selbst und was seine Schüler entdeckten. Da wir aber nur über die grundlegenden Anfänge berichten, wollen wir diese, wie es die Schule tat, dem großen Samier selbst zuschreiben, weil sein ungeheurer Einfluß zudem unerklärlich wäre, wenn er nicht Bahnbrechendes geschaffen hätte.
Nun sind wir auch so weit, daß wir unsere bisherigen Andeutungen über die Wichtigkeit gerade des sechsten Jahrhunderts näher erläutern können. Um diese Zeit nämlich vollzog sich auf mathematischem Gebiet das „griechische Wunder““, die Geburt des Abendlandes in geistig-wissenschaftlicher Beziehung. Diese Behauptung ist nicht etwa ein Wunschtraum hellenisch begeisterter Altertumsforscher. Es handelt sich da um eine harte beweisbare Tatsache, deren sich die Alten selbst schon vollkommen bewußt waren und die sie in lakonischen Worten behaupteten und festlegten.
Wir müssen ein wenig vorgreifen. Als nämlich die geradezu unwahrscheinliche mathematische Leistung der großen hellenischen Jahrhunderte schon vorlag oder sich vorzubereiten begann, regte Aristoteles, der Alleswisser, an, die Entwicklung der mathematischen Erkenntnisse historisch festzuhalten. Sein Schüler Eudemos unterzog sich dieser Aufgabe, und ein großes Fragment dieser Bemühungen ist uns durch Proklos Diadochos, einen Philosophen des fünften nachchristlichen Jahrhunderts, erhalten. Dieses ,,Mathematikerverzeichnis'“ (das bisher fast aller historischen, aus andren Quellen schöpfenden Kritik standgehalten hat) sagt nun über Pythagoras die inhaltschweren Worte: „Nach diesen
[Gemeint sind Thales von Milet und ein gewisser Mamerkos, von dem wir nur den Namen kennen.]
verwandelte Pythagoras die Beschäftigung mit diesem Wissenszweige (Mathematik) in eine wirkliche Wissenschaft, indem er die Grundlage derselben von höherem Gesichtspunkte aus betrachtete und die Theoreme derselben immaterieller und intellektueller erforschte. Er ist es auch, der die Theorie des Irrationalen und die Konstruktion der kosmischen Körper erfand.“
Wir werden über jedes Wort dieser bedeutsamen Stelle sprechen. Vorläufig erschüttert uns die Feststellung, daß es erst Pythagoras war, der die Mathematik zu einer „Wissenschaft“ erhob oder, wie das Mathematikerverzeichnis präziser sagt, aus irgendeinem vorwissenschaftlichen Zustand in eine Wissenschaft „verwandelte“. Was heißt das? Was heißt das vor allem aus dem Munde eines Autors, der eben über Thales berichtete? Hat er nichts von Ägypten, Babylon, Indien gewußt? Hat er es nie versucht, ähnlich uns, im Geiste einen Weltflug zu unternehmen? War er bloß von hellenisch-nationaler Eitelkeit erfüllt, dieser Eudemos? Warum aber schreibt der Neuplatoniker Proklos acht Jahrhunderte später diese Stelle ohne Randbemerkung ab? Zu einer Zeit, da jeder Vergnügungsreisende sich über altägyptische Mathematik um wenig Geld informieren konnte?
Wir werden nicht grübeln. Wir beantworten die aufgeworfenen Fragen einfach dahin, daß eben das „griechische Wunder“ tatsachlich existierte und daß das Mathematikerverzeichnis nichts andres aussagt als die schlichte Wahrheit. Es ist durchaus nicht einfach, diesen Umbruch in der Geistesgeschichte deutlich zu machen. Vielleicht lag es sogar Pythagoras selbst ganz ferne, als wissenschaftlicher Revolutionär auftreten zu wollen. Sicherlich hat er in seiner Schule nicht programmatisch verkündet: „Ich werde jetzt aus der Mathematik endlich eine Wissenschaft machen. Bisher war sie ein ziel- und planloses, bloß nach praktischen Gesichtspunkten orientiertes Umhertappen.“ So ahnlich konnte ein Immanuel Kant von der Philosophie sprechen - allerdings erst, nachdem er die bisherige Philosophie mit der bisherigen Mathematik verglichen hatte. Aber Pythagoras, heimgekehrt nach Griechenland aus den verwirrenden Zonen des Morgenlandes, hat bestimmt nichts andres beabsichtigt, als alles, was er dort erlernt hatte, wiederzugeben. Manches habe man ihm wahrscheinlich verschwiegen, dachte er. Und er müsse für das Gehörte und dort Gelernte Begründungen suchen. Schüler fragten ihn zudem in heiliger Wißbegier nach diesem und jenem. Und plötzlich - dies die Geburt des Abendlandes - begann sich all das bisherige, von anderen Völkern errungene Wissen in einem anders strukturierten Geist zu spiegeln, durch die Linse hellenischen Genies sich zu brechen und zu sammeln. Der ordnende hellenische Geist begann das „Material“ zu verarbeiten und „immaterieller und intellektueller zu erforschen“. Was heißt das nun wieder? Wie kommt gerade ein Grieche dazu, ein Angehöriger dieses Augen-Volkes, der „Sinnlichkeit“ der kühlen Rechner Ägyptens und Babylons abzuschwören und das Immaterielle, Unsinnliche und das Intellektuelle, also das rein Verstandesmaßige, in den Vordergrund zu rücken? Nein, so einfach lagen die Verhältnisse wieder nicht, wie der Aristoteliker Eudemos meint. Es war nicht bloß die Vergeistigung, die das „griechische Wunder“ vollbrachte. Noch viel mehr waren es rein optische Eigenschaften des Griechentums, die all das ermöglichten. Im Planen und Forschen der Hellenen lag durchaus nicht an erster Stelle ein Grübeln, sondern eine Zusammenschau, die sich dann so rasch vollzog. Gewiß, die Griechen haben uns auch die Logik als Wissenschaft geschenkt, sie schenkten uns aber dazu die plato nische Idee, dieses Ur-Bild alles Seins, und sie schenkten uns auch ihre nie wieder erreichte Plastik und Architektonik. Und alle diese Fähigkeiten waren eben auch bei der Geburt der „Wissenschaft Mathematik“ am Werke. Jedem Zwecke abhold, nur in sich ruhend, Weltharmonie erstrebend, richtete sich in Pythagoras das Ideal einer logisch, optisch und ästhetisch befriedigenden Mathematik auf, über deren Erkenntnisränder hinaus ihn sogar mystisch-religiöse Schauer packten.
Wir werden in der Folge sehen, wie dieses ästhetische Wissenschaftsideal der Hellenen die ganze Entwicklung der griechischen Wissenschaft ermöglicht, hemmt und schließlich zerstörend auflöst. Derartige Behauptungen scheinen ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Es scheint aber nur so. Denn jedes System hat in sich selbst seine Erfüllungsgrenzen.
Worin also - um gegenständlicher zu werden - bestand das umwälzende Neue der neuen „Wissenschaft“? Was heißt überhaupt „Wissenschaft“? Dem Sprachsinn nach, wie alle auf -schaft endigenden Wörter, wohl gesammeltes, zusammengefaßtes, in eine Regel gebrachtes Wissen. Eine Bruderschaft, Verwandtschaft, Freundschaft, Gesellschaft ist die zusammengefaßte Gesamtheit von Brüdern, Verwandten, Freunden, Gesellen. Es ist der Inbegriff aller Brüder usw., der hier in einem Wort ausgedrückt werden soll. Gut, aber zusammengefaßtes Wissen war das Rechenbuch des Ahmes aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend doch auch, waren auch die Tontafelbibliotheken Mesopotamiens? Warum war das keine echte Wissenschaft? Wir möchten da ohne Rangordnungs- oder Werturteile feststellen, daß zwischen Technik und Wissenschaft eine tiefe Kluft liegt. Angewandtes oder zur Anwendung bestimmtes Wissen ist Technik. Ist Sammlung von Ratschlägen, Rezepten, Verfahrensarten, die ohne weitere Begründung dem Praktiker in die Hand gegeben werden. Jedenfalls steht auch vor Pythagoras etwas wie Wissenschaft hinter der Rechentechnik. Aber die ganze Anlage dieser vorhellenischen Mathematik wollte gar nicht bis zu Urgründen vorstoßen, begnügte sich mit rhapsodisch und zusammenhanglos Gefundenem, das sich praktisch eignete, annähernd stimmte. Und hatte vor allem zu keiner Zeit als Mittelpunkt ihres Forschens das Streben nach Allgemeingültigkeit. Man zerbrach sich im alten Ägypten den Kopf über die spezielle Einzellösung einer Haufenrechnung (Gleichung) und dachte gar nicht daran, ahnliche oder analoge Aufgaben auf gemeinsame Regeln zu bringen. Noch weniger fiel es jemandem ein, für alle gleichen Probleme eine gleiche Schreibart auszubilden. Wir werden erst viel später erkennen, was alles damit „noch nicht geleistet“ war.
Auf jeden Fall hat das ,,Mathematiker-Verzeichnis“ nicht einmal dem Thales von Milet die Zensur des streng Wissenschaftlichen erteilt, obgleich es ihm zubilligt, „das eine sinnlich faßlicher, das andre wieder allgemeiner behandelt zu haben“. Wir müssen hier, um keine Mißverständnisse zu erzeugen, anmerken, daß sowohl Ägypter als Babylonier sicherlich nicht jeder Theorie entbehrten. Nur war ihre Theorie, so weit wir es heute überblicken können, durchaus nicht spekulativ, nicht deduktiv, sondern probierend und induktiv. Sie holten äußerstenfalls das „Allgemeingültige“ eines mathematischen Problems aus vielen Einzellösungen, wenn sie so etwas überhaupt unternahmen. Fast niemals jedoch leiteten sie das Einzelne aus dem Allgemeingültigen“ her. Es ist aber gerade die Eigenschaft, und zwar die grundlegendste Eigenschaft der Mathematik, daß ihre Forschungsmethode den zweiten, den deduktiven Weg gehen muß, um sie wirklich zur Höhe zu führen und um aus ihr ein auch für die Praxis taugliches Werkzeug zu schmieden.
Wir sprachen das Wort „Werkzeug“ aus. Also soll Mathematik doch bloß ein Werkzeug sein? Gewiß, sie soll es in irgend einem Stadium einmal sein. Denn ein vollständig zweckloses Beginnen ware nichts als Spielerei des Geistes oder „Denksport“, wie man heute ab und zu sagt. Den Griechen der olympischen Spiele lag ein solcher geistiger Sport sicherlich nicht allzuferne. Und nicht nur Pythagoras hat die rein erzieherische Seite der mathematischen Beschäftigung sehr stark hervorgehoben. Aber auch die rein körperliche Ertüchtigung durch athletische Übungen bleibt letzten Endes nicht Selbstzweck. Man kann sich nicht stets mehr und mehr ertüchtigen, um schließlich bloß an der Tüchtigkeit an und für sich Freude zu empfinden. Dahinter liegt und lag stets ein Wehrgedanke, ein Aufstiegsgedanke eines ganzen Volkes, ein Ideal der Tüchtigkeits-Bereitschaft. Und dadurch löst sich der nur scheinbare Zwiespalt zwischen. „Wissenschaft als Selbstzweck“ und „Wissenschaft als Werkzeug“ sehr leicht und harmonisch: eine kleine Schar von Bahnbrechern, berauscht von heiligem Drang, vergißt, wozu Werkzeuge geschaffen werden sollen. Das Werkzeug wird in sich und an sich, nach Grundsätzen, die in den Tiefen der geistigen und intuitiven Struktur der jeweiligen Schöpfer liegen, zur möglichsten Vollendung und Abrundung gebracht. Mag es dann anwenden, wer es will und wer es braucht. Auf jeden Fall wurde das Arsenal der Waffen des betreffenden Volkes oder der Gemeinschaft vermehrt.
Nun scheint dieser Auslegung wieder die pythagoreische Geheimhaltung zu widersprechen. Sie bezog sich aber doch nicht auf alles, sondern vorwiegend auf Methoden und ungesicherte Ergebnisse. Die großen Entdeckungen wurden auch damals der Öffentlichkeit übergeben, mit Ausnahme von Resultaten, die nur zu mystischen Kultzwecken gesucht wurden oder die nach Ansicht der Pythagoreer eher dem Verfall als dem Aufbau der Wissenschaft dienen konnten. Sei dem aber auch wie immer: die Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen, daß selbst eine zum Teil geheimgehaltene Wissenschaft etwas anderes bedeutet als bloß praktische Regeln. Und wir wollen jetzt zusehen, in welchem Sturmschritt die Entdeckungen schon bei ihrem ersten Vertreter griechischen Stammes vorstießen.
Hatte noch ein Thales von Milet, der wohl ursprünglich Kaufmann gewesen ist und sich erst im höchsten Alter der Mathematik hingab, den großen Übergang zur wahren Wissenschaft mehr geahnt als ausgeführt, so verband sich in Pythagoras all das, was sein Lehrer Thales wußte, mit den Ergebnissen seiner Studienreisen sofort zu einer ganzen Reihe bahnbrechender Errungenschaften. Als erste dieser Neuerungen wollen wir die bekannteste besprechen, den sogenannten pythagoreischen Lehrsatz, ohne den eine Mathematik im weiteren Sinne überhaupt nicht zu denken ist. Wir wollen nicht allzuweit vorgreifen, aber wir müssen doch hier schon andeuten, daß ohne diesen Lehrsatz kaum irgendein Zweig der Geometrie und darüber hinaus der auf Geometrie fußenden höheren Mathematik sich hätte ausbilden können.
Jedermann weiß, wie dieser Lehrsatz lautet, weiß, daß in jedem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat über der dem rechten Winkel gegenüberliegenden Seite (der Hypotenuse) gleich ist der Summe aus den Quadraten über den beiden anderen Dreieckseiten, den sogenannten Katheten. Die von Schopenhauer aufgeworfene Frage, warum diese Beziehung bestehe, ist wie alle derartigen Fragen nicht zu beantworten. Man kann in hundert Arten beweisen, daß es so ist. Das „Warum“ bleibt ein Mysterium. Die Eigenschaften einer geometrischen Figur liegen eben in ihrem Wesen, im Begriff der Figur, den wir selbst gebildet haben. Solche Fragen sind ebenso sinnlos wie die Fragen, ob es in „Wirklichkeit“ rechte Winkel geben kann. Es „gibt“, streng genommen, in einer derart aufgefaßten „Wirklichkeit“ überhaupt keine Winkel, da sich unendlich dünne Linien und vollständig ausdehnungslose Scheitelpunkte in einer materiellen Welt nicht manifestieren können. Alle Gebilde der Geometrie existieren nur in unsrem Kopfe, sie sind ein Geisterreich, das seine Gesetze, unabhängig von der äußeren Erfahrung, in sich selbst trägt, das aber ebendeshalb als Reich reiner Formen, an jede beliebige „Wirklichkeit“ angelegt, Geltung besitzen und behalten muß. Die Sätze über das Dreieck gelten für ein Dreieck aus Fixsternen ebenso hundertprozentig Wie für ein Dreieck aus Holz, Metall, Stein oder Brotteig. Sie gelten aber auch für ein Dreieck aus Zahlenlinien. Doch das nur nebenbei.
Pythagoras hatte also als erster den Satz für jedes Dreieck ausgesprochen, der bisher in Ägypten bloß für das Seitenverhältnis 3, 4, 5 (somit 32 + 42 = 52 oder 9 + 16 = 25) und in Indien für die Seiten 5, 12 und 13 (somit 52 + 122 = 132 oder 25 + 144 = 169) bekannt war. Und dazu für seine Umkehrung, von der man in Ägypten und Indien eigentlich ausgegangen war. In diesen beiden Ländern hatte man, wie wir wissen, gesagt, ein rechter Winkel entstehe (oder ein rechtwinkliges Dreieck liege vor), wenn die Seiten in dem und dem Verhältnisse ständen. Pythagoras sagt umgekehrt: in jedem rechtwinkligen Dreieck, also in jedem und jedem aller überhaupt möglichen rechtwinkligen Dreiecke, verhielten sich die Seiten in dem schon oben geschilderten quadratischen Verhältnis der Gleichheit von Summe der Kathetenquadrate mit dem Hypotenusenquadrat. Wenn man Weiters etwa als Konstruktionsbehelf den Satz des Thales von Milet heranzieht, dann könnte man über einer und derselben Hypotenuse alle die unendlich Vielen rechtwinkligen Dreiecke zeichnen, die ihre Scheitelpunkte im Kreisumfang haben müssen. Wie verschieden diese Dreiecke nun auch aussehen, stets wird das Quadrat über dem Kreisdurchmesser flächengleich sein der Summe der Quadrate über den beiden Seiten, die je einen Umfangspunkt des Halbkreises mit den Endpunkten des erwähnten Durchmessers verbinden. Und wir glauben, daß es auch einem Skeptiker jetzt klar sein muß, wie weit sich dieses vollständig allgemeine Gesetz von den an sich brauchbaren und richtigen Einzelfällen der ägyptischen und indischen Geometrie unterscheidet. Vor allem ist der Satz des Pythagoras, obgleich er ein wirkliches Messen erst ermöglicht, durchaus unabhängig von jeder eigentlichen konkreten Maßgröße. Er ist Ursprung und Ausgangspunkt und nicht Folge oder Ergebnis der Messung. Das bis dahin primitive „Werkzeug“ ist gleichsam zur universell anwendbaren Maschine geworden. Und man darf jetzt ruhig die Frage aufwerfen, wie groß etwa die Hypotenuse sein müsse, wenn wir die beiden Katheten
a = 5 und b = 7 kennen.
Die Summe a2 + b2 ist in konkreten Zahlen hier
52 + 72 = 25 + 49 = 74,
somit ist das Hypotenusenquadrat gleich 74.
Nun ist aber diese Zahl keine Quadratzahl, hat keine ganzzahlige „Wurzel“, denn
82 = 64 und 92 schon 81.
Also eine sicherlich sehr ernste Schwierigkeit, auf die wir an dieser Stelle noch nicht näher eingehen wollen. Pythagoras suchte daher sofort nach einem Weg, beliebig viele Zahltriaden, also Zahldreiheiten, zu gewinnen, für die unter der Bedingung
a2 + b2 = c2 alle drei Zahlen a, b und c stets ganze Zahlen waren.
Für ungerade Zahlen fand er selbst die Formel, für gerade wurde sie erst Jahrhunderte später von seinem großen Schüler Platon aufgestellt. Die pythagoreische Lösung lautet, modern geschrieben, wenn a eine ungerade Zahl ist
und dieses a als a = 2n + 1 dargestellt wird,
für b = 2n2 + 2n und für
die Hypotenuse c = 2n2 + 2n + 1.
Also für a = 9 etwa oder a = 2·4 + 1 ist
b = 2·42 +2·4 = 40 und
c = 2·42 + 2·4 + 1 = 41.
Tatsächlich ist 92 + 402 = 412 oder 81 + 1600 = 1681
Des Interesses halber sei hier bereits die platonische Formel für gerade Ausgangszahlen vorweggenommen. Sei 2n eine gerade Zahl, dann ergeben sich die drei Seiten als
2n, (n2 + 1) und (n2 - 1)
also etwa für 2n = 8 die andern Seiten 17 und 15.
Also 82 + 152 = 172 oder 64 + 225 = 289.
Nach dieser pythagoreischen Formel findet man leicht für n = 1 das ägyptische und für n = 2 das indische Dreieck. Daß Pythagoras auch wußte, daß er jede dieser Zahldreiheiten mit beliebigen ganzen Zahlen vervielfachen durfte, ohne die Ganzzahligkeit der Lösung zu beeinträchtigen, ist mehr als wahrscheinlich, da die einfachste Zeichnung lehrt, daß sich am Wesen der Figur durch Verdopplung, Verdreifachung usf. der Einheitsstrecke nichts ändert.
Etwa (3·3)2 + (3·4)2 = (3·5)2 ergibt wieder ein ganzzahliges rechtwinkliges Dreieck, da 81 + 144 = 225 die Richtigkeit zeigt.
Wie nun, so fragen wir uns, hat Pythagoras unbestimmte Gleichungen behandelt, die ihm die erwähnten Lösungen lieferten? War er etwa schon im Besitze einer Buchstabenrechnung? Oder hat er seine Weisheit von der ägyptischen Haufenrechnung entlehnt? Die zweite Möglichkeit besteht, die erste ist unbedingt abzulehnen. Es besteht aber noch eine dritte Möglichkeit, mit der wir uns aus sehr wichtigen Gründen eingehend auseinandersetzen müssen. Es wird nämlich berichtet, daß schon Pythagoras und die Pythagoreer die Kunst des „Anlegens“ geübt hätten, daß ihnen alle drei Methoden des parabolischen, elliptischen und hyperbolischen Anlegens geläufig gewesen seien. Wir dürfen - dies sei festgestellt - hier noch durchaus nicht an die uns bekannten Kurven-Begriffe von Parabel, Ellipse und Hyperbel denken. Viel später, wie wir noch sehen werden, hat sich dieser Kurvenbegriff bei Apollonios von Pergä aus dem entwickelt, was hier in Rede steht. Aber so weit sind wir vorläufig noch nicht. Die Kunst des Anlegens war vielmehr etwas, was sich auf griechischem Boden eigentümlich entwickelte, eine Verwandlungskunst, eine Kunst, Figuren der Geometrie in andre Figuren gleichen Flächeninhaltes zu verwandeln. Neuere Forscher der Mathematikgeschichte haben diese Betätigung treffend als „geometrische Algebra“ bezeichnet).
Und diese „Algebra“ ermöglicht es tatsächlich, in verkappter Art Gleichungen bis zum sogenannten zweiten oder gemischtquadratischen Grad zu lösen.
Es würde weit über unseren Rahmen hinausführen, diese Kunst eingehend zu erörtern, da sie als Gleichungsmethode ausschließlich auf die hellenische Mathematik beschränkt blieb. [Wo sie bei den Arabern oder im europäischen Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Europa noch auftritt, ist sie ausschließlich Nachahmung der Griechen oder Reminiszenz an griechische Methoden.]
Es obliegt uns aber gleichwohl wenigstens ein einfaches Beispiel (eine parabolische Flächenanlegung) zu zeigen und zu erläutern. Daß man sich die Multiplikation als Rechteck denken kann, ist klar. Das Produkt aus a und b ist a mal b und dieses Produkt ist gleich der Fläche eines Rechteckes mit den Seiten a und b. Es ergibt sich daraus auch die Umkehrbarkeit (Kommutativität) der Multiplikation, denn die Fläche des Rechteckes ist natürlich auch b·a, wie der Augenschein und ein reihenweises Auszählen der Einheitsquadrate lehrt. Man kann sogar die Lösung komplizierterer Aufgaben versuchen. Teilt man nämlich die beiden Seiten des Rechteckes (oder besser, stellt man sie als Summen dar), so findet man, daß
(a + b) (c + d) gleich ist mit
ac + bc + ad + bd.
Man braucht bloß in den Teilungspunkten Parallel-Linien zu den Seiten zu ziehen und den Flächeninhalt der durch diese Hilfslinien neu entstandenen vier Rechtecke abzulesen. Tatsächlich sagte man, so wie wir heute noch
a·a als a2 oder „a zum Quadrat“ bezeichnen,
für das allgemeine Produkt a·b in Griechenland stets „Rechteck aus a und b“. [Diese Ausdruckweise findet sich noch bei Descartes und vereinzelt noch später.]
Ein Produkt aber ist eine neue Zahl, bzw. es kann jederzeit als Zahl aufgefaßt werden. Wir werden allerdings später sehen, daß Vieta und andere neuzeitliche Mathematiker es rügen, daß die Hellenen die Zahlen einmal als Linien und dann wieder als Flächen ansahen. Doch das werden wir später erörtern. Tatsache war es für die Griechen, daß man eine Zahl n, die nur irgendwie teilbar war, als Rechteck der Seiten a und b darstellen konnte.
Also n = ab.
Nun kann man dieses Rechteck zeichnen. Will man weiters n durch irgendeine Zahl (= Strecke) d dividieren, dann verlängert man etwa b um d und „legt“ an dieses d ein neues Rechteck „an“. Und zwar so, wie in der Figur dargestellt.




Man zieht nämlich auch die Verlängerung d1 zum Punkt B, von dort durch E die Diagonale bis dorthin, wo sie sich mit der Verlängerung von a schneidet. Von diesem Scheitelpunkt C wird nun, parallel mit b, eine Linie bis D gezogen, der ein Schnittpunkt der Verlängerung von a1 mit dieser Parallelen ist.
Nun ist das ganze neue große Rechteck ABCD durch die Diagonale in zwei gleiche Dreiecke geteilt, die jedes aus einem Rechteck ab, bzw. dq
und aus zwei Dreiecken und bzw. und bestehen.
Da die und mit und ersichtlich gleich sind, ist auch das Rechteck ab gleich dem neu „angelegten“ Rechteck dq.
Wenn aber ab = dg, dann ist
oder die zu dividierende Zahl n durch den Divisor d gleich dem Quotienten q.
Das ist aber nur eine der vielen algebraischen Anwendungsmöglichkeiten der parabolischen Anlegung. Man könnte auch eine lineare Gleichung der Form ab = cx oder eine ihrer Umformungen in derselben Weise lösen. Oder aber es könnte das Problem so gestellt sein, daß Wir aus dem Rechteck ab ein Quadrat erzeugen, somit ab = x2 konstruieren sollten, was wieder die positive Lösung der reinquadratischen Gleichung liefert usf. Jedenfalls waren die schon bei Pythagoras und seinen nächsten Schülern behandelten Probleme durchaus nicht primitiv.
Dieser Eindruck verstärkt sich noch bedeutend, wenn wir jetzt die pythagoreische Zahlenlehre, seine Arithmetik naher ins Auge fassen. Man Weiß, daß Pythagoras die Eins selbst nicht als Zahl, sondern als Ursprung aller Zahlen ansah. Man betrieb nach dem Grundsatze, daß das Wesen der Dinge die Zahl sei, eine sehr umfassende Zahlenmystik und entdeckte im Laufe der Forschungen über die Zahlen allerlei Zusammenhänge. Bevor wir jedoch Näheres darüber mitteilen, müssen wir noch einen Begriff nachtragen, der auch bei der Zahlenlehre eine Rolle spielen wird. Man nannte die bei allen Flachenanlegungen bedeutsame Figur ABDFEG (Fig. 1) ein „Gnomon“ (zu deutsch einen „Erkenner“). Nun versuchten die Pythagoreer sofort, an ein Quadrat der Einheit rechtwinklig-gleicharmige Gnomone anzulegen, und fanden damit, wie die Figur 2 zeigt, die auffallende Tatsache, daß die Summe der ungeraden Zahlen, wie weit man die Summierung auch treibt, stets Quadratzahlen liefert.
Also 1 + 3 = 4 = 22,
1 + 3 + 5 = 9 = 32,
1 + 3 + 5 + 7 = 16 = 42
und sofort bis
1 + 3 + 5 + 7 + ... + (2n - 1) = n2,
wobei n die um eins vermehrte Anzahl der angelegten Gnomone bedeutet.
Aus der Addition der natürlichen Zahlen
1 + 2 + 3 + + 4 + ... dagegen bildete man ein Punkte-Dreieck mit der Eins als Spitze und nannte alle Zahlen Dreieckszahlen, die, wie etwa 28 oder 55, aus einer Auf-Addierung der Folge der natürlichen Zahlen entstanden waren.
Darüber hinaus erörterte man noch „befreundete Zahlen“ (etwa 220 und 284), von denen jede gleich der Summe der Teiler der anderen ist.
Denn 220 = 1 + 2 + 4 + 71 + 142 und
284 = 1 + 2 + 4 + 5 + 10 + 11 + 20 + 22 + 44 + 55 + 110.
„Vollkommene Zahlen“ aber waren wieder solche, die der Summe ihrer Teiler selbst gleich sind. Eine vollkommene Zahl war etwa




6 = 1 + 2 + 3 oder
496 = l + 2 + 4 + 8 + 16 + 31 + 62 + 124 + 248
Dies alles diene nur als Beispiel für die zahlentheoretische Beschäftigung (Wie man seit Legendre sagen müßte), die von Pythagoras selbst und seinen Schülern ausgeübt wurde. Was aber wollte man mit diesen Zahlenbeziehungen? Auch das wissen wir: man erstrebte, die Harmonie des Zahlenreiches und damit die Harmonie des Weltalls zu durchschauen. Man wurde in diesem Forschen noch durch die harmonischen Beziehungen der Musik bestärkt, die sich in den sonderbaren Proportionen der schwingenden Saitenlängen auf einem Monochord (einem Ein - Saiten - Instrument) offenbarten. Kurz, man schwelgte im Gedanken der ganzzahligen Erfaßbarkeit des Universums und glaubte den letzten Rätseln des Seins auf der Spur zu sein. In einer Art, die einzig und allein dem hellenischen Wesen entsprach: in der Form lückenloser Harmonie und reinlichster Klarheit und Durchsichtigkeit.
Da meldete sich, gerade den höchsten und weitesttragenden Entdeckungen entspringend, plötzlich eine avernische Macht [avernisch = höllisch, qualvoll; nach dem lateinischen Wort für »Unterwelt« Avernus], die diesen Traum mitleidlos zerstörte; wobei man allerdings damals nicht ahnte und ahnen konnte, daß eben diese höchst unerwünschte, fast unterweltliche Entdeckung später erst so recht die Bahn zu schwindelerregendem mathematischem Fortschritt freimachen würde. Wir meinen mit dieser Ankündigung die Entdeckung des Irrationalen.
Wie diese Entdeckung von den Hellenen aufgefaßt wurde, beweist uns ein altes Scholion zum zehnten Buche der Elemente Euklids, das in neuerer Zeit als Bemerkung des schon erwahnten Philosophen Proklos Diadochos angesehen wird. Es lautet: „Man sagt, daß der Mann, der zuerst die Betrachtung des Irrationalen aus dem Verborgenen in die Öffentlichkeit brachte, durch einen Schiffbruch umgekommen sei. Und zwar deshalb, weil das Unaussprechliche und Bildlose immer verborgen hätte bleiben sollen. Deshalb auch wurde der Untäter, der von ungefahr dieses Bild des Lebendigen berührte und aufdeckte, an den Ort der Entstehung versetzt und wird dort von den ewigen Fluten umspült.“
Wem beim Lesen dieser Stelle nicht kalte Schauer über den Rücken rieseln, der hat für Mystik kein Gefühl. Eine jener sakralen furchtbaren Drohungen weht aus den Worten, wie sie nur durch Verkünder laut werden, die das Ziel und Ideal eines ganzen Volkes und seiner Zukunft bedroht sehen. Kein Wort des Mitleides mit dem Unglücklichen, kein Ton der Rührung. Er hat sich am Heiligsten vergangen, er muß stumm gemacht, vernichtet, sinnbildlich an den Ort der „Entstehung“, also ins Nichts, aus dem er gekommen, zurückversetzt Werden. Ewige Fluten mögen ihn dort umspülen, ihn ewig gefangen halten. Er hat die Urtiefen des Lebens berührt, in die wir nicht zurückschauen dürfen. Denn wir müssen vorwärtsschauen, und das Geschenk des Lebens haben Wir erhalten, um vom Unaussprechlichen und Bildlosen, vom chaotischen Urgrund, zum Klaren, Harmonischen, Bildhaften, zum Kosmos, zur Harmonie der Sphären aufzusteigen. Der Rest aus dem Tartaros, das Alogon, das Irrationale muß gehütetes Geheimnis Weniger Priester des Wissens bleiben, die es unverbrüchlich geheimhalten, auf daß nicht sein Schlamm, Wieder hervorbrechend, die mühsam gebahnten Pfade des Aufstieges ungangbar mache.
Vielleicht die hellenischeste aller Legenden, diese Legende von der Strafe der Götter am Ausplauderer des Geheimnisses. Aber das Geheimnis War nun einmal, verhältnismäßig bald, in die Öffentlichkeit gedrungen und die Wissenschaft mußte das Geheimnis in den Kauf nehmen. Sie tat es aber nicht in der Form einer Kapitulation. Sondern in der Form eines erbitterten Rückzugsgefechts. Noch heute ist der Kampf gegen das Irrationale nicht erloschen, noch in den letzten Jahrzehnten gab es heroische Versuche, das Irrationale irgendwie zu binden und einzuordnen.
Es trat für Pythagoras selbst zuerst an der unerwartetsten Stelle zutage. Dort, Wo man die größte Regelmäßigkeit voraussetzen hätte müssen. Nämlich bei der Untersuchung des rechtwinklig-gleichschenkligen Dreiecks, oder, was dasselbe ist, bei der Durchforschung der Diagonale des Quadrates. :Sind hier nämlich die beiden Katheten 1 und 1,
so ist das Hypotenusenquadrat gleich 2,
da 12 + 12 = 2,
und die Hypotenuse selbst ist, in moderner Art geschrieben,
gleich der Wurzel aus zwei =
Man kann aber suchen - und das wußte schon Pythagoras -, solange man will, so findet man keine ganze und auch keine Bruchzahl, die mit sich selbst multipliziert genau 2 ergibt.
Heute schreiben wir = 1,4142135624 ... und fügen Punkte an, die bedeuten, daß der Dezimalbruch kein Ende hat und daß es auch kein System gibt und keine reine oder gemischte Periodizität, die ein Zuendeführen dieses Systembruches auch nur in Gedanken gestattete. Die Zahl , d. h. deren Ergebnis ist alogos, ist unaussprechbar. Sie und andere derartige in keine Regel einzufangenden Zahlen sind, wie das Seholion zu Euklid sagt, bildlos. Sie sind höchstens ein Bild des Lebendigen selbst, das auch irrational ist, also jeder ratio, jeder zergliedernden, regelnden Vernunft spottet. Und trotzdem liegt die Hypotenuse des gleichseitig-rechtwinkligen Dreiecks, die Quadratdiagonale, so glatt, so abgeschlossen, so selbstverständlich da, als ob sie sich durch nichts von andern Strecken unterschiede. Hat sie etwa keine wirkliche Länge, keine Endpunkte? Ist sie an den Enden zerfasert oder zerfranst? Nein, sicher nicht! Man fand auch sofort noch mehr, noch Unheimlicheres: wenn man etwa die Quadratdiagonale als Einheit wählte, dann muß sie eine klare Strecke mit der ganzzahligen Länge 1 sein. Wie sehen aber dann die Quadratseiten (als Katheten eines rechtwinklig-gleichschenkligen Dreiecks) aus?
Sicherlich ist jetzt, um wieder in heutiger Sprache zu reden,
12 = x2 + x2, also
12 = 2x2 und
Unser x muß also sein, was
oder mit rationalem Nenner
ergibt.
Da nun irrational ist, muß auch dessen Hälfte irrational sein.
Was ist da geschehen? Jetzt sind plötzlich wieder die früher rationalen Katheten irrational? Man wußte auch sofort, was das bedeutete. Die zwei Längen sind jede für sich durchaus nicht irrational. Sie sind weder rational noch irrational. Aber sie sind nicht miteinander ganzzahlig und auch nicht durch irgendeine Art von Brüchen vergleichbar, sie sind also relativ zueinander irrational, sie sind nkommensurabel.
Und gleichwohl wieder ein neues Geheimnis: diese Eigenschaft bezog sich offensichtlich nur auf die Darstellung der Zahl als Quadrat. Ste llte man etwa die Zahl 32 als Rechteck der Seiten 8 und 4 dar, dann konnte man ohne weiteres zwei kommensurable Strecken (nämlich 8 und 4) die „Flächenzahl“ 32 erzeugen lassen. Man konnte aber jetzt durch „Verwandlung“ dieses Rechtecks in ein inhaltsgleiches Quadrat, also durch eine Aufgabe der parabolischen Flächenanlegung, in dieser neuen Quadratseite die Quadratwurzel aus 32 darstellen. Diese war nun sowohl zu 4 als zu 8 inkommensurabel, somit das, was wir heute irrational nennen.
Aber auch an anderen Stationen der nun nach allen Richtungen einsetzenden geometrischen Forschung traten Irrationalitäten auf. Merkwürdigerweise gerade beim Regelmäßigsten. So insbesondere beim gleichseitigen Dreieck (Verhältnis von Seite und Höhe), beim gleich seitigen Sechseck und insbesondere beim gleichseitigen Fünfeck, dessen erste Darstellung und Erforschung sicherlich der pythagoreischen Schule, wenn nicht sogar Pythagoras selbst angehört. Es ist ja bekannt, daß das sogenannte Sternfünfeck, der spätere „Drudenfuß“, gleichsam Wappen und Erkennungszeichen der Pythagoreer war.
Aus der Lehre von den Vielecken aber ergab sich ein ebenso zwangsläufiger wie fruchtbarer Übergang zur Lehre von den Körpern, zur Stereometrie. Die von uns noch nicht gedeutete Stelle des Mathematikerverzeichnisses, daß Pythagoras sich mit den „kosmischen Körpern“ beschäftigte, bedeutet nichts anderes als die Entdeckung der regelmäßigen Vielflache oder Polyeder. Der plastische Sinn der alten Griechen hatte hiebei durchaus nicht die großen Schwierigkeiten, die später von der Geschichtsforschung oft ins Treffen geführt wurden, um die Unwahrscheinlichkeit einer so weit zurückreichenden Datierung dieser Entdeckung darzutun. Man fand inzwischen an verschiedenen Fundstellen Vielflachmodelle (Wie wir heute sagen würden), die aus Marmor oder Bronze bestehen. Zudem kann niemand leugnen, daß etwa der Würfel, das Tetraeder und das Oktaeder schon im alten Ägypten bekannt waren oder bekannt sein mußten. Es blieben also nur das Ikosaeder, das von zwanzig gleichseitigen Dreiecken begrenzt ist, und das aus zwölf gleichseitigen Fünfecken bestehende Pentagondodekaeder zu entdecken. Gerade der letzterwähnte Vielflächer lag aber den Entdeckern des regelmäßigen Fünfecks sehr nahe, und es wird sogar durch Jamblichos überliefert, daß ein gewisser Hippasos aus der pythagoreischen Schule es zustandegebracht habe, das Pentagondodekaeder als erster der Kugel einzubesohreiben. Nun habe er diese Entdeckung gegen jede Gepflogenheit der Pythagoreer veröffentlicht und sei wegen dieser Gottlosigkeit im Meer umgekommen. Also wieder ein „Gottesurteil“ wegen „Verbrechens gegen die Geometrie“. Jamblichos, der doch nach Christi Geburt lebte und schrieb, fügt bei, Hippasos habe durch seine Veröffentlichung zwar den Ruhm der Entdeckung davongetragen, sie sei aber eigentlich das Eigentum jenes, den man nicht einmal mit Namen zu nennen wage, nämlich des großen Pythagoras selbst. Aus dieser Äußerung geht für uns hervor, daß die Alten dem Hippasos zwar das Einbeschreiben in die Kugel, dem Pythagoras selbst aber die Entdeckung des regulären Zwölfflaches zubilligten.
Nun noch ein Wort zur Bezeichnung der Vielflache als „kosmische Körper“. Dieser Name hängt mit einer, wahrscheinlich nach-pythagoreischen, atomistischen Vorstellung über den Aufbau der Welt zusammen. Die Elemente bestanden aus kleinsten Teilchen, und diese seien beim Feuer Tetraeder, bei der Luft Oktaeder, beim Wasser Ikosaeder und schließlich beim Element Erde Würfel. Da man in dieser Zuordnung der egulären Vielflache an die Elemente das Dodekaeder nicht unterbrachte, behauptete man, es diene dem Weltganzen als Bauplan und Umriß.
Wenn uns nun auch diese letzte kosmologische Annahme vielleicht etwas erkünstelt und naiv anmutet, dürfen wir gleichwohl nicht vergessen, daß unsere allerjüngsten Vorstellungen über die Konstitution der Materie gar nicht so weltenweit anders geartet sind als diese ersten schüchternen Anfänge einer wissenschaftlichen Weltdeutung. Auch wir verlegen heute die unterschiedliche Artung unsrer Elemente in einen Unterschied der Atome oder Urbestandteile. Auch wir benutzen im „Atom-Modell“ von Niels Bohr, noch mehr aber in den Theorien von Schrödinger und Heisenberg ein irgendwie geometrisches Bild für die Strukturierung der Atome. Nur sind unsere Bilder nicht statisch und gestaltgebunden wie die althellenischen, sondern quantitativ (Elektronenanzahl) und dynamisch (Elektronenbahnen).
Wir haben hiermit das Wichtigste, was Pythagoras und seine Schüler leisteten, zumindest angedeutet. Es ist viel mehr, als ein flüchtiger Blick bemerkt, und mehr, als die Späteren glaubten, die es ja stets „so herrlich weit bringen“, wenn einmal nur der solide Grund gelegt ist. Diesen „Quadergrund“ erblicken wir aber nicht bloß ganz allgemein in der Erhebung der Mathematik zur deduktiv, also vom Allgemeinen ins Einzelne, arbeitenden \Vissenschaft. Wobei es Wieder gleichgültig ist, ob die Entdeckung des allgemeinen Satzes auf induktivem Wege erfolgte. Denn nicht das„Experiment“ ist der Mathematik verboten, sondern das Stehenbleiben beim Experiment. Nicht allein also die Verallgemeinerung an sich war ein Verdienst der Pythagoreer. Sie legten darüber hinaus unvergangliche Fundamente im einzelnen und bewiesen dadurch, daß ihre Methode nicht bloß ein Programm, sondern selbst eine „Kunst des Entdeckens“ war, die sie Stufe über Stufe emporführte. Gewiß, der Lehrsatz des Pythagoras wurde an und für sich für die folgenden Jahrtausende ein Sprungbrett, wurde, wie man scherzhaft sagte, der Pons asinorum, die Eselsbrücke. Aus ihm Wuchs aber sofort der unheimliche neue Zahltypus des Irrationalen heraus. Und die Tatsache allein, daß die Pythagoreer, wenn auch zuerst in rein mystisch-kultischer Absicht, Zahlentheorie zu treiben begannen, wurde für den Aufstieg der Mathematik geradezu entscheidend. Denn bei eben dieser Beschäftigung wurde der Grund gelegt zum Studium der Zahlenfolgen und der Reihen. Und es ist ein sonderbares Zusammentreffen, daß gerade diese Reihen viel später die Brücke zu schlagen bestimmt waren vom rationalen Ufer zum noch uneroberten, unaussprechlichen, bildlosen Ufer des Irrationalen.


2[Bearbeiten]

Zweites Kapitel
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EUKLID
Mathematik und Philosophie
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Vitruvius erzählt in seinem Werlie über die Architektur in der Vorrede folgende kennzeichnende Anekdote: „Aristippus philosophus Socraticus, naufragio cum eiectus ad Rhodiensium litus animadvertisset geometrica schemata descripta, exclamavisse ad comites ita dicitur: Bene speremus, hominum enim vestigia video.“ Wir wollen diese Stelle frei ins Deutsche übertragen, um ihren für unsren Gegenstand ungeheuer aufschlußreichen Symbolgehalt entsprechend deutlich herauszustellen. Aristippus also, ein Anhänger oder Schüler des Sokrates, sei bei einem Schiffbruch ans Ufer von Rhodos ausgeworfen worden. Dort habe er in den Sand gezeichnete geometrische Figuren bemerkt und soll darauf, zu seinen Gefährten gewendet, freudig ausgerufen haben: „Wir wollen bester Hoffnung sein, denn ich sehe die Fährte von Menschen!“
Die Fährte echter, wahrer Menschen, wollen wir hinzufügen. Fast denken wir bei diesem Ausruf an unser: „Wo man singt, dort laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.“ Für den Hellenen war es klar: kein Barbare hauste hier. Denn böse Menschen haben keine „schemata geometrica“, keine geometrischen Figuren. Das Antlitz des Kulturmenschen leuchtet im Glanz geometrischen Wissens und seine Fährte ist die geometrische Figur.
Diese Anekdote soll sich etwa zur Zeit Platons zugetragen haben, also um 400 vor Christi Geburt. Daher obliegt es uns diesmal, mit unserem Zauberteppich nicht den Raum, sondern die Zeit zu durcheilen, um den Inhalt all dessen wiederzugeben, was von Pythagoras steil ansteigend zum leuchtenden Kulm des hellenischen Geisteswunders führte. Wir wollen diese garende, vorwärtsstürmende Zwischenzeit als die Zeit des Einbruches der Philosophie in die Mathematik charakterisieren, obgleich es in ihr durchaus nicht an mathematischer Eigenleistung und Eigenentwicklung fehlte. Sie hatte aber trotz all dieser Erfolge nicht die letzte Höhe erreicht, wenn sich nicht eine weitere Zone hellenischen Genies teils befruchtend, teils zersetzend zu ihr gesellt hatte.
Auf demselben unteritalischen Boden Großgriechenlands nun, auf dem die Reste der pythagoreischen Schule ihre tiefgründigen, noch geheimnisumhüllten Forschungen fortsetzten, erwächst auch eine philosophische Schule, die Schule der Philosophen von Elea, die, vom großen Philosophen Parmenides gegründet, in Zenon schließlich einen fast ins Karikaturenhafte verzerrten Vertreter fand. Er war kein Mathematiker, sondern, wie Gantor sagt, eher das Gegenteil eines Mathematikers, eröffnete aber durch seine Skepsis, durch seine vor keiner Paradoxie zurückschreckende Zweifelsucht einen Streit, der sich bis in unsre Tage zieht, ohne je zum endgültigen Abschluß kommen zu können. Er rührte als erster in aller Scharfe an die große Gegengesetzlichkeit innerhalb des Menschengeistes, an die Antinomie zwischen Stetigkeit und unendlicher Teilbarkeit, zwischen Ruhe und Bewegung. Bevor wir jedoch über Zenon selbst sprechen, müssen wir zurückgreifen: schon von Anaximandros von Milet wird behauptet, er habe den Begriff des Unendlichen in die Wissenschaft eingeführt, und die Pythagoreer deckten sowohl durch ihre Betrachtungen der Zahlenfolgen als auch durch die Entdeckung des Irrationalen tiefe Einblicke ins Unendliche, in das niemals zu Ende zu Führende auf. Gewiß, das Alogon, das Unaussprechliche, wurde abgelehnt und zurückgeschoben. Man erklärte, es entspreche zwar jeder Zahl eine Größe oder Strecke, nicht aber jeder Größe oder Strecke eine Zahl. Was nützte dieses Zurückschieben des Urproblems? Das Irrationale war nun einmal durchgesickert und es existierte, ob man es als gleichsam vollbürgerliche hellenische Denkkategorie anerkannte oder nicht.
Nun war aber, noch vor Zenon, ein mächtiger geometriekundiger Philosoph, Anaxagoras, aufgestanden, der dem Stetigkeitsprinzip seine schärfste Formulierung gegeben hatte. Anaxagoras erklärte: „Im Kleinen gibt es kein Kleinstes, sondern es gibt stets noch ein Kleineres ...
Aber auch im Großen gibt es stets noch etwas, das größer ist.“ Und schon etwa zwanzig Jahre nach der Geburt des Anaxagoras wurde wieder ein Bahnbrecher geboren, Demokritos aus Abdera, aus jener verrufenen Schildbürgerstadt des Altertums, von deren Bewohnern man sich die tollsten und albernsten Geschichten erzählte. Der „Abderite“ Demokrit aber sollte als Stern erster Größe in die Weltgeschichte eingehen. Er war sozusagen der erste Entdecker des Materialismus und hat dem Begriff des Atoms, des letzten unteilbaren kleinsten Teiles, sein erstes und sein bleibendes Bestehen verschafft. Demokrit war auch ein hochrangiger Mathematiker, hatte, wie schon so viele, Ägypten besucht und hat - eine sonderbare Laune der Wissenschaftsgeschichte - gerade auf mathematischem Gebiet eine grundlegende Entdeckung gemacht, die seiner atomistischen Philosophie schnurstracks zuwiderlief. Er bestimmte nämlich als erster das Volumen der Pyramide und des Kegels, indem er diese Gebilde in dünnste Scheiben zerschnitt und ihre Volumen als ein Drittel eines Prismas, bzw. Zylinders von gleicher Grundfläche und gleicher Höhe erklärte. Diese an sich durchaus richtige Erkenntnis ist - und das wollten wir oben sagen - auf atomistischer Grundlage nicht möglich. Es genügen dazu nicht dünne Scheiben, sondern dünnste und wieder noch dünnere Schnitte, sonst erhält man keine glatte Pyramide, sondern eine Stufenpyramide, und keinen glatten Kegel, sondern einen Stufenkegel, den man zu den glatten Gebilden - Prisma und Zylinder - nicht in Beziehung setzen kann. Wie es nun auch immer mit dieser Entdeckung des Demokrit oder mit jener des Anaxagoras ausgesehen haben smag, der als politischer Häftling im Gefängnis zu Athen die erste Kreisquadratur gezeichnet haben soll: sicher ist jedenfalls, daß der Streit der Philosophen um die tiefsten Probleme der Mathematik auf allen Linien entbrannt war. Und hierzu müssen wir jetzt das „Gegenteil eines Mathematikers“, den Skeptiker Zenon aus Elea, herbeirufen, damit er uns in seiner überspitzten, unterhaltlichen Art die Fruchtlosigkeit aller tieferen mathematischen Bemühung klarlege. Zenon war ein Feind der Pythagoreer. Warum, wissen wir nicht. Wir wollen aber annehmen, daß ihn keine persönlichen, sondern rein sachliche Gründe leiteten. Weil er aber ein Feind der Pythagoreer war, mußte er zuerst das Heiligste dieser Schule, den Zahlbegriff, zersetzen. Und er besorgte seinen Angriff äußerst gründlich. Er leugnete nämlich kurzweg die Möglichkeit jeder Vielheit. Eine Vielheit, so schloß er, müsse sich aus Einheiten aufbauen. Eine Einheit, eine solche nämlich, die diesen Namen wirklich verdiene, könne nur dann vorliegen, wenn es sich um Unteilbares handle. Etwas Unteilbares aber dürfe wieder keine Größe besitzen, sonst müßte es teilbar sein. Da somit die Einheit keine Größe habe, sei sie gleichsam ein Nichts. Ein Nichts aber könne man vervielfachen, so weit man wolle, und man erhalte dadurch wieder ein Nichts. Es existiere also keine Vielheit. Man könne aber ebensogut behaupten, die Einheiten seien unendlich groß. Denn wenn das Viele oder die Vielheit existieren solle, dann müßten ihre Teile voneinander entfernt liegen. Daher könnten dazwischen wieder Teile eingeschoben werden, die wieder eine Größe haben müßten, und so fort ins Unendliche. Wie weit man nun auch diesen Prozeß verfolge, gelange man stets wieder zu teilen, zu Einheiten, die eine Größe hätten, somit aus unendlich vielen Teilen beständen, die selber wieder Größe hätten usw. Daher müsse jede Einheit unendlich groß sein, da sie sich aus unendlich vielen, selbst ausgedehnten Teilen zusammensetze. Nicht genug aber an der schauerlichen Tatsache, daß es keine Einheiten und keine Vielheiten, also keine Größen und keine Zahlen gebe, oder daß Einheit und Vielheit jede für sich unendlich groß seien, so gebe es darüber hinaus auch keine Bewegung. Ehe ein abgeschossener Pfeil an seinem Ziele ankommen könne, müsse er vorerst die Halfte des Weges zurücklegen, von dieser Halfte wieder die Halfte und so fort. Entweder nun setze sich jede solche Hälfte aus wirklichen, existierenden Wegstrecken von , , , , usw. des ganzen Weges zusammen, dann sei sie eben die Summe unendlich vieler, wenn auch stets kleiner werdender, doch noch immer wirklicher Wegstrecken. Dann aber brauche der Pfeil schon für die kleinste ins Auge gefaßte Strecke eine unendliche Zeit, bleibe also auf der Bogensehne hängen. Oder aber die Teilstrecken seien nicht weiter teilbar, dann seien sie eben nichts. Und aus einer auch noch so umfassenden Aufsummierung der „Nichtse“ könne nie ein Etwas entstehen. Auch in diesem Falle bleibe der Pfeil auf dem Bogen. Aus ähnlichen Gründen könne auch der schnellfüßige Achilles niemals die Schildkröte einholen, die einmal einen Vorsprung habe, weil, wahrend Achilles den Vorsprung durchlaufe, die Schildkröte einen neuen Vorsprung gewinne, und so fort bis ans Ende der Zeiten, das aber Achilles ebensowenig erlebe wie die Schildkröte.
Nun war Zenon von Elea ein zu heller Kopf, um auf den Einwurf, daß der Pfeil in Wirklichkeit abfliege, daß die Vielheit tatsachlich existiere und daß Achilles die Schildkröte in wenigen Augenblicken erreicht haben würde, mit dem Jahrtausende später geprägten Philosophenwort: „Desto schlimmer für die Tatsachen“ zu antworten. Er wollte vielmehr die ebenso „tatsächlich“ sofort auftretenden Schwierigkeiten in möglichst greller Art beleuchten, die sich der Behauptung eines Anfanges, einer letzten Einheit, eines selbst unteilbaren Teiles entgegenstellen. Daran änderte es auch nichts, daß inzwischen schon Theodoros von Kyrene die Irrationalität aller unendlich vielen Quadratwurzeln, sofern es sich nicht um Wurzeln aus Quadratzahlen handelte, bewiesen hatte.
Nun haben wir aber schon bei Anaxagoras angedeutet, dieser große Philosoph habe sich mit der Quadratur des Kreises beschäftigt. War das ein herausgegriffenes Einzelproblem oder war es vielmehr eine gleichsam prinzipielle Angelegenheit? Rein chronologisch müßten wir hier schon von den drei großen „klassischen Problemen“ des Hellenentums sprechen, müßten hier schon die Quadratur des Kreises, die Verdoppelung des Würfels und die Dreiteilung des Winkels behandeln. Wir bitten aber für die Erörterung dieser Probleme um Auischub. Wir werden sie im nächsten Kapitel eingehend durchleuchten. In diesem Kapitel müssen wir uns auf andere Probleme beschränken, da sonst die eigentümliche Stellung Euklids nicht zum vollen Ausdruck käme.
Wir wollen also bloß anmerken, daß auch in dieser Zeit schon manches entstand, das die Taten eines Archimedes und eines Apollonios von Perga vorbereitete. Für Euklids Leistungen dagegen war es am wichtigsten, daß man erkannte, mathematischer Erfindergeist und plastisches Schauen reichten nicht aus, die Mathematik zu der Höhe emporzureißen, die den erleuchtetsten Köpfen als Ideal vorschwebte. Um vollste, echteste Wissenschaft zu werden, mußte sich Mathematik vorübergehend unter philosophische Kontrolle stellen. Diese Kräfteverschiebung hatte vor allem Zenon durch seine maßlosen, aber sehr treffsicheren Angriffe gegen die merkwürdig brüchigen und leicht verwundbaren Fundamente der Mathematik erreicht.
Bevor wir weitersprechen, noch eine kleine, sehr notwendige Einschaltung: wir hörten schon, daß die alten Griechen, insbesondere die Pythagoreer, ihre Zahlentheorie als Arithmetik bezeichneten, eine Bezeichnung, die auch auf all das ausgedehnt wurde, was damals algebraischen Charakter trug. Ein konkretes Zahlenrechnen, wie es die mathematische Hauptbeschäftigung bei Ägyptern und Babyloniern (und allen andern nichtgriechischen Völkern) gebildet hatte, wurde auf hellenischem Boden nicht als Wissenschaft anerkannt. Es hieß Logistik, war eine geschätzte Kunst der Rechenmeister (Logistiker), war aber durchaus keine Wissenschaft. Diese Unterschätzung, deren Ursachen wir ergründen müssen, rächte sich für die hellenische Mathematik noch mehr als die absolute Trennung zwischen praktischer, messender Geometrie, der sogenannten Geodäsie, und der eigentlichen strengen Geometrie als Wissenschaft, die einzig wirklichen Rang im geistigen Kosmos besaß. Das Wort Geometrie, das „Vermessung“ oder „Ausmessung“ der Erde bedeutet, ist also falsch und anachronistisch. Thales und die Pythagoreer dürften es in Anlehnung an ägyptische Gebräuche und Methoden ohne weitern Nebengedanken auf die griechische Mathematik angewendet haben, die höchstens Gestalten-, Formen- oder Proportionenlehre hätte heißen dürfen, um durch ihren Namen das auszudrücken, was sie wollte und was sie wieder nicht wollte.
Es liegt uns fern, uns lächerlich zu machen und die Schöpfer dieser Wissenschaft wegen einer Namensunkorrektheit zu kritisieren. Wir weisen nur darauf hin, um allfällige Irrtümer abzuriegeln. Uns interessiert auch noch viel mehr die Tatsache, daß die griechische Mathematik in ihren beiden Hauptzweigen, der Lehre von Zahlen und Zahlenvertretern (also in Arithmetik und Algebra) und in der Lehre von den Größen und ihren Beziehungen (also in der Geometrie), jegliche Praxis, härter gesagt: eine Verunreinigung durch solche Praxis ablehnte. ur im Denkraum sollte Mathematik getrieben werden und enthalten sein, aus dem Erfahrungsraum war sie verbannt, soweit sie Wissenschaft genannt wurde. Dadurch, und daß die Rechtfertigung eines derartigen Puritanismus, der besonders bei einem lebenszugewandten Volk, wie es die Griechen waren, auffällt, dadurch also wurde ihr höchste Allgemeingültigkeit, Verallgemeinerungskraft und ästhetisch-harmonische Einheitlichkeit gesichert. Dadurch aber wieder schritt sie an manchem Problem, das nur die Praxis stellen hätte können, achtlos vorbei und brachte sich auch im rein Theoretischen um eine gewisse notwendige Elastizität und weltweite. Es ist das Problem des Klassischen, der Formreinheit an und für sich, das uns hier entgegentritt: das Problem von Form und Inhalt, das am Ende der vonuns eben besprochenen Vorbereitungszeit ein Aristoteles in seiner ganzen Breite aufrollte. Und es ist zudem noch ein weiteres, sehr tiefes und rätselhaftes Problem des Zusammenwirkens der einzelnen Kulturfaktoren.
Während nämlich in Ägypten die Mathematik bloße Hilfstechnik einer sicherlich tiefkulturellen Gesamtheitsformung auf architektonischem und verwaltungsmäßigem Gebiete war, während sie in Babylon und bei dessen Vorläufern auch noch gleichsam als Zusatzmaterie das Leben und die Mystik unterstützte, hat sie sich im Griechentum zur eigenen Welt konstituiert. Die Mathematik hat sich auf hellenischem Boden selbständig gemacht, beginnt das gesamte Denken der führenden Menschen zu formen, sie wird eine„Überwissenschaft“, ähnlich der Philosophie, die ja aus der Natur ihrer Problemstellung heraus stets Überwissenschaft sein soll. Und die Mathematik prallt auch folgerichtig in diesen Jahrhunderten mit der Nebenbuhlerin Philosophie hart zusammen. Unter ungeheurem geistigem Schmerz wird er„euklidische Mensch“ geboren, wie Oswald Spengler diesen Typus von Menschen nennt, der die Form so hoch stellt, daß er der praktisch anwendbarsten Wissenschaft fast die Anwendung auf die Wirklichkeit untersagt, um sie durch Jahrhunderte zu einer Vollendung zu treiben, die sie tatsächlich erst wieder am Ende des neunzehnten Jahrhunderts erreicht hat. Der Weg dieser Entwicklung wird unbeirrbar weitergegangen, nichts ist zu gering, nichts zu schwer, um das Ziel zu erreichen. In diesen für Hellas politisch so stürmischen und bewegten Jahrhunderten, in denen der Ansturm der Perser sich an den gepanzerten Scharen von Schwerter schwingenden Künstlern, Philosophen und Mathematikern bricht, in denen, noch schmerzlicher, der Bruderzwist seine blutigsten Orgien im Peloponnesischen Krieg feiert, in denen schließlich der große abtrünnige Schüler Platons, der Riesengeist und Riesensammler Aristoteles, einen jungen, halbwilden König aus dem verachteten Bergland Makedonien unterrichtet, der dann als Alexander der Große die morschen Kulturstaaten des Ostens und Südens bis ins Fünfstromland Indien und bis an die Grenze Äthiopiens zerschmettert, - in dieser so stürmischen und wahrhaft großen Zeit hat die Philosophie das ihr anvertraute Reinigungswerk der Mathematik vollendet. Gleichzeitig mit den Formwundern eines Phidias, Praxiteles und der großen Dramatik des Aischylos, Sophokles und Euripides.
Über Platons Akademie soll der Spruch gestanden haben, daß kein der Geometrie Unkundiger eintreten möge. Und im Lyzeum des Aristoteles wurde elementare Mathematik als selbstverständlich vorausgesetzt. Ja, noch mehr: Platon selbst hat die noch heute gültige Forderung aufgestellt, daß Konstruktionen geometrischer Art nur dann kanonisch seien, wenn sie lediglich unter Zuhilfenahme von Lineal und Zirkel ausgeführt würden. Dies bedeutet aber, wie man heute weiß, daß nur Probleme in dieser Art konstruiert werden können, deren arithmetisches Gegenstück nicht höhere als zweitgradige, also höchstens gemischt-quadratische Gleichungen erfordert. Dabei blieb Platon nicht stehen. Er ließ sich von Pythagoreern unterrichten, lernte von Mitschülern, wie Theaitetos, und Zeitgenossen, wie Eudoxos, von denen der Erstgenannte die Theorie des Irrationalen in aller Allgemeinheit ausbaute.
[Von Eudoxos wird im nächsten Kapitel ausführlich die Rede sein.]
Und er hatte seine Forderung an den Pforten der Akademie durchaus nicht als Phrase oder Aperçu gemeint. Denn er selbst stellte als erster in der Geschichte der Mathematik die sogenannte „analytische Methode“ in den Vordergrund der Forschung die darin gipfelt, das geometrische Problem als gelöst zu betrachten und davon rückschließend die Eigenschaften der Figuren in ihrer umfassendsten Gesamtheit zu erforschen. Wenn die kosmischen Körper oder die regelmäßigen Vielflache auch platonische Körper heißen, hängt dies Wohl eher mit naturphilosophischen Ausdeutungen und näherer Erforschung dieser Körper als mit ihrer Entdeckung zusammen.
Nun aber trat, Wie schon erwähnt, nach Platon, dessen Ermahnung an seine Schüler, sich der Mathematik philosophisch und kritisch zu widmen, auf durchaus fruchtbaren Boden gefallen War, der große Stagirite Aristoteles auf den Plan. Und schuf ein Gipfelwerk menschlichen Denkens, dessen Formung er der Mathematik ebensowohl ablauschte, als er es auch wieder zur Richtschnur und Forschungsregel an die Mathematik 'Weitergab. Wir meinen die Begründung der Logik als Wissenschaft, deren erste Geburtswehen uns aus den Platonischen Dialogen in wogendem Leben, in berauschendem Werden noch heute gegenwartsnah erscheinen. Aristoteles, dessen Geist, ungleich dem Geiste Platons, nicht so sehr dem synthetisch Deduktiven als dem Induktiven zuneigte, war Forscher und Sammler zugleich. Und er regte daher nach allen Seiten zu Kompilationen an. Auch auf dem Gebiete der Mathematik. So kam es, daß sein Schüler Eudemos jene wertvolle Geschichte der Mathematik verfaßte, deren durch Proklos erhaltene Bruchstücke als sogenanntes „Mathematikerverzeichnis“ für uns noch heute von unschätzbarem Werte sind.
Die Stürme der Welteroberung durch Alexander den Großen sind verrauscht. Alexander selbst hat seine Kometenlaufbahn vollendet. Der Osten, den er niedergeworfen, hat ihn ausgehöhlt, entnervt, hat ihm ein frühes Ende bereitet. Und die Diadochen haben untereinander das Erbe der Welt geteilt. Am Zentrum der werdenden Welt, die Wieder in satter Ruhe liegt, in Alexandria, residiert Ptolemäus Soter, der erste griechische König Ägyptens. Noch bleibt Athen Sitz höchster Bildung, noch florieren in edlem Wetteifer die Akademie Platons und die peripatetische Schule des Aristoteles. Auch Großgriechenland ist vorläufig bloß gefährdet, noch nicht aber bedrängt. Das Schwergewicht auch des Geistes jedoch beginnt sich nach Alexandria zu verlegen. Denn dort entstehen unter Ptolemäus II. Philadelphus weite Hallen für den Geist, entsteht das Museion, Forschungsstätte, Bibliothek und Stiftung zugleich. Aller persönlichen Sorgen sind die Gelehrten des Museions enthoben, alle Wissenschaft auch des Ostens und Ägyptens strömt ihnen geheimnislos und willig zu. Und in den Hallen ruhen Tausende und Abertausende von Papyrosrollen, auf denen flinke Abschreiber das gesamte Wissen der bisherigen Weltentwicklung aller Zonen aufgezeichnet haben.
Durch diese Hallen nun wandelt etwa um 300 vor Christi Geburt ein stiller Mann. Woher er kam, wissen wir nicht. Wir wissen nicht einmal, wann er geboren wurde und wann er starb. Nur einmal hat er als Person in seinem Leben etwas gesagt, das allen Höflingen die Haare zu Berge trieb. Als ihn nämlich sein König Ptolemäus Philadelphus fragte, ob es für den Unterricht oder die Aneignung der Mathematik keinen bequemeren Weg gebe als den der „Elemente“, hat er stolz geantwortet: „Für die Mathematik gibt es keinen Königsweg.“ Ptolemäus Philadelphus dürfte nicht verstimmt gewesen sein. Wahrscheinlich hat er gelacht. Nicht aber aus Gutmütigkeit. Denn die ersten Ptolemäer zeichneten sich in gleicher Art durch skrupelloseste Genußsucht, Verwandtenmorde und ähnliches, doch auch wieder durch ein überschwengliches Mäzenatentum aus. Sie suchten eben ihre Macht sowohl in der Zeitlichkeit als gegenüber der Ewigkeit zu befestigen und gebrauchten auf dem ewigkeitsgewohnten Boden Ägyptens zu diesem Zweck nicht die althergebrachten Pyramiden, sondern die weniger kostspieligen Künstler, Philosophen und Mathematiker. Mit Euklid ist ihnen diese Absicht vortrefflich gelungen. Die schon erwähnten „Elemente“ sind außer der Bibel das meistvervielfältigte Buch des abendländischen Kulturkreises und erlebten nach vorsichtiger Schätzung allein durch Druck über 1500 verschiedene Ausgaben, von denen einige schwindelnd hohe Auflageziffern erreichten.
Wir sprechen von Büchern. Auch in dieser Beziehung ist seit den Anfängen der hellenischen Mathematik ein großer Wandel eingetreten. Während ein Thales oder ein Pythagoras keinerlei mathematische Schriften hinterließen, wimmelt es jetzt, wenige Jahrhunderte später, von solchen Aufzeichnungen. Ja, es soll sogar eine ganze Reihe von „Elementen“ der Geometrie schon vor Euklid gegeben haben. Wir besitzen aber keine einzige derartige Sammlung. Ist also alles nur ein rein antiquarischhistorischer Zufall? War Euklid nur einer von vielen, dem es ein günstiges Geschick gab, durch innerlich und sachlich gar nicht gerechtfertigte Erhaltung seiner Schriften die Ewigkeit zu erschleichen? Nein, so war dem durchaus nicht! Wieder, wie bei Pythagoras, sprang aus dem Haupt des Zeus eine Pallas Athene in voller Rüstung. Die „Elemente“ Waren so neu, so umfassend, so endgültig, so unangreifbar, daß sie, wie wir heute sagen würden, unmittelbar nach ihrem Erscheinen die größte Sensation erregten. Darum wurden sie überverhältnismäßig vervielfältigt und darum wurden sie so sehr Grundlage des Studiums und Gemeingut aller Gebildeten, daß sie nicht mehr aus dem Geistesleben verschwanden, wenn auch der Erdkreis wankte und neue Völker das Erbe des klassischen Altertums antraten. Euklids Elemente waren eben ein Hauptaktivum dieser Erbschaft.
Nun haben wir aber bisher bloß äußere Dinge berichtet: eine Biographie Euklids, die aus einer einzigen Anekdote und aus einer vagen Jahreszahl besteht. Und einen Bucherfolg, dessen innere Begründung wir zwar behaupteten, der aber durchaus nicht auf Treu und Glauben als begründet hingenommen werden muß. Daher ist es höchste Zeit, zum Kern der ganzen Angelegenheit vorzustoßen.
Nicht ohne sehr überlegte Absicht haben wir den Streit der griechischen Philosophen so stark in den Vordergrund gerückt. Die durch all diese unheimlich temperamentvollen und erbitterten Geistesfehden geklärte, gereinigte und doch wieder gewitterschwangere Kulturatmosphäre hellenischen Bereiches verlangte zu Beginn der alexandrinischen Epoche etwas anderes von der „sichersten Wissenschaft“ als gelegentliche verblüffende Problemstellungen und ebenso verblüffende Rätsellösungen. Sie verlangte aber auch eine Beseitigung des „Skandals der Mathematik“, die durch Angriffe von der Art Zenonischer Paradoxien im Ansehen der durch Komödiendichter zum Lachen gereizten Volksmassen nicht gerade gestiegen war. Dies aber um so mehr, als es sich bei der Mathematik um ein N ationalheiligtum handelte, um einen Beweis des Menschseins, der höheren Kultur und Zivilisation. Wodurch nun sollte diese Riesenaufgabe bewältigt werden? Es gab hierzu wohl nur den durch die Logik des Aristoteles vorgezeichneten Weg. Und dieser hieß: Gesamtaufbau einer echten Wissenschaft durch strengste Systematik. Nicht etwa durch die künstliche Bemühung originalitätslüsterner Sammler und Gelehrten, die Mathematik so behandeln würden wie ein Raritätenkabinett mit äußerlich aufgepfropfter Einteilung. Nein, aus den tiefsten ersten Wurzeln, aus den Sockelquadern mußte alles Schritt für Schritt sich vor dem Weisheitsliebenden aufbauen und eine Wahrheit mußte zwingend aus der anderen folgen. Zur Analysis im Sinne Platons blieb später Zeit. Zuerst mußte, rein deduktiv, die Synthesis, das stufenweise Aufeinandertürmen der mathematischen Erkenntnisse geleistet werden.
Euklid hat diese allen früheren aussichtslos scheinende Riesenaufgabe in einer Art bewältigt, daß sein Bau durch Jahrtausende aller Kritik standhielt, sofern sie nicht bloß schlechter Laune entsprang wie die Einwürfe Schopenhauers und zudem noch, wie alle solche Einwürfe, an tiefem Mißverständnis der eigentlichen mathematischen Zielsetzung krankte. Und Euklid hat diese Aufgabe derart bewältigt, daß ihn erst die geistige Entwicklung der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts erreichte und sein Werk verallgemeinern konnte, wobei sie ihn durch diese Verallgemeinerung eher rechtfertigte als angriff. Kurz, man könnte als Motto über die Elemente Euklids einen Buchtitel schreiben, den Pater Saccheri, der Vorreiter der nichteuklidischen Geometrien, allerdings in etwas anderem Sinne, seinem Buche gab: „Euclides ab omni naevo vindicatus.“ Zu deutsch: „Euk1id, von allem Makel gereinigt.“
Dabei sei nur nebenhin erwähnt, daß Euklid Gründer und erstes Schulhaupt der großen Mathematikerschule Alexandrias war; daß er noch andere großartige Werke, wie die Porismen und die Data, außerdem ein Buch über Kegelschnitte und anderes mehr verfaßte; und daß ihm unstreitig der Rang eines ganz großen Mathematikers gebührt, auch was seine höchstpersönlichen Entdeckerleistungen betrifft. Es soll nämlich durchaus nicht den Anschein haben, als ob er bloß Sammler und Systematiker gewesen Wäre, obgleich ihn auch diese Leistung allein unsterblich machen müßte, da sie die Konzeption der gesamten Mathematik betrifft.
Nun wollen wir aber doch des lebendigeren Einblicks wegen die „Elemente“ flüchtig durchblättern. Sie heißen in griechischer Sprache „Stoicheia“ und sind in dreizehn Bücher eingeteilt. An ihrer Spitze steht das weltberühmte euklidische „Axiomensystem“, die Zusammenfassung der sogenannten Erklärungen, Forderungen und Grundsätze. Man hat diese einzelnen Gruppen auch als Definitionen, Postulate und Axiome bezeichnet und viel darüber diskutiert, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Sicherlich sind die Axiome oder Grundsätze nichts anderes als allgemeine oder allgemeingültige oder allen Menschen gemeinsame Einsichten, die nicht bewiesen zu werden brauchen, auch gar nicht bewiesen werden können. Jeder, auch der verwickeltste Beweis muß endlich bei diesen Axiomen als letzten Beweisgründen landen, muß auf sie als letzte Instanzen stoßen. Daß das Ganze größer als sein Teil sei (Axiom 9) oder daß zwei gerade Linien niemals einen Raum (Fläche) einschließen könnten (Axiom 12), muß ebenso jeder mathematischen oder geometrischen Bemühung irgendwie zugrunde liegen Wie etwa die Forderung 2, daß man eine begrenzte gerade Linie stetig gerade verlängern könne und daß es möglich sei, aus jedem Mittelpunkt, mit welchem Radius immer, einen Kreis zu konstruieren (Postulat 3). Ebenso setzt die ganze Geometrie rein definitorisch voraus, daß ein Punkt keine Teile (Definition 1) und eine Linie nur eine Länge ohne Breite besitze (Definition 2) oder daß ein mit seinem Nebenwinkel spiegelbildlich gleicher Winkel ein rechter Winkel sei (Definition 10).
Aus diesem Minimum von 35 Definitionen, 3 Postulaten und 12 Axiomen [Nach neuester Lesart gibt es 23 Definitionen, 5 Postulate und 8 Axiome, ohne daß diese erschiebung der Einteilung das Wesen der Sache ändert.] nun baut Euklid, wie schon erwähnt, die ganze Mathematik auf, wobei er im späteren Verlauf der Darstellung noch eine große Anzahl von Definitionen, jedoch keine Postulate und Axiome mehr hinzufügt.
Das erste Buch nun handelt von Dreiecken, Parallellinien und Parallelogrammen und schließt mit dem klassischen euklidischen Beweis des Pythagoreischen Lehrsatzes. Dazu wollen wir bemerken, daß die noch heute übliche Beweisform, bestehend aus Behauptung, Beweis und Schlußformel („was zu beweisen war“) bei Euklid erstmalig konsequent auftritt. Bei Konstruktionen heißt es am Schluß: „Was zu konstruieren war.“ Das zweite Buch wendet den „Magister Matheseos“ (wie der Lehrsatz des Pythagoras später genannt wurde) in ausgedehntester Weise an und enthalt durch seine zahlreichen Verwandlungsaufgaben eigentlich eine „geometrische Algebra“, wie wir sie bereits bei den Pythagoreern kennenlernten. Die weiteren planimetrischen Bücher ,drei und vier behandeln die Kreislehre, die Sehnen- und die Tangentenvielecke und schließen mit dem fünften Buch, das die Proportionenlehre bringt, und dem sechsten, das die Ähnlichkeit der Figuren erörtert, den ersten Teil des Werkes ab. Hervorzuheben ist die ungeheure Verallgemeinerung, die alle bisherigen Lehrsatze durch Euklid erfahren haben. Wir können uns nicht in Einzelheiten verlieren, wollen es aber doch nicht unterlassen, auf den 31. Satz des sechsten Buches zu verweisen, der ganz allgemein die Behauptung aufstellt, daß die Summe ähnlicher Gebilde über den beiden Katheten stets gleich sei einer analogen ähnlichen Figur über der Hypotenuse. Dieser ganz allgemeine, bei Euklid auf zwei Wegen bewíesene Satz ist wohl eine sehr umfassende Folgerung, die aus dem Pythagorassatz hervorgeht. Es war damit etwa bewiesen, daß die Summe zweier aus Kreisen gebildeten „Möndchen“) über den Katheten flachengleich sei dem Möndchen über der Hypotenuse.
Ist nun diese Verbreiterung des planimetrischen Wissens bei Euklid erstaunlich, so setzen uns die folgenden Bücher sieben bis zehn vielleicht in noch größere Verwunderung. Was sich da vor uns aufbaut, ist nichts weniger als eine umfassende Zahlentheorie, begonnen vom Unterschied der Primzahlen und zusammengesetzten Zahlen über gemeinsames Maß und gemeinsames Vielfaches, über einen Beweis von der unendlichen Menge der Primzahlen bis zu einer durchgebildeten Theorie des Irrationalen und des Inkommensurablen. Ein neuerer Forscher, Nesselmann, erklart, daß man über das in den Elementen bezüglich höherer Irrationalitaten Erreichte durch volle achtzehnhundert Jahre nicht hinauskommen konnte, was begreiflich ist, wenn man bedenkt, daß Euklid mit Ausdrücken vom Typus
allerlei Umformungen ohne eigentliche algebraische Schreibweise, also vorwiegend geometrisch, vornehmen mußte. Dieses Zeugnis Nesselmanns diene zur schlagenden Widerlegung des weitverbreiteten Irrtums, daß Spitzengeister früherer Epochen etwa naiv waren, nur weil sie einige Jahrtausende vor uns lebten oder weil sie vielleicht ganz andere Dinge wollten als wir Heutigen.
Nachdem nun Euklid die Zahlentheorie erledigt hat, begibt er sich in den Büchern elf bis dreizehn auf das Gebiet der räumlichen Geometrie und baut sie ebenfalls in synthetischer Art auf. Er hat sie allerdings nicht so erschöpfend behandelt wie die ebene Geometrie, ein Umstand, der bis in den Unterricht der Gegenwart nachwirkt. Gleichwohl sind auch auf stereometrischem Gebiet seine Leistungen erstaunlich genug, und er verwendet bei krummflächigen Gebilden, wie bei der Kugel, bereits Methoden der Rechnung mit dem Unendlichen (Infinitesimalmathematik) in Form des sogenannten Exhaustionsbeweises. Doch darüber wollen wir im nächsten Kapitel sprechen. Daß nach Ansicht einiger Kompilatoren des Altertums der Endzweck und die Krönung des Euklidischen Werkes die Untersuchung der kosmischen Körper (der regelmäßigen Polyeder) gewesen sei, mag nebenbei erwähnt werden. Tatsache ist es, daß bei Euklid schon ein zwingender Beweis dafür auftritt, daß es nur fünf reguläre Vielflache geben könne (als Anmerkung zum 18. Satz des dreizehnten Buches), was in sehr eleganter Art demonstriert wird. Nun sagt derselbe uns schon sattsam bekannte Proklos, der aus der angeblichen Zugehörigkeit Euklids zur Platonischen Philosophie auf das Endziel der Elemente (die platonischen Vielflache) geschlossen hat, an einer andern Stelle viel plausibler, daß „Elemente“ alle Dinge genannt würden, „deren Theorie hindurchdringt zum Verstehen der andern Dinge und von denen aus uns die Lösung der Schwierigkeiten dieser andern Dinge gelingen würde“. Kurz gesagt, wir sollen durch die Elemente befähigt werden, alle andern Dinge der Mathematik zu meistern. Die Elemente sind somit nicht ein „Königsweg“, wohl aber die einzige breite Heeresstraße, die über Berg und Tal zur Mathematik führt. Und es ergibt sich nach Euklid der dreistufige Aufbau der Mathematik als Axiomatik, als Untersuchung der Elementarsatze und als weitere Mathematik, deren Gebiet einleuchtenderweise weder begrenzt noch eingeengt werden kann. Somit wäre also durch Euklid der Unterbau der Mathematik für alle Ewigkeit gelegt worden und wir dürften konsequenterweise sein Werk nur ausweiten, niemals jedoch auf andere Fundamente stellen. So dachte noch ein Immanuel Kant in seiner berühmten Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ vom Jahre 1787. Es war die Herrschaft der „euklidischen“ Welt, der „euklidischen“ Mathematik, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nicht angezweifelt wurde, wenn auch eines der Axiome (je nach Lesart Axiom 11 oder Postulat 5) selbst den alten Griechen viel Kopfzerbrechen verursachte. Moderne Mathematiker hohen Ranges, die einzigen sicherlich, die sich in die Psyche Euklids voll hineindenken können, behaupten sogar, daß Euklid selbst dieses Axiom nur unter großen Gewissensbissen hingeschrieben haben dürfte. Es lautet: „Wenn eine Gerade zwei andere Gerade trifft und mit ihnen auf derselben Seite innere Winkel bildet, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind, sollen jene beiden Geraden, ins Unendliche verlängert, auf der Seite zusammentreffen, auf der die Winkel liegen, die kleiner als zwei Rechte sind.“
Wir wissen aus der Schule, daß der größte Teil unserer Geometrie mit diesem Grundsatz steht und fallt. Denn etwa die Tatsache, daß die Winkel eines Dreiecks die Summe von 180 Graden oder zwei Rechten haben, ist ohne das Parallelenaxiom schlechterdings unbeweisbar. Und es hätten schon die alten Griechen, die mit Kugeldreiecken sehr geschickt umgingen, bemerken können, daß .tatsächlich auf der Kugel, auf der es nur einander schneidende „Gerade“ (die Größtkreise) gibt, die Winkelsumme stets von 180 Graden verschieden ist, wobei sie diese 180 Grade ausnahmslos übertrifft.
[Unter „Gerader“ auf der Kugel muß man die kürzeste Verbindung zweier Punkte, also den Größtkreis verstehen, falls man die Kugelfläche nicht verläßt. Zu solcher Verallgemeinerung sind die alten Griechen jedoch nicht vorgedrungen.]
Aber zurück in die euklidische Welt! Für unsren Standpunkt in Raum und Zeit - das Alexandria des 4. und 3. vorchristlichen Jahrhunderts - ist Mathematik zum erstenmal durch Euklid vollgültig gegen alle Gefahren philosophischer Zersetzung gesichert worden. Neugeboren steht unsre Wissenschaft vor den erstaunten Augen der Welt schlackenlos da. Der Weg unbegrenzten Aufstieges ist geebnet, der Bau wolkenhoher Türme ermöglicht, da die Fundamente tief verwurzelt sind im unentrinnbaren Urgesetz des Denkens, der Logik, und zugleich im Gesetz der reinen Anschauung, im dreidimensionalen „euklidischen“ Raum.


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