Benutzer:Bilanzgrenzer/Von Pythagoras bis Hilbert Teil 2

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Von Pythagoras bis Hilbert (Teil 2) (als Scan auf Commons)


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Drittes Kapitel.
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ARCHIMEDES
Mathematik und Wirklichkeit
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Eine neue werdende Weltmacht tritt auf den Plan, als das Hellenentum nach den Alexanderzügen eben den letzten großen Traum eines Weltimperialismus ausgeträumt hat. Im Jahre 216 sind bei Cannae 50.000 tapfere römische Legionare von Hannibal zusammengehauen worden. Es ist der Wendepunkt der römischen Geschichte, einer jener Wendepunkte, an denen über Sieg oder Untergang einer Nation nicht mehr ihre physische, sondern ausschließlich nur noch ihre moralische Möglichkeit entscheidet. Alles scheint für Rom verloren. Doch es rafft die letzten Waffenfahigen zusammen, bewaffnet sie mit alten Beutestücken aus den Tempeln, und schon zwei Jahre später steht der Consul M. Claudius Marcellus mit den Resten des bei Cannae fast gänzlich vernichteten Heeres vor Syrakus, um den Verbündeten Karthagos zu züchtigen. Doch die Römer sind vom Unglück verfolgt, auch hier ereignet sich ein negatives Wunder. Als Marcellus Syrakus von der Seeseite angreift, senken sich eiserne Hände und Schnäbel von den Mauern, krallen sich in die Schiffe und heben sie hoch, um sie wieder fallen zu lassen. Und auf die zerschmetterten Planken, an die sich Ertrinkende klammern, saust ein furchtbarer Hagel riesiger Steinblöcke, wie er von Menschenkraft noch niemals erregt wurde. Alteste Veteranen erblassen. Wo sich über den Mauern von Syrakus ein Tauende oder ein Stückchen Holz zeigt, dort fliehen die Legionäre in unhemmbarem Entsetzen. Denn sie Wollten gegen Menschen kämpfen, oder, Wenn es sein müßte, gegen die Kriegselefanten Hannibals, nicht mehr aber gegen feindlich gesinnte Götter und hundertarmige Riesen. Ihr Führer aber, der große Consul Marcellus, sorgt dafür, daß sie eine Erklärung des schrecklichen Wunders erhalten. Und da erfahren sie, daß ein einzelner gegen sie alle streitet, ein einsamer zweiundsiebzigjähriger Greis. Er heißt Archimedes und ist der größte aller hellenischen Mathematiker, einer jener skurrilen, Weltabgewandten Männer, deren Wesen der harte, Wirklichkeitsverwurzelte Römer noch Weniger versteht als seine ihm ebenfalls unklare Beschäftigung mit Linien und Buchstaben. Ist das Zauberei? Hat man über diese Tröpfe bisher fälschlich gespöttelt und gelacht? Jetzt, da es ernst geworden ist, hat man”s. Jetzt recken sich die eisernen Zauberkrallen über die Mauern und die Steine hageln, als ob Vesuv und Atna zugleich das Innere der Erde ausspieen.
Und zu allem soll dieser Archimedes, gerade dieser Archimedes, der schnurrigste aller Geometer sein, den die Hellenen hervorbrachten. Man erfährt alles von gefangenen Syrakusanern, die sich durch Geschwätzigkeit Erleichterung ihres Gefangenenloses erkaufen Wollen. Archimedes sei mit dem Königshause verwandt, seine Familie sei reich gewesen. Er aber habe durch Verträumtheit alles vor die Hunde gebracht. Sei es ein Wunder, daß ein Mann abwirtschaften müsse, den die Verwandten mit sanfter Gewalt zum Bad schleppten, weil er es ebenso vergaß wie die Mahlzeiten? Und wenn er endlich badete, dann zeichne er während der Salbung ununterbrochen Linien in den Sand und murmle unverständliche Worte. Ja, einmal sei er sogar splitternackt durch die Straßen von Syrakus gelaufen und habe in einem fort „Heureka, heureka!“ geschrien. Was habe er da „gefullden“? Daß der Goldschmied den König betrogen und den Goldkranz nicht aus reinem Gold angefertigt habe? Angeblich sei Archimedes dies dadurch zum Bewußtsein gekommen, daß das Bad überlief, als er sich hineinsetzte. Das sei doch, bei den Göttern, keine große Entdeckung. Auf jeden Fall sei dieser Archimedes ein Narr oder ein Dämon oder beides.
Die römischen Bauern, aus denen sich ja die Legionen zusammensetzen, sind durch diese Erzählungen aufgeregter Syrakusaner nicht getröstet. Im Gegenteil. Jetzt glauben sie erst recht an Zauber und schwärzesten Spuk. Und als endlich nach zwei grauenvollen Jahren Syrakus ihnen durch List und Überrumplung in die Hände fällt, da stürmen sie mordend und plündernd durch die Gassen der eroberten Stadt und sind noch wilder als sonst, da sie an jeder Straßenbiegung das Auftauchen neuer archimedischer Gespenster befürchten.
Dabei betritt ein Legionär ein anscheinend unbewohntes Haus. Im Garten sitzt ein Greis und zeichnet Figuren in den Sand. Warum soll er sie nicht zeichnen? Gewiß, heute ist viel Lärm in der Stadt. Aber solchen Lärm gab es oft in den vergangenen zwei Jahren. Und das Problem leidet keinen Aufschub. Archimedes blickt kaum auf. Er merkt nur, daß ein Fuß in seine Linien tritt. „Störe mir meine Kreise nicht! “ sagt er sanft. Doch fast im gleichen Augenblick macht das Schwert des Legionärs seinem Leben ein Ende.
Hat der Soldat gewußt, daß er Archimedes tötete? Wollte er den „Zauberer“ beseitigen, um die Legionen und Rom zu retten? Trotz des strengen Befehls des Consuls Marcellus, Archimedes zu schonen?
Marcellus war erbittert, als er von der Tat hörte. Er ließ Archimedes mit allen Ehren bestatten und setzte ihm ein Grabmal, das allerdings durch Jahrhunderte vergessen war und von Hecken und Dornen überwuchert wurde. Erst Cicero hat es wieder aufgespürt, fand darauf die in den Zylinder einbeschriebene Kugel und bewies der Welt damit, daß Archimedes nicht nur eine Sage, sondern ein lebendiger Mensch gewesen war. Ein Mensch - fügen wir hinzu -, dessen innere Damonie kaum je in der Geschichte des Geistes übertroffen wurde. So umwalzend, so neu, so zukunftsschwanger war alles, was er unternahm und schuf.
Wir aber müssen nun mit unserem Zauberteppich in die Zeit zurückfliegen, in der wir schon einmal Weilten, müssen die geistigen Ahnen dieses unheimlichen Gestalters feststellen, da er für uns sonst noch viel mehr in die Zonen des nicht mehr zu Verstehenden gerückt würde.
Von den Eleaten, der Philosophenschule, die der Riesengeist Parmenides gegründet hatte, haben wir schon gehört. Es war jene Schule, die das ewige Sein, das Ruhende, als oberstes Weltprinzip erklärte und alles Werden zu bloßem Schein degradierte. Es war jene Schule, deren, fast möchte man sagen, karikaturistischen Ausklang der Eleate Zenon mit seinen sophistischen Paradoxien bildete. Wenn nun auch das Mißverständnis, das in diesen geistigen Luftsprüngen lag, von gründlicheren Geistern bald aufgeklärt und auf sein richtiges Maß zurückgeführt wurde, so blieb der echte Kern eleatischer Weisheit doch tief in der hellenischen Philosophie verwurzelt, da er dem Grundcharakter des zeitlosen Volkes der Harmonie sehr angemessen war. Und die echte eleatische Auffassung setzt sich fort in der platonischen Lehre von den ewig seienden Ideen, von den Urbildern alles Daseins, aller schattenhaften, verunreinigten Wirklichkeit. Von dort pflanzt sich diese Grundstimmung der in sich ruhenden Ewigkeit weiter über Aristoteles fort, bis sie in der rein statischen, klaren und bewegungslosen Mathematik Euklids ihren vollendeten Ausdruck auf geometrischem Gebiet findet. Für Euklid etwa ist ein Kreis durchaus nicht das Ergebnis eines Zirkelumschwunges, auch nicht das schon abstraktere Resultat der Bewegung eines Halbmessers, einer um einen der Endpunkte wieder in sich selbst zurückgedrehten Strecke, sondern die Gesamtheit oder der Inbegriff aller Punkte, für die der Abstand von einem bevorzugten Punkt (dem sogenannten Mittelpunkt) gleich ist. Es wird also, rein eleatisch, nicht das Werden des Kreises, sondern das Sein des Kreises ausgedrückt. Noch augenfälliger wird dieser Wesensunterschied bei verwickelteren Kurven. So bemerkt der Archimedesforscher A. Czwalina treffend, daß Archimedes die von ihm entdeckte und nach ihm benannte Spirale folgendermaßen beschreibt: „Wenn sich ein Halbstrahl um seinen Anfangspunkt mit gleichförmiger Geschwindigkeit dreht, nach einer beliebigen Anzahl von Drehungen wieder in seine Anfangslage zurückkehrt, und sich auf dem Halbstrahl ein Punkt mit gleichförmiger Geschwindigkeit, im Anfangspunkt des Halbstrahls beginnend, bewegt, so beschreibt dieser Punkt eine Spirale.“ Dagegen, so sagt Czwalina, hätte Euklid, ohne sich selbst untreu zu werden, dieselbe Kurve in seiner statischen Art so beschreiben müssen: „Es ist gegeben ein Halbstrahl und außerhalb desselben ein Punkt. Es sei die Gesamtheit aller der Punkte betrachtet, für die sich der Abstand des gegebenen Punktes zum Anfangspunkt des Halbstrahls verhält wie der Winkel, den jener Halbstrahl bildet, zu dem Winkel, den dieser Abstand bildet.“
An diesem Beispiel ist die Grenze der euklidischen Darstellungsart klar ersichtlich. Die logisch und Weltanschaulich begründete Ausschließung alles Werdenden, aller Bewegung, erzeugt zunehmend eine Starrheit und Undurchsichtigkeit der Darstellung, Wenn es sich um verwickeltere Probleme oder Definitionen handelt. Doch darin lag der Unterschied durchaus nicht allein. Wir müssen ihn also tiefer und verhüllter suchen. Zu diesem Zweck muß uns aber der Zauberteppich neuerdings bis zu Parmenides zurücktragen.
Wir sagten schon, daß die Philosophie des Seins dem der Harmonie zugewandten Geist der Hellenen durchaus gemäß War. Die Griechen haßten das Uferlose, Unbegrenzte, Formlose. Und sie wollten nicht an Dinge rühren, die, über das Menschenmaß hinausreichend, eigentlich den Göttern gehörten. So wurde auch Prometheus, der Übermenschliches erstrebt hatte, mit Ketten an den Kaukasus geschmiedet und die Adler des Zeus fraßen an der Leber des hilflos gemachten Titanen.
War es sinnbildhaft, daß, fast zu gleicher Zeit mit dem Ruhespender Parmenides, am entgegengesetzten Ende hellenischen Gebietes, in Ephesos, ein Mann zu lehren begann, der nicht bloß äußerlich dem Kaukasus näher war? Der all das prometheische Feuer in Hellas entfesselte oder zumindest solcher Entfesselung die geistige Unterlage lieh? Er hieß Heraklit und wurde schon im Altertum der „dunkle Heraklit“ genannt, was wohl nicht bloß allein wegen der epigrammatischen Kürze seiner Weisheiten, sondern mindestens ebenso wegen des Inhalts seiner Lehren geschah, die jenes zweite Wesen des Griechengeistes spiegelte, der sich manchmal eruptiv Luft machte und den mühsam errungenen Kosmos, die schwer erkämpfte Harmonie wieder ins Wanken brachte. Heraklit stellte dem Sein der Eleaten das ewige Werden entgegen. „Alles fließt“ und „Der Widerstreit ist Vater des Allgeschehens“ sind seine obersten Grundsätze, die sofort aus dem ewig Ruhenden das unterbrechungslos Veränderliche machen und das Sein zu einem ungreifbaren schattenhaften Übergangspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft degradieren. Diese Lehre wirkt aber, ebenso wie die eleatische, bestimmend auf das Reich der Mathematik ein. Denn schon die Linie ist, heraklitisch gesehen, nicht mehr eine Perlenschnur von einander benachbarten, gleichwohl aber getrennten Punkten, sondern sie wird zur Bewegungsspur eines fortschreitenden Punktes und wird damit stetig oder kontinuierlich. Damit aber ist in irgendeiner Form auch das streng verpönte, nur den Göttern erfaßbare Unendliche in die Geometrie gebracht, da ein Kontinuum, um wirklich stetig zu sein, aus unzähligen Punkten bestehen muß.
[Von den verschiedenen „Mächtigkeiten“ der unendlichen Mengen im Sinne der Mengentheorie sprechen wir auf dieser Stufe noch nicht.]
Aber nicht die Lehre des Heraklit allein begleitete jene Zeit, deren Vorwärtssturm zu euklidischer Formvollendung wir bereits geschildert haben. Außer der dunklen Mahnung des Irrationalen wurden in diesen Jahrhunderten, insbesondere im fünften vorchristlichen Jahrhundert, die drei sogenannten klassischen Probleme aufgestellt, die durch ihre Lösungsschwierigkeit das Geheimnis aller mathematischen Bemühung so recht offenbarten; und die an der Möglichkeit voller und endgültiger Harmonie zweifeln und verzweifeln ließen. Zuerst das Problem der Winkeldreiteilung und das delische Problem oder die Würfelverdoppelung, das zudem noch sakrale, mystische Schauer auslöste. In ihrer, Not, bedrängt von Ungemach und Seuchen, hatten sich die Delier an das Orakel zu Delphi um Hilfe gewandt und dort die Auskunft erhalten, der Zorn des Gottes könne nur dadurch versöhnt werden, daß sein Altar in Delos verdoppelt würde. Nun hatte aber dieser Altar die Gestalt eines Würfels, und man mußte nach mancher Bemühung erkennen, daß die Problemlösung mit den konstruktiven Mitteln von Zirkel und Lineal nicht gelang, was uns Heutigen sofort erklärlich ist, weil es sich bei der Würfelverdoppelung um Auflösung der drittgradigen (kubischen) Gleichung :v3 = 2a3 handelt und mit Zirkel und Lineal höchstens quadratische Gleichungen behandelt werden können. Das dritte der Probleme aber war die Quadratur des Kreises, mit der sich, wie schon erwähnt, bereits Anaxagoras beschäftigt haben soll.
Wir sind außerstande, all die mannigfaltigen und genialen Versuche zur Lösung dieser drei Probleme auszuführen, die, wie festgestellt werden soll, wirkliche und ernst zu nehmende Lösungen ergaben. Wir wollen nur erwähnen, daß sich gelegentlich dieser Problemlösungen eine „Bewegungsgeometrie“ entwickelte, die stets neue und stets kompliziertere Kurven entdeckte. Die sogenannte „Einschiebung“ war auch nichts anderes als die Hinzufügung einer Bewegungskonstruktion zu den bisherigen Hilfsmitteln von Zirkel und Lineal.
Nun trat aber ein neues Geheimnis hinzu, das bei der versuchten Quadratur des Kreises offenbar wurde. Während nämlich ein Teil der Mathematiker fest davon überzeugt war, die Flächen- oder Raumausmessung krummlinig begrenzter Gebilde müsse naturnotwendig zu irrationalen, also stets nur zu angenähert richtigen Ergebnissen führen, glaubte der andere Teil der Geometer bloß an die Unvollkommenheit der bisherigen Methoden. Eine tiefere Erkenntnis müßte rationale Ergebnisse ermöglichen. Der Zufall wollte es, daß die zweite Ansicht in augenfälliger Weise durch die Mönd chenkonstruktionen des Hippokrates von Chios Stütze und Bestätigung erhielt. Dem Hippokrates war es nämlich unwiderleglich gelungen, seine Möndchen, also allseitig krummlinig begrenzte Figuren, mit einem rechtwinkligen Dreieck in ein streng rationales Verhältnis zu setzen. Der damaligen Geometrie war es bereits ein Leichtes, dieses Dreieck in ein flächengleiches Quadrat zu verwandeln, wodurch die erste glatte Quadratur einer krummlinig begrenzten Figur geleistet war. Es konnte also niemand mehr behaupten, der Flächeninhalt derartiger Gebilde sei seinem Wesen nach nur durch irrationale Inhaltszahlen ausdrückbar.
Die große Hoffnung, die Hippokrates bei allen, die sich um die Quadratur bemühten, erweckt hatte, wollte sich aber durchaus nicht erfüllen, und so mußte man wieder zu einer Methode seine Zuflucht nehmen, der allerdings der Makel des verpönten „Unendlichen“ untilgbar anhaftete. Wir erwähnten schon, daß der Atomistiker Demokrit als erster den Inhalt der Pyramide und des Kegels als ein Dritteil des gleich hohen Prismas bzw. Zylinders gleicher Grundfläche festgestellt hatte, indem er die Gebilde in dünne Scheiben zerschnitt. Das war, sollte sie taugen, unleugbar eine Operation mit unendlich kleinen Größen. Man hatte aber für die Quadratur und Kubatur noch eine zweite Methode, die darin bestand, daß man die krummlinige Figur durch geradlinig begrenzte Figuren stets mehr und mehr ausfüllte und schließlich sämtliche geradlinig begrenzten Figuren aufzusummieren trachtete. Sollte diese Methode nicht ein bloßer N äherungsprozeß sein, dann mußte man wohl oder übel eine Summe unendlich vieler Summanden bilden. Wie machte man aber das? Vor allem: würde eine derartige Summe nicht notwendigerweise als Ergebnis eine unendliche Größe liefern müssen, selbst wenn die Summanden noch so klein waren? Also Problem über Problem und Widerspruch über Widerspruch. Aber zeigte nicht wieder das Ergebnis des Hippokrates bei seinen „Möndchen“, daß derartiges möglich sein mußte? Ein rationales Quadraturergebnis war ohne solche Möglichkeiten undenkbar.
In diesem Schwanken der Begriffe stand nun wieder ein Riesengeist auf, dessen Tat nicht hoch genug angeschlagen werden kann, da sie bis auf den heutigen Tag zureichend und gültig geblieben ist. Eudoxos, ein Zeitgenosse des Platon, beseitigte nämlich das Dilemma zwischen „unendlich“ und „endlich“ mit einem Schlage dadurch, daß er den Begriff des „beliebig Kleinen“ einführte und den sogenannten Grenzübergang logisch sicherstellte. Er erklärte nämlich: „Wenn man von einer Größe die Hälfte oder mehr als die Hälfte wegnimmt und diesen Vorgang hinreichend oft wiederholt, dann kann man stets zu einer Größe gelangen, die kleiner ist als irgendeine gegebene Größe derselben Art“. Wir können also nach Eudoxos ins beliebig Kleine so weit vorstoßen, als wir wollen. Die Folge der Größen strebt unter der angegebenen Bedingung, die wir heute eine Konvergenzbedingung nennen, stets weiter und weiter gegen Null. Wir schreiben für den Satz des Eudoxos heute
lim α · β · γ ... = 0 für α, β, γ ≤
und wissen, daß diese Folge tatsächlich konvergent ist. Ihre vollstandige Aufsummierung muß also ein endliches Resultat liefern, weil die zunehmende Anzahl der Summanden durch ihre zunehmende Kleinheit entsprechend aufgewogen wird. Die Folge und die aus der Folge gebildete Reihe hat einen angebbaren Grenzwert, der bei der Folge 0 und bei der Reihe eine endliche Zahl ist. Nun war die Forderung des Eudoxos alles eher denn graue Theorie. Wir sehen aus den Elementen des Euklid an mehreren Stellen, wie die Methode des Eudoxos gehandhabt wurde. Euklid beweist nämlich den Satz, daß sich zwei Kreise zueinander wie die Quadrate ihrer Durchmesser verhalten, dadurch, daß er die Kreise als Polygone beliebig großer Seitenanzahl ansieht. Denn er hat eben bewiesen, daß sich einbeschriebene ähnliche Polygone verhalten wie die Quadrate der Durchmesser des Kreises, in den sie einbeschrieben sind. Um nun zu zeigen, daß der Kreis wirklich als Polygon mit beliebig großer Seitenanzahl betrachtet werden kann, werden die Segmente, die zwischen Polygon und Kreis bleiben, durch Dreiecke gefüllt, die fortschreitend der Forderung des Eudoxos entsprechen, deren Größe also unter jedes beliebige Maß gebracht werden kann. Dadurch ist der Kreis „ausgeschöpft“. Und da ausschöpfen auf lateinisch exhaurire heißt, nannte man diesen Beweis im siebzehnten Jahrhundert den „EXhaustionsbeweis“. An einer zweiten Stelle führt Euklid den Exhaustionsbeweis, um zu zeigen, daß zwei dreiseitige Pyramiden gleicher Höhe sich im Volumen zueinander verhielten Wie die Flächeninhalte ihrer Grundflächen. Es wird außerdem über Eudoxos berichtet, daß er die Entdeckung Demokrits betreffend das Volumen von Pyramide und Kegel durch den „Exhaustionsbeweis“ sichergestellt habe.
Wenn nun die Hellenen auch durch die Methode des Eudoxos in den Besitz einer logisch vollgültig gesicherten Infinitesimalmethode gelangt waren, so fiel es ihnen gleichwohl durchaus nicht ein, diese Methode zu Verallgemeinern. Sie führten vielmehr, wie wir an Euklid gezeigt haben, den Exhaustionsbeweis in jedem Fall gesondert durch und suchten im übrigen die Quadraturen und Kubaturen nach Methoden zu bewältigen, die ihnen dem Wesen echter Geometrie angemessener erschienen. Wir müssen aber jetzt zum Helden dieses Kapitels zurückkehren, von dem wir zuletzt berichteten, er sei im Jahre 212 v. Christi Geburt durch die blindwütige Roheit eines römischen Solaten als Vierundsiebzigjähriger getötet worden. Sein letzter Kampf für die Polis, die Vaterstadt, ist tief symbolisch. Er zeigt, daß sich die hellenische Mathematik in ihrer stolzen Vereinsamung erst dann der Wirklichkeit zuwandte, als es bereits zu spät war. „Gebt mir einen Punkt außerhalb der Erde, und ich werde sie aus ihrer Bahn rücken“, hat derselbe Archimedes stolz gesagt, der zwar noch einige römische Kriegsschiffe zerschmettern, sich selbst aber und sein Volk nicht mehr vom Untergang erretten konnte. Was ist nun diese „Wirklichkeit“, der die Mathematik das eine Mal ferner, das andere Mal näher stehen kann? Das müssen wir jetzt untersuchen.
Unser Geist hat zwei formale Möglichkeiten, aus dem ursprünglichen Chaos den Kosmos zu gewinnen. Diese Möglichkeiten oder Anschauungsformen sind nach Kant der Raum und die Zeit. Beide vereint aber ergeben die Bewegung. Und das Lebendige hat an beiden teil. Die alten Hellenen neigten dazu, die Erforschung des formalen Raumes, der ja die eigentliche Welt des Auges ist, in den Vordergrund zu schieben. Sie versuchten verzweifelt, in heutiger Sprache gesprochen, stets nur „Momentbilder“ der Welt zu gewinnen und diese dann auf ihre Beziehungen zu untersuchen. Oder diese Beziehungen zu erzeugen. Architektonik und Plastik sind die künstlerischen Ausdrucksformen solcher Geistesstruktur. Die Anhänger Heraklits aber, die Fanatiker des „Panta rhei“ (alles fließt), Wollten Wieder bloß den „Film“ des Geschehens betrachten und alles Gewordene aus dem Gesichtswinkel des Werdens heraus begreifen. Ihre Grundveranlagung ist eine dynamische und historische. Historisch allerdings nicht im Sinne der Geschichtsforschung, sondern im Sinne entwicklungsgeschichtlicher Weltbetrachtung. Nun führt die Überbetonung des eleatischen Standpunktes von der Wirklichkeit Weg zu einer Art von Nirwana, Während der konsequent prometheische Zug der Heraklitschule dem FortschrittsWahn und der Veräußerlichung verfällt. Dem Leben selbst aber, dessen Gesetz nach den Worten der Pythagoreer gerade das Ungesetz des Irrationalen ist, kann man mit keiner der beiden Weltansichten voll deckend genügen. Dem Glück, der „Euousia“, mag das Sein mehr entsprechen. Dem Widerstreit im Lebendigen eher das rasende Werden.
Aus dieser Geistesverfassung heraus hat es die griechische Mathematik bis auf Archimedes versäumt, über die Brücke der Mechanik zur Wirklichkeit einer Technik vorzustoßen, die der Möglichkeit nach stets in ihr lag. Jahrhundertelang konnte dieser Mangel durch die körperliche und moralische Tüchtigkeit der Menschen Wettgemacht Werden. Als aber Hellas mit der überlegenen Organisationsfähigkeit und der Weit höheren Gemeinschaftsmoral Roms zusammenstieß, da zeigte es sich bei der Belagerung von Syrakus, daß das Hellenentum sich als Ganzes für das Ideal euklidischer Formreinheit geopfert hatte. Es War jetzt zu spät, der einzelne, Wie ein Archimedes, konnte die Katastrophe nicht mehr aufhalten. Denn von nun an begann Rom, Wenn auch langsam und mißverstehend, den griechischen Geist, der im Sterben zur Wirklichkeit erwacht war, für die Zwecke seiner Weltherrschaft zu benutzen.
Wir wollen aber nicht ungerecht sein. Denn einem Archimedes war es trotz allem nur darum möglich, die Mathematik in letzter Konsequenz zu „verwirklichen“, weil er auf dem sicheren Fundament euklidischer Unangreifbarkeit weiterzubauen vermochte.
Wodurch also unterschied sich Archimedes von den meisten seiner Vorgänger? Wodurch mutet uns sein ganzes Denken und Schaffen so neuzeitlich an? Es ist wohl auf allen Linien und Gebieten seine prometheische Art, die diesen Eindruck erzeugt. Er setzte sich über alle Vorurteile hinweg, um die „Wirklichkeit“ zu bezwingen. Diese „Wirklichkeit“ aber wieder trieb ihn weiter und weiter. Denn sie duldet kein beschauliches Verweilen bei reinen Formen und Proportionen. Es gibt in der Natur sehr selten auch nur halbwegs angenäherte geometrische Figuren. Alles ist körperlich, und die Körper sind unregelmäßig. Man muß dieser Unform mit allerlei Schlichen an den Leib rücken, muß vor allem die Methode des Unregelmäßigen ausbilden, das heißt, man muß Wege finden, das Gekrümmte und das Formlose zu beherrschen. Solche Probleme aber treiben den Geist zwangsläufig zum Irrationalen oder zum Infinitesimalen, da das Maß stets von der Geraden ausgeht, jede Kurve somit rektifiziert (gerade gestreckt), jede krummlinig begrenzte Fläche quadriert und jeder derart gebaute Körper kubiert werden muß. Dabei aber gibt es keine stolze Abkehr vom Rechnerischen, wenn man die Dinge bis auf den Grund durchforschen will.
Archimedes entzog sich keiner dieser Forderungen. Er war einer der blendendsten Rechenkünstler aller Zeiten. Die Tatsache, daß die Kreiszahl π zwischen
und betrage (was er dann abgekürzt als
und
in die Mathematik einführte), ist ihm ebenso geläufig wie Quadratwurzelausziehungen
oder
,
wobei für uns das Zeichen ≈ bedeuten soll, daß der gefundene Wert nur ungefähr stimmt.
Nun wurde am Hofe des Königssohnes Gelon von Syrakus einmal darüber gesprochen, daß sich das griechische System der Zahlenschreibung durchaus nicht gut zur Darstellung sehr großer Zahlen eigne, und man mag sich, wissenschaftlich ästhetisierend, in die Unendlichkeit der Größe nach oben und unten verloren haben.
Wobei Archimedes vielleicht für das Unendlichkleine die Exhaustion oder eine fallende geometrische Reihe als Beispiel anführte, die ja, wie etwa
1, , , , ... sehr bald in das Dunkel ununterscheidbarer Winzigkeit verschwindet. Wie aber steht es mit dem unendlich Großen? Kann man das auch an Figuren, an kleiner werdenden Dreiecken aufzeigen? Nein, man kann es nicht. Man kann, so rief wohl einer aus, solche Größen wohl nur an der Natur demonstrieren. Die Anzahl der Sandkörner an den Strandküsten Siziliens sei sicherlich unzahlbar, unendlich.
Einige Tage später erhielt Kronprinz Gelon eine Schrift, deren Anfangssätze lauteten: „Manche Leute, mein Kronprinz Gelon, glauben, die Zahl des Sandes sei von unbegrenzter Größe. Ich meine nicht die Zahl des um Syrakus und sonst noch in Sizilien befindlichen Sandes, sondern auch des Sandes auf dem ganzen festen Lande, dem bewohnten und unbewohnten. Andere gibt es wieder, die diese Zahl zwar nicht als unbegrenzt annehmen; sondern sie meinen, es sei noch niemals eine so große Zahl genannt worden, daß sie die Sandzahl übertrifft. Wenn sich nun diese Leute einen so großen Sandhaufen dachten wie die Masse der ganzen Erde, dabei sämtliche Meere ausgefüllt und alle Vertiefungen der Erde so hoch wie die höchsten Berge zugeschüttet, so würden sie gewiß um so mehr glauben, daß keine Zahl zur Hand sei, die Menge dieses Sandes noch zu überbieten. Ich aber will nun mittels geometrischer Beweise, denen Ihr, o Prinz, beipflichten werdet, zu zeigen versuchen, daß unter den von mir benannten Zahlen, die sich in meiner Schrift an Zeuxippos befinden, einige nicht nur die Körnerzahl eines Sandhaufens übertreffen, dessen Größe der Erde gleichkommt, wenn sie nach meiner obigen Erklarung ausgefüllt wäre, sondern auch die einer Sandmenge, deren Größe dem Weltall gleich ist.“
Archimedes hat dieses Wort eingelöst. Er zeigt, daß es leicht möglich sei, sogenannte „Oktaden“ zu bilden, das sind Zahlengruppen des Zehnersystems, deren erste die Myriade zur zweiten Potenz, also ??? 108 oder 100.000.000 beträgt. Die zweite Oktade reicht von (108 + 1) bis 1016, die dritte von (1016 + 1) bis 1024, und so fort bis 10800.000.000, d. i. eine Zahl mit 800.000.000 Nullen. Damit aber ist erst die „erste Periode“ zu Ende, auf die man auch weiter bauen kann oder die man sogar durch Wahl und Erfindung eines eigenen Wortes zur neuen Einheit machen könnte, und so fort ins Grenzenlose. Wenn man nun weiter annimmt, daß ein Sandkorn der zehntausendste Teil eines Mohnkornes ist, von dem wieder 40 auf eine Fingerbreite gehen; wenn man weiter fordert, der Erdumfang sei 55.000 km (in Wirklichkeit ist er 40.000 km) und die Sonne sei von der Erde 925 Millionen Kilometer entfernt (richtig 150 Millionen Kilometer); wenn man schließlich das Sonnensystem nur als winzigen Teil der Weltkugel (Fixsterngewölbe) ansetzt, deren Durchmesser sich zum Bahnkreise der Erde wie dieser zum Zentrum verhalten möge: dann erhalt man als Durchmesser des Weltalls Billionen Kilometer oder fast ein Lichtjahr, wie wir heute sagen. Nun ist diese Kugel schon durch 1063 Sandkörner, also durch eine ganz am Beginn der „ersten Periode“ liegende Zahl, durch eine Zahl der siebenten „Oktade“ erfüllt.
Wir müssen bei diesem Ausblick ins unendlich Große noch etwas verweilen. Zuerst fallt es uns auf, daß der prometheisch-revolutionäre Geist des Archimedes nicht davor zurückschreckt, die „bewohnte Erde“ seines Freundes Eratosthenes, des großen Bibliothekars von Alexandria, des „Herrn Beta“ zu verlassen und sich mit Aristarch von Samos in die weiten Sternenraume hinauszuwagen.
[Angeblich hieß Eratosthenes „Herr Beta“ so mit einer Art von Spitznamen, weil er auf allen Gebieten der zweitgrößte Geist des Altertums war. Den ersten Rang α reservierte man aus Ehrfurcht den Geistern der Vergangenheit. Es ist derselbe Eratosthenes, von dem das „Zahlensieb“, die bis heute einzig anwendbare Methode zur Auszählung der Primzahlen, herrührt.]
Aristarch hatte ja bereits das geozentrische System verlassen und war zum heliozentrischen System übergegangen, ohne allerdings innerhalb der antiken Welt damit durchzudringen. Erst Kopernikus und Galilei bauten auf dem System des Aristarch weiter. Archimedes selbst war Geozentriker. Aber er lehnte das System Aristarchs anscheinend nicht ab, da er wahrscheinlich schon die Relativität aller Bewegung voll durchschaute. Weiters frappiert uns bei dieser „Sandrechnung“ die Ähnlichkeit des Zahlenrausches mit indischen Vorbildern. Tatsächlich kehren derartige Zahlenüberschwenglichkeiten an keiner Stelle der antiken Mathematik wieder. Die Rechenkunst des Archimedes erschöpfte sich durchaus nicht in dieser Sandrechnung. Auch nicht in der Rektifikation und Quadratur des Kreises, deren Ergebnisse (sie sind auf weniger als 0,6 Promille genau!) wir schon erwähnt haben. Es traten nämlich bei andern Gelegenheiten allgemeinere Rechenprobleme auf, die man als algebraisch bezeichnen muß. So etwa bei der Quadratur der Spirale die Summierung einer arithmetischen Reihe zweiter Ordnung. Popular gesagt, handelt es sich dabei um beliebig fortgesetzte Addierung von Quadratzahlen,
etwa 1 + 4 + 9 + 16 + 25 + 36 + ... + n².
In unglaublich scharfsinnigen Beweisketten findet Archimedes hierfür Ergebnisse, die, umgeformt, unserer Formel
entsprechen.
Ebenso, ist es ihm ein Leichtes, die gelegentlich der Quadratur der Parabel auftretende fallende geometrische Reihe
+ ... zu summieren.
Ob Archimedes bei dieser letzteren Summierung bereits das volle Bewußtsein einer Summe unendlich vieler Glieder einer offensichtlich konvergenten Reihe vorschwebte, wie wir sie heute nach der Formel
leisten, wodurch sich für + ... die Summe
ergäbe, ist zweifelhaft.
Der Exhaustionsbeweis arbeitet ja seit Eudoxos absichtlich nicht mit dem unendlich Kleinen. Man sagt vielmehr, daß sich die „Ausschöpfung“ des Parabelsegments durch Dreiecke, von denen die folgenden an Flächeninhalt stets ein Viertel der vorherigen ausmachten, weiter und weiter fortsetzen lasse. Stets werde man zu jeder noch so kleinen Größe durch Fortsetzung des Verfahrens noch kleinere Dreiecke finden. Und zwar sagt Archimedes, daß die Summe obiger Reihe (also die endliche Summe von n Gliedern) stets um den dritten Teil des jeweils kleinsten Gliedes kleiner sei als .
Das heißt also
Da nun aber trotzdem stets ein Unterschied, wenn auch ein beliebig kleiner, zurückbleibt, folgt die Unmöglichkeit, daß die Aufsummierung der Dreiecke größer sei als das Parabelsegment. Da aber weiters dieser Unterschied unter jede beliebige Größe gebracht werden kann, darf man apagogisch schließen, daß das Parabelsegment auch nicht kleiner sein kann als des Ausgangsdreiecks.
Oder schärfer: keine der beiden Flachen kann größer sein als die andere. Daher sind die beiden Flachen gleich. Folglich ist die Fläche des Segments gleich des Ausgangsdreiecks.
Archimedes ist aber nicht bei Kreis, Parabel und Spirale stehengeblieben. In weiteren kühnen und genialen Exhaustionsbeweisen bestimmte er als erster in der Wissenschaftsgeschichte die Oberfläche und den Rauminhalt der Kugel als
bzw.
Die Zahl π wird natürlich in seinen Schriften nicht so genannt, wie wir es heute zu tun gewohnt sind. Wir bedienen uns nur der Verständlichkeit halber der modernen Schreibweise. Dies halten wir auch fest, wenn wir sagen, der besondere Stolz des Archimedes sei die Aufstellung des Verhältnisses
gewesen, womit er das Kubikinhaltsverhältnis von Kugel, Zylinder und Kegel angab, wenn die Grundfläche von Zylinder und Kegel den Flächeninhalt des Größtkreises der Kugel und die beiden Körper als Höhe den Kegeldurchmesser besitzen. Aber auch dabei blieb er nicht stehen. Er bestimmte, ebenfalls als erster, den Flächeninhalt der Ellipse als
F = abπ, wobei a und b die beiden Halbachsen sind.
In einer Schrift über die Konoide und Sphäroide fand er zudem noch den Rauminhalt des Rotationsparaboloids (Konoide) und des Rotationsellipsoids und Hyperboloids (Sphäroide). Also eine auf alle zugänglichen Kurven und von Kurven erzeugten Umdrehungskörper angewendete Infinitesimalgeometrie, deren vollste Bewußtheit und Planmäßigkeit nur ein doktrinärer Tor bestreiten könnte.
Eine andere Frage ist es, auf welchem Weg Archimedes zu seinen ungeheuren Entdeckungen gelangte. Darüber hat uns ein glücklicher Fund aufgeklärt, den der dänische Gelehrte und Archimedesforscher J. L. Heiberg im Jahre 1906 machte. In diesem von Heiberg und Zeuthen entzifferten Palimpsest sagt nämlich Archimedes selbst ganz unbefangen in einem Schreiben an Eratosthenes: „Manches, was mir vorher durch die Mechanik klar geworden, wurde nachher bewiesen durch die Geometrie, weil die Behandlung durch jene Methode noch nicht durch Beweis begründet war; es ist nämlich leichter, wenn man durch diese Methode (d. h. die mechanische) vorher eine Vorstellung von den Fragen gewonnen hat, den Beweis herzustellen, als ihn ohne eine vorläufige Vorstellung zu erfinden.“ Über dieses Zeugnis von Archimedes selbst ist nicht hinwegzukommen. Und es ist zugleich ein Generalzeugnis für den mathematischen Zeugungsakt überhaupt. Synthetisch, aus Axiomen, Definitionen und Forderungen aufbauend, ist wohl, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, nur die nachträgliche systematische Darstellung der Mathematik. Das Auffinden einzelner Wahrheiten geschieht eher auf analytischem oder mechanischem Wege oder gar durch das „mathematische Experiment“, wie es ja schon dem Pythagoras zugeschrieben wird. Und es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß der Mechaniker Archimedes bei Inhaltsbestimmungen vorher mit der Waage gearbeitet und den geometrischen Beweis nachher ersonnen hat, was seine Verdienste nicht schmalert, da seine geometrischen Beweise als Musterbeispiele von synthetischer Strenge und Ausführlichkeit auf die Zukunft übergingen. Allerdings gibt es noch eine andere Art, mathematische Entdeckungen zu machen, die Oswald Spengler die magische nennen würde. Leibniz hat sie als „cabbala vera“, als wahre Kabbalistik oder als lullische Kunst bezeichnet. Doch es ist hier noch nicht der Ort, darüber zu sprechen, da sie bei Archimedes und auf hellenischem Boden nicht auftritt. Hier ist erst die Mechanik und die Bewegungsgeometrie (Spirale, Rotationskörper usw.) in den Bereich der streng euklidischen „ruhenden“ Mathematik eingebrochen.
Ein Kapitel der Mechanik aber war es, das sich seit Archimedes dauernd als eigentümliche Zwischenform zwischen Mathematik und Physik erhielt und das auch heute noch eine ungeheure Rolle spielt. Wir meinen die so recht eigentlich durch Archimedes begründete und durch ihn bereits zu großer Vollendung getriebene Statik, die Lehre vom Gleichgewicht ruhender Körper. Es kann nicht deutlich genug gesagt werden, daß eine mathematische Statik ohne Unendlichkeitsüberlegungen kaum denkbar ist. Schon der Schwerpunkt an und für sich ist nicht bloß ein möglicher Unterstützungspunkt eines Körpers, sondern die Fiktion, daß das ganze Gewicht des betrachteten Gebildes in diesem einen, durchaus ausdehnungslosem Punkt vereinigt sei. Darüber hinaus aber kann es ein Gleichgewicht sicherlich nur geben, wenn ein Gewicht existiert. Schon Archimedes setzt sich über diese selbstverständlich scheinende Forderung mit einem einzigen Gewaltstreich hinweg. Er vindiziert alle Eigenschaften von Gebilden, die der Schwere unterworfen sind, wie Gleichgewicht, Schwerpunkt, Schwerlinien usw. für geometrische Figuren. Da ausdehnungslose Gebilde keine Masse, also kein Gewicht haben können, ist dieser Gewaltstreich größer und kühner, als wir es heute fühlen. Wir sind durch Jahrtausende an diese Darstellungsart gewöhnt, die voraussetzt, daß man ein wirkliches, etwa aus Holz angefertigtes Dreieck (das natürlich eigentlich ein sehr niedriges Prisma ist), stets dünner werden läßt, bis es, sagen wir Papierdicke erhalt. Nun läßt man seine Dicke weiter und weiter schwinden und sieht zu, welche statischen Eigenschaften unabhängig von der Dicke erhalten bleiben. Gut, der Schwerpunkt bleibt derselbe, bzw. er bleibt in der Draufsicht am gleichen Fleck, wie sehr ich auch die Dicke verringere. Dasselbe gilt für die Schwerlinien. Dasselbe für Beziehungen des Gewichtes und der Gewichtsverteilung zu anderen Flächengebilden jeweils gleicher Dicke. Wenn sich nun Schwere und Körperlichkeit vollständig verflüchtigt haben, wenn die Figur zum geometrischen Schemen geworden ist, dann behalte ich diese Beziehungen als Rest in der Hand. Obwohl im tiefsten Sinn eine ungeheure Abstraktionskraft erforderlich ist, vom „Schwer“punkt schwereloser Schatten und vom Gleich„gewicht“ gewichtsloser Dinge zu sprechen. Wie man auch die Sache wenden mag, bleibt ohne vollste infinitesimale Überlegung der Widerspruch bestehen, und auch die Analogie mit den geometrischen Figuren, die ja in „Wirklichkeit“ ebensowenig existieren, ist sehr brüchig. Denn geometrische Figuren sind Gestaltformen, sind Größengesetze, während statische Betrachtungen außerhalb gravitierender Massen, also außerhalb eines körperlichen Bereiches, überhaupt jeden Sinn verlieren.
Wie dem nun auch sei, hat Archimedes mit kühnsten Griffen diesen Teil der Mechanik durchforscht. Er war sich klar über die Hebelgesetze, handhabte in doppelt infinitesimaler Art die Flachenvergleichung von im Gleichgewicht befindlichen Figuren, die er in beliebig (unendlich) dünne Streifen zerlegte, und leistete zudem in der Hydrostatik durch Entdeckung des „archimedischen Prinzips“ [Gleichheit des Gewichts der verdrängten Wasserrnenge mit dem Gewicht des schwimmenden Körpers.] Bahnbrechendes, wobei er zudem noch den Begriff des spezifischen Gewichtes der Körper und die Gesetze der Schwimmlage und Schwimmstabilität (metazentrische Höhe) feststellte. Und seine Mechanik war so umfassend, daß er nicht bloß die „Schraube ohneEnde“ zur Wasserförderung verwendete und seinem König Hiero die Sensation verschaffte, als einzelner ein schweres Schiff von Stapel zu lassen, sondern daß er, wie schon erwähnt, seine Vaterstadt durch zwei Jahre gegen die Römer verteidigte.
Das alles aber würde ihn zwar zum Genie, noch nicht aber zum größten Mathematiker des Altertums stempeln. Als solcher ist seine Produktivität schier unerschöpflich gewesen. Und vor allem seine ungeheure Gelenkigkeit, wen11 man so sagen darf. Daß der Kreisinhalt gleich ist einem Dreieck mit der Kreisperipherie als Grundlinie und dem Radius als Höhe, ist ebenso einzigartig meisterhaft wie die Aufstellung neuer Axiome, etwa, daß die Gerade stets die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei. Und erst in neuester Zeit wurde eine weitere axiomatische Feststellung des Archimedes in ihrer vollen Bedeutung gewürdigt, die Aussage nämlich, daß all unsrem Messen der Grundsatz vorangehen müsse, es sei stets möglich, jede beliebige Strecke durch entsprechende Vervielfachung einer kleineren Strecke zu übertreffen. Das sieht wie ein Scherz aus oder wie eine Binsenwahrheit. Es hat sich aber herausgestellt, daß dieses und eben dieses Axiom unsre ganze Geometrie zum Typus einer „archimedischen“ macht, wobei andre „nichtarchimedische“ Typen weder unmöglich noch in sich widersprechend sind. Schließlich hat Archimedes auch die Stereometrie durch die Feststellung und Durchforschung der 13 archimedischen oder halbregelmäßigen Körper (Polyeder) mächtig gefördert. Deren Flächen sind 3-, 4-, 5-, 6-, 8-, 10- und 12-Ecke, und zwar bestehen zehn dieser Vielflache aus je zweierlei und die übrigen drei aus je dreierlei der angeführten regelmäßigen Vielecke. Es zeigt sich bei Archimedes nach Ablauf von Jahrtausenden das Gesetz wirklicher menschlicher Geistesgröße. Er selbst war der Großmeister der Exhaustion. Sein Werk aber, so klein es verhältnismäßig rein äußerlich und an Seitenanzahl erscheint, ist kaum „auszuschöpfen“. Noch weniger ist das Wunder zu erfassen, daßsich stets wieder innerhalb streng geschlossener Kulturen Menschen erheben, die durch ihre Taten weit in die Zukunft noch nicht gewordener Kulturen hineinreichen. Das ist aber der dynamischeste und aktuellste Begriff des Erschaffens „ewiger“ Werte, der potentiellen „Unsterblichkeit“ echtester Leistung. Denn erst beinahe achtzehn Jahrhunderte später sollte der faustische Geist der abendländischen Völker dort anknüpfen, wo der römische Soldat blindwütig die Kreise des Titanen gestört hatte.


4[Bearbeiten]

Viertes Kapitel
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APOLLONIOS VON PERGÄ
Mathematik als Virtuosität
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Zwei Typen von Schaffenden beherrschen sowohl die Entwicklung der Wissenschaft als die der Kunst. Sie sind streng voneinander getrennt, liegen oft miteinander im Streit, scharen gleichsam Parteien um sich, die einander manchmal bis aufs Messer befehden, und geben darüber hinaus Anlaß, sehr kluge und sehr überspitzte Theoreme aufzustellen, worin das Wesen „wahrer“ Wissenschaft und „wahrer“ Kunst liege.
Es ist ungeheuer schwierig, festzustellen, wodurch diese Typen sich voneinander unterscheiden, da, wie bei allem Lebendigen, zahllose Übergänge und Halbschatten von einem Typus zum andern überleiten. Jede krasse Formulierung ist daher falsch. Wir müssen aber gleichwohl versuchen, diese polaren Erscheinungsformen des Genialen irgendwie zu deuten, da wir im andern Falle die wichtigsten Bahnbrecher der geistigen und der künstlerischen Menschheitsentwicklung nicht erfassen könnten.
Auf jeden Fall - und das ist der erste Unterschied - versucht ein Typus wie Archimedes, obgleich er den Zauber reinster Formgebung kennt, die Wirklichkeit nicht bloß durch Formzauber, sondern auch durch Inhalte zu bändigen und zu überwinden. Er will erkennen. Bis zu den letzten Tiefen. Und ruht nicht einen Augenblick im Werk. Er stürmt vielmehr mit einer Art von trotziger Ungeduld von einer Erkenntnis zur andern, wobei sein Werk mehr als einmal den Stempel des Unvollendeten, Sprunghaften, Unzusammenhangenden trägt. Der andre Typus manifestiert sich dagegen oft an einem einzigen Werk, das bis zu vollkommen unangreifbarer Vollendung vorgetrieben ist, sich von seinem Schöpfer löst, als sei es ein eigenlebendiges Wesen, und das eben dadurch eine gleichsam dem Werk selbst innewohnende Ewigkeit erringt.
Mag man nun, wie es später geschah, von klassischer und romantischer Haltung sprechen, mag man den Unterschied mit venezianischen Kunstausdrücken als Furia und Morbidezza, also sozusagen als rasenden Vorwärtssturm oder verrauchende, beinahe krankliche Weichheit charakterisieren, mag man von Inhalt und Form, von Dynamik und Statik, von Sein und Werden, von Harmonie und Formauflösung, von göttlicher Ruhe und Titanentrotz, von euklidischer und faustischer Seele, von apollinischer und dionysischer Veranlagung sprechen: so bleibt stets als Wirklichkeitsrest das Bestehen dieser zwei Typen in allen Kulturen. Um zu verdeutlichen: so wie sich Archimedes und Apollonios zueinander verhalten, so verhalten sich etwa Leibniz zu Euler, oder Richard Wagner zu Mozart und Leonardo da Vinci zu Raffael oder Tintoretto zu Tizian.
Es ist kein Relativismus, wenn behauptet wird, daß beide Typen für die Entwicklung notwendig sind und beide, jeder auf seinem Platze, gleichen Ewigkeitsgehalt erzeugen und gleicherweise neue Kategorien des Weltverstehens erschließen können, was nach Georg Simmel das wahre Genie charakterisiert. Daher ist es auch sehr anfechtbar, zu behaupten, nur die Form sei ewig. Was heißt ewig? Ist ewig das, was unverändert die Zeit überdauert, oder das, was sich als Bestandteil und Stufe des Weiterkommens später herausstellt oder sich bereits so tief in den Kulturbesitz, bis in die Sprache und ins Denken hinein, durchgesenkt hat, daß wir sein Vorhandensein kaum noch bemerken? Die Formalisten werden die erste, die Inhaltsbringer die zweite Wirkung erzielen, wobei natürlich weder den ersten der Inhalt noch den zweiten irgendeine Form abgesprochen werden soll. Wir reden ja hier von den obersten Gipfelleistungen.
Nun wollten wir dies alles bloß festlegen, um das Genie eines Archimedes vom Genie des Apollonios abgrenzen zu können. Archimedes heißt allenthalben der größte Mathematiker des Altertums, manchmal sogar der größte Mathematiker aller Zeiten. Apollonios aber wurde bereits in der späteren Antike der „große Geometer“ genannt, ein Beiname, den er durch die Jahrtausende ungeschmälert beibehielt. War also der eine bloß ein großer, der andre dagegen ein größter Bahnbrecher? Oder war Apollonios gar nur ein mittelmäßiger Abschreiber, ein Zusammenfasser, ein Kompilator? Während Archimedes ein originaler Entdecker von viel umfassenderem Horizont war?
Wir werden später die Wirkung beider Epochenbringer bei der Geburt unsrer gegenwärtigen Mathematik sehen. Sie haben beide mitgewirkt. Und es wird behauptet, daß Archimedes gleichsam das Unendlichkeitsdenken, Apollonios dagegen den Koordinatenbegriff eingeführt habe, beides unerläßliche Voraussetzungen für die Entstehung und den Ausbau unserer „höheren Mathematik“.
Wo Urteile und Wertungen nicht eindeutig sind, dort ist es sicherlich am besten, dem Problem tiefer nachzuspüren, da von vornherein ein Wust von Mißverständnissen und kulturkritischen Parteistandpunkten zu erwarten ist. Wir werden also in unsrer bisherigen Art zuerst die historische Lage des Apollonios ansehen, um zu seinem Werk irgendeine Stellung gewinnen zu können.
Apollonios war ein jüngerer Zeitgenosse des Archimedes. Er dürfte etwa 40 Jahre alt gewesen sein, als Archimedes dem Mordstahl zum Opfer fiel. Und er soll um diese Zeit schon eine sehr bedeutende Leistung hinter sich gehabt haben. Apollonios war typischer Alexandriner, war ein Schüler der ersten Euklidschüler und verbrachte auch einen großen Teil seines Lebens im Museion zu Alexandria. Nur in späten Jahren dürfte er nach Pergamon übersiedelt sein. Er hat, wie viele der rein formalen Virtuosen, eigentlich keine Biographie und kein Schicksal, das uns aufrütteln oder ergreifen würde. Er lebte, schuf und starb. Und über die inneren Kämpfe, Peripetien und Stürme derartiger Menschen sind wir gewöhnlich nicht unterrichtet. Es mag da, ebenso wie bei Euklid, bei Raffael, bei Tizian, bei Euler, bei Aristoteles ein geheimes Gesetz walten. Dieser Formtypus ist angesehen, geehrt, führt ein ruhiges, geklärtes, manchmal allerdings auch bescheidenes Leben, und die Menschen bemächtigen sich in erster Reihe des Werkes und vergessen darüber den Schöpfer; ohne daß der Schöpfer sich wesentlich bemüht, diese Einstellung der Mitwelt zu korrigieren. Er tritt allenfalls nur hervor, um die Störenfriede der Form, die Männer des dynamischen Typs, selbst oder unter Mithilfe pedantischer und puritanischer Verehrer in die Schranken zu weisen. Oder aber er ist so sanften Gemütes, daß er auch dies unterlaßt und ganz in seiner Formwelt vergraben bleibt.
Auf jeden Fall setzte sich der Himmelssturm eines Archimedes bei Apollonios nicht fort. Wir hören bloß, daß Apollonios in leiser, aber doch irgendwie verletzender Art die Archimedischen Forschungen angriff, worauf Archimedes in seiner „Rinderaufgabe“ ebenso leise und beinahe ironisch geantwortet haben soll. Apollonios hatte nämlich einen besseren N aherungswert für az als Archimedes gefunden und hatte auch nach Bekanntwerden der „Sandzahl“ eine Schrift über große Zahlen verfaßt, die das Periodensystem des Archimedes kritisierte. Nun habe Archimedes, so vermutet Friedrich Hultsch in der „Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft“, durch Aufstellung des Rinderproblems zeigen wollen, daß es auch Aufgaben gebe, die selbst einem Apollonios große Schwierigkeiten machen müßten. Die Lösung dieses Gleichungssystems ergibt nämlich nach neuesten Forschungen Zahlen mit über 200.000 Stellen in dezimaler Schreibung.
Wir erwähnten, daß Apollonios die eigentliche Archimedische Mathematik nicht fortsetzte. Dies muß mit aller Schärfe betont werden. Apollonios kümmerte sich nicht darum, daß ringsum der Erdkreis wankte, daß während seiner Lebenszeit die Entscheidungskämpfe um die Weltherrschaft der Römer stattfanden und die äußere Macht des Hellenentums zerbrach. Er wurde durch das Flammenzeichen von Syrakus nicht aufgeschreckt, wurde durch die Erfindertätigkeit des Archimedes nicht wachgerüttelt, sondern er setzte die hellenische Mathematik, die eleatisch-euklidische Geometrie fort und hob sie zu endgültiger Vollendung. Wobei er sich durchaus nicht allen Neuerungen verschloß, sondern im Gegenteil etwa in der Zahlenlehre zu Erkenntnissen vordrang, die einer starken Annäherung an unser Stellenwertsystem gleichen.
Seine eigentlichste epochale Virtuosenleistung aber sind die berühmten acht Bücher über die Kegelschnitte, die uns fast vollständig erhalten sind und die eine derartig staunenswerte Vollständigkeit zeigen, daß unser letzter Wahnglaube an die Naivität der griechischen Mathematiker schwinden muß. Der Begriff eines „Alexandriners“ ist ein Kulturbegriff merkwürdiger Prägung. Es genügen Gestalten wie Euklid, Eratosthenes und Apollonios, um ihn aufzustellen. Diese glasklare Ruhe des Forschers, dieser Überblick über die eigene Welt und diese Vollendung innerhalb des gegebenen Kosmos wurde kaum jemals wieder erreicht. Das Werk der Alexandriner mußte den Anschein erwecken, daß der Gipfel des Wissens erreicht sei und daß nichts mehr zu leisten übrig bleibe. Gerade aber solche Leistung ist neben ihrer Größe ungeheuer gefährlich für den weiteren Aufstieg der Kultur. Denn wie sehr der alexandrinische Vollendungsglaube trügerisch war, stellte sich später deutlich heraus. Allerdings erst nach einer Schaffenspause der Menschheit, die sich höchst verschwenderisch über zahlreiche Jahrhunderte und mehrere Kulturkreise erstreckte, bis plötzlich aus Regionen, die man bisher für abwegig gehalten hatte, die neue Entwicklung in unerwartetster Form emporschoß.
Apollonios also knüpfte, wie wir sagten, mit einigen nebensächlichen Konzessionen an die große hellenisch-euklidische Tradition der Mathematik nicht nur äußerlich, sondern tiefinnerlich an und führte das Spezialgebiet der Kurven zweiter Ordnung oder der Kegelschnitte zu einer durch Jahrtausende nicht mehr übertroffenen Vollendung. Gewiß, die Kegelschnitte waren bereits innerhalb der platonischen Akademie als Hilfsmittel der Würfelverdopplung entdeckt worden und wurden auch bereits durch Euklid in einer uns verlorengegangenen Schrift behandelt. Doch zeigte die Tatsache, daß noch Archimedes die alten Bezeichnungen des Menaechmos (viertes vorchristliches Jahrhundert) verwendet, ganz deutlich, daß auch Euklid durchaus nicht auf der Höhe der Erkenntnisse des Apollonios gestanden haben kann. Menaechmos und mit ihm alle Nachfolger bis einschließlich Archimedes waren sich über das Zustandekommen und die Beziehungen der Kegelschnitte noch nicht ganz klar und definierten demgemäß die Parabel als einen Schnitt einer Ebene senkrecht zur Seitenlinie eines Kegels, dessen Seiten im Scheitel einen rechten Winkel bildeten. Ein in gleicher Art geführter Schnitt an einem stumpfwinkligen Kegel dagegen ergebe eine Hyperbel, an einem spitzwinkligen Kegel eine Ellipse. Dabei wurden die Ausdrücke Parabel, Hyperbel und Ellipse nicht gebraucht, sondern man sprach vom „Schnitt des rechtwinkligen Kegels“ usf.
Dies alles, obgleich man viele Eigenschaften der Kegelschnittlinien kannte und sogar schon zur Zeit Platons mechanische Vorrichtungen zur Erzeugung von solchen Kurven (insbesondere der Parabel) besaß. Es gab also Parabelzirkel und man wußte über manches Verhaltnis innerhalb dieser Kurven genau Bescheid.
Apollonios verallgemeinert gleich am Beginn seines Buches die Lehre von den Kegelschnitten, soweit es damals überhaupt möglich war. Er laßt eine Gerade, die in einem fixen Punkt festgehalten wird und beliebig nach beiden Seiten verlängert werden kann, den Umfang eines Kreises entlang gleiten, bis sie wieder in ihre Ausgangslage zurückkehrt. Dadurch erzeugt er einen Rotationskegel, allenfalls sogar einen Doppelkegel, und zeigt nun sofort, daß sich vier Arten von Schnitten aus einem und demselben spitzwinkligen Kegel gewinnen lassen: der Kreis, die Ellipse, die Parabel und die Hyperbel. Die Art der Kurve hänge lediglich von der Neigung der Schnittebene zur Kegelseite ab. Damit ist die auch heute noch gültige Erzeugung der Kegelschnitte als Schnitte durch einen und denselben Kegel festgestellt. N un ist diese, man könnte sagen, sinnfällige Art der Kurvenerzeugung durchaus nicht die allein denkbare. Ganz unabhängig von einem wirklichen Kegel stehen hinter diesen Kurven verschiedene Erzeugungsmöglichkeiten als sogenannte geometrische Örter, die sich, rein planimetrisch, aus den Eigenschaften der erwähnten Kurven ergeben und die auf uralte Aufgaben der geometrischen Algebra bis zu Pythagoras zurückführen. Zum Verständnis des Begriffes „geometrischer Ort“ sei angemerkt, daß dieses Forschungsziel schon lange in der hellenischen Geometrie bekannt war und einen Inbegriff von Abständen oder Verhältnissen bedeutet. Die Auffassung eines Gebildes als „geometrischer Ort“ entspringt der eleatisch-statischen Betrachtungsweise. So ist etwa ein Kreis der „geometrische Ort“ aller Punkte, die von einem und demselben Punkt (dem Mittelpunkt) einen gleich großen Abstand haben. Und eine Winkelhalbierende ist der geometrische Ort aller Punkte, die jederzeit von beiden Schenkeln des Winkels gleich weit abstehen, usf.
Natürlich gibt es viel kompliziertere Bedingungen für geometrische Örter, wie wir es schon bei der archimedischen Spirale gezeigt haben, als wir mit Czwalina ihre Definition in euklidischer Sprache wiederzugeben versuchten. Damit sind wir so weit, ausführen zu können, daß die Kegelschnittskurven erst durch Apollonios ihre heutigen Namen erhielten und warum ihnen gerade diese Namen beigelegt wurden. Darüber hinaus aber werden wir zu erörtern haben, wieso man behaupten konnte, Apollonios von Pergä sei gleichsam der erste Entdecker der Koordinatengeometrie gewesen.
Zu diesem Zweck müssen wir auf die drei Arten der Flächenanlegung zurückgreifen, die schon dem Pythagoras bekannt gewesen bzw. von ihm entdeckt worden sein sollen. Die erste Aufgabe, die parabolische Flächenanlegung, verlangt, daß an die gegebene Strecke ein Rechteck so angelegt werde, daß sein Flächeninhalt einer gegebenen Fläche, etwa dem Quadrat über , gleich ist. Es besteht also die Flächenbeziehung
= · .
Wenn wir nun Strecke als q bezeichnen und konstant halten, während wir sich beliebig verändern lassen, dann muß sich naturgemäß auch verändern, um unsrer eingangs aufgestellten Bedingung zu genügen.
Nennen wir nun die Strecke = x und = y, dann drückt sich unsre Bedingung als
y2 = qx aus, was mit der heute gebräuchlichen „Scheitelgleichung“ einer Parabel bei rechtwinkligen Koordinaten genau übereinstimmt. Wir Heutigen setzen allerdings aus gewissen Gründen für q die Größe 2p, was aber am Wesen der Sache gar nichts ändert, da es sich dabei um eine konstante Größe handelt.






Es sei aber schon an dieser Stelle, um jedes Mißverständnis auszuschließen, festgestellt, daß bei Apollonios durchaus nicht allgemeine Koordinaten gebraucht werden, die als Achsenkreuz oder als Bezugssystem, unabhängig von jeder Figur, vorhanden sind und in die dann später behufs analytischer Untersuchung Kurven hineingelegt werden. Apollonios geht vielmehr genau in entgegengesetzter Art vor. Bei ihm ist die Figur das Primäre, und bloß gewisse, innerhalb der Figur gelegene oder zumindest mit ihr in unlösbarem Zusammenhang stehende Hilfslinien ergeben, rein planimetrisch, gewisse Proportionen und die ganze Figur unterliegt gewissen Flächeneigenschaften. Als Ergebnis ist dann die Figur durch diese inneren Beziehungen definiert. Also noch einmal: Apollonios gebraucht durchaus keine Koordinaten im cartesischen Sinne, er definiert vielmehr die Kegelschnittkurven durch Flachenbeziehungen, wobei er die ausführlich durch Euklid behandelten Aufgaben der „Anlegung“ als identisch mit den Kegelschnitten erkennt. Dies war sein unvergangliches Verdienst. Denn es zeigt sich, daß der „geometrische Ort“, der dieser Definitionsbedingung entspricht, die Kurve also, die durch den Punkt E beschrieben Wird, in unserem ersten Fall eine Parabel ist, wenn von Null bis zu einem beliebigen Streckenlängenbetrag wächst.
Der Vollständigkeit halber zeigen wir noch die beiden anderen Flachenanlegungen. Wiederum ist eine Strecke und das Quadrat über .
Dazu kommt noch eine gegebene Strecke , die mit das Rechteck bildet.
Es soll nun ein Rechteck gefunden werden, das erst um ein dem Rechteck ähnliches Rechteck vermindert (elleipsis, defectus) werden muß, um ein dem Quadrat über flächengleiches Rechteck zu liefern.
Da nun die Ähnlichkeit von
mit
dadurch gegeben ist, daß Punkt auf der Diagonale liegt, so besteht die Proportion
 : =  :
daher ist
= =
Nach der Voraussetzung muß also sein
= -
Wenn wir nun wieder mit q,
mit x und
mit y und schließlich
mit s bezeichnen, dann ergibt sich
,
was sich für uns als Scheitelgleichung der Ellipse enthüllt.
Untersucht man endlich die als hyperbolische (überschießende) Flächenanlegung bekannte Aufgabe, bei der zu einem Rechteck ein diesem Rechteck ähnliches Stück hinzugefügt (Hyperbole) werden muß, damit ein dem Quadrat flächengleiches Rechteck entsteht, dann ändert sich gegenüber der vorhergegangenen Aufgabe nur das Vorzeichen und wir erhalten
Dieses „Überschießen“ (Hyperbole, excessus) ergibt die Definition der Hyperbel, wenn wir wieder unsere festen Linien durch variable Größen ersetzen und die konstanten Größen g und s nennen. Wir erhalten dann die Scheitelgleichung der Hyperbel als
die wir, ebenso wie die Ellipsengleichung, durch geeignete Umformungen auf die uns heute geläufigen analytischen Funktionen für Ellipse und Hyperbel bringen können.
Diese Tat ist aber, wie erwähnt, bloß der Beginn der Untersuchung der Kegelschnitte durch Apollonios. Darüber hinaus findet er fast alle wichtigen Eigenschaften dieser Kurven, kennt bereits den zweiten Ast der Hyperbel (den „Gegenschnitt“), erforscht Durchmesser, Brennpunkte und Tangenten und weiß über den Schnitt mehrerer Kurven, über ihre Ähnlichkeit usf., genau Bescheid. Ja, er nimmt sogar gewisse Erkenntnisse der projektiven oder „neuen“ Geometrie vorweg, die eines der reifsten Geistesprodukte des neunzehnten Jahrhunderts ist.
Bei solcher Leistungsfülle kann es uns nicht in Erstaunen setzen, daß er auch die Asymptoten der Hyperbel kennt und ihre Eigenschaften erörtert. Bekanntlich sind Asymptoten gerade Linien, die sich einer andern Linie stets zunehmend nähern, ohne sie aber je zu berühren oder zu schneiden.
Wir müssen nun, abgesehen von der speziellen Leistung des Apollonios, auf die wir, dem Charakter unsrer Epochengeschichte entsprechend, nicht näher eingehen können, erörtern, warum die Behandlung der Kegelschnittskurven an und für sich für die Mathematik von einer so weitreichenden Bedeutung ist, daß sie überhaupt als Epoche bezeichnet werden kann. Dazu aber müssen wir über Kurven im allgemeinen und über den Kegel im besonderen sprechen.
Dem oberflächlichen und über tiefere Zusammenhänge nicht aufgeklärten Betrachter wird es wohl einleuchten, daß man sich eingehend mit einer Kurve wie dem Kreis befaßt. Er ist schließlich gleichsam das Ideal der Regelmäßigkeit und ist außerdem in hundert Spielarten tief in der Natur verwurzelt. Insbesondere für Forscher, die überzeugt waren, daß sowohl alle Himmelskörper Kugelgestalt hätten und sich zudem noch in Kreisbahnen bewegten. Aber auch Technik und Architektur stießen bei jeder Gelegenheit auf Kreisfornien. Achsen, Räder, Schiffsmasten, Säulen, Sitzanordnungen von Theatern, um nur allereinfachste Tatsachen anzuführen. Dazu kam noch der Zirkel als solcher. Viel von dem, was praktisch ausgeführt werden sollte, wurde vorher gezeichnet. Und für die Zeichnung benutzte man Lineal und Zirkel, so daß durch diese Art des Konstruierens allein schon fast überall die Kreisform offen oder verdeckt auftreten mußte. Und es kann an dieser Stelle die Frage nicht unterdrückt werden, ob nicht noch heute sowohl die Konstruktionezeichnung als die spätere Ausführung durch kreisende Werkzeugmaschinen die Formgebung in der Technik wesentlich beeinflußt und viele darüber hinausreichende Formen unterdrückt oder übersehen läßt, die sowohl praktischer als wirksamer wären.
Das also ist klar. Warum aber setzte ein so heißes Bemühen ein, auch andre Kurven zu erforschen? War dies etwa nichts andres als geometrische Expansionslust hellenischer Mathematiker? Oder gibt es da tiefere Zusammenhange? Wir antworten sofort, daß es mehrere derartige Zusammenhange gibt, von denen wir einige schon aufgezeigt haben. In einer eigentümlich konvergenten Entwicklung trafen gerade bei Apollonios zwei rein mathematische Überlegungsreihen in der Lehre von den Kegelschnitten zusammen. Nämlich das Problem der Auflösung quadratischer Gleichungen, wie es sich seit Pythagoras als „geometrische Algebra“ durch die Methode der Flachenanlegung entwickelt hatte, und die Gruppe der drei „klassischen Probleme“, die zu ihrer Auflösung höhere als quadratische Gleichungen erforderlich machten, die man wieder seit der platonischen Schule durch den Schnitt mehrerer Kegelschnitte gewann und die in letzter Linie die Entdeckung der Kegelschnittskurven veranlaßt hatten. Dazu war aber noch die Lehre von den stetigen Proportionen und von den geometrischen Örtern getreten, in welch letzterer unausgesprochen eine vorläufig noch statische Auffassung des Funktionsbegriffes lag. Denn eine Kurve, die diesen oder jenen algebraischen Bedingungen entspricht, und umgekehrt wieder eine algebraische Bedingung, der jederzeit dieser oder jener geometrische Ort entsprechen muß, ist im Wesen nichts andres als eine Funktion und ihre Bildkurve, insbesondere dann, wenn man nur eine Größe als veränderlich ansieht und eine andre von ihr abhängen laßt.
Um nicht falsche Vorstellungen zu erwecken, sei betont, daß es noch einiger grundlegender Riesenschritte bedurfte, um das Bewußtsein dieser tiefen Zusammenhänge ins volle Licht der Klarheit zu stellen. Es ist aber unleugbar, daß das Werk des Apollonios all diese Dinge im Keim bereits enthielt und daß es tatsachlich eine Verbindung, Zuordnung oder Koordinierung zwischen Algebra und Geometrie durchführte, die sich allerdings deshalb nicht voll äußern konnte, weil die hellenische Algebra ebenfalls in Geometrie gehüllt war. Dadurch aber ergab sich der eigentümliche Zustand, daß zwischen der Algebra geometrischer Prägung und der eigentlichen Geometrie noch eine weitere Schicht rein geometrischer Beziehungen sich herausstellte, die oft zu überraschenden Entdeckungen führte. Es ist nämlich ein großer Unterschied zwischen der geometrischen Analysis der Gegenwart und der der Griechen. Wir Heutigen - das werden wir noch ausführlich erörtern -~ stellen in unsrer algebraischen Buchstabendarstellung symbolisch eine Funktion auf und gewinnen in der scheinbar weltenweit hiervon verschiedenen Form geometrischer Abbildung dazu das koordinierte Gebilde. Apollonios dagegen, um konkret zu sprechen, zeichnete eine Ellipse und verschmolz mit dieser Ellipse die algebraisch-geometrische Zeichnung der betreffenden Anlegungsaufgabe, wobei die erste Zeichnung Geometrie, die zweite aber Algebra bedeutete. Dadurch hatte er allerdings nicht die Vorteile des algebraischen Algorithmus, der algebraischen Denkmaschine, konnte aber anderseits das Geometrische des einen Gebildes mit dem Geometrischen des andern Gebildes zwanglos verbinden und dadurch neue Zusammenhänge gewinnen.
Nun ist diese Tatsache aber für die Kegelschnitte an und für sich nicht charakteristisch. Denn die gleiche Methode ware, allerdings mit schwer überwindlichen Komplikationen, auch für höhere Kurven denkmöglich.
Worin also liegt das Hauptmoment, das gerade den Kegelschnitten ihren epochalen und bevorzugten Platz unter allen möglichen Kurven einraumt? Gut, wir wissen, daß sie gleichsam den ganzen Bereich der zweitgradigen Gleichungen abbildmäßig erschöpfen. Das hat Apollonios schon in seinen Definitionen dieser Kurven festgestellt. Wir fügen auch bei, daß sie viel später in ihrer kosmischen Bedeutung als Bahnen von Planeten und Kometen, als Rotationsform von Himmelskörpern und als Bahn des Wurfes schwerer Körper erkannt wurden. Das aber ist noch nicht alles. Die bisher noch unausgesprochene Hauptwichtigkeit der Kegelschnittskurven liegt tief im Sinnesapparat des Menschen selbst begründet. Die Erfahrungsmöglichkeit des Menschen ist vor allem durch sein Auge beeinflußt. Er ist ein Augengeschöpf katexoohen. Und die Lichtstrahlen, die in das Auge eindringen oder nach der andern Richtung als Sehstrahlen das Auge verlassen, um die Welt des Auges zu konstituieren, also all das zu apperzipieren, was wir sehen, bilden nach den Gesetzen der Brechung und Strahlenvereinigung in einer bikonvexen Linse einen Kegel. Jedes Abbild der für uns nur durch diesen Strahlenkegel vermittelten optischen Wirklichkeit stellt sich für uns als ein Kegelschnitt dar, aller Perspektive und Projektion muß die Beziehung von Kegel und Schnittebene unentrinnbar zugrunde liegen. Und es ist keine Übertreibung, wenn unsre ganze sichtbare Welt als „Kegelschnittswelt“ bezeichnet wurde.
Die Ansätze solcher Erkenntnis, die uns erst im neunzehnten Jahrhundert durch die „neue“ oder „projektive“ Geometrie bis zu den letzten Konsequenzen vermittelt wurde, finden sich schon bei Apollonios von Perga, indem er bereits mit Strahlenbüscheln operiert und ihren Zusammenhang mit den Kegelschnitten erörtert.
Es ist also durchaus unangebracht, die Kegelschnittslehre des Apollonios als „Spezialuntersuchung“, die gleichsam nur nebensachliche Bedeutung oder artistischen Reiz hätte, abzutun. Gewiß, sie ist eine artistische, geradezu eine Virtuosenleistung. Dieses Werk ist auch die erste und bis zu ihrer Zeit umfassendste Spezialuntersuchung der Mathematik, soweit wir unterrichtet sind. Aber ihr Gegenstand ist darüber hinaus, wie wir darzulegen versuchten, von geradezu ungeheurer und einschneidender Wichtigkeit. Dies alles ganz abgesehen von den Folgen, die sich für die Entwicklung der Mathematik aus den methodischen Entdeckungen und Ahnungen des Apollonios ganz allgemein ergaben.
Noch ein sehr wichtiger Punkt darf nicht unberührt gelassen werden. Er betrifft die Erforschung der Asymptoten. Wie bekannt, sind Asymptoten in der Kegelschnittslehre die geraden Linien, die sich unter gewissen Bedingungen den beiden Asten der Hyperbel bis in die Unendlichkeit zunehmend nähern, ohne sie jedoch irgend einmal als Tangente zu berühren oder sie als Schnittlinie zu schneiden. Die bloße Existenz solcher Linien, ob sie nun erst durch Apollonios entdeckt wurden oder ob sie schon vor ihm bekannt waren, brachte neuerlich von zwei Seiten her das ganze Gebäude euklidischer Geisteskultur ins Schwanken. Erstens war damit der im Hellenentum so streng Verpönte und stets zurückgeschobene Begriff des Unendlichen wieder auf die Tagesordnung gekommen. Gut, man konnte auch hier beschönigend von „beliebiger“ Annäherung sprechen. Wo aber nahm diese beliebige Annäherung schließlich ihr Ende? Und es wurde dem Geometer erst so recht bewußt, daß die Parabel und die Hyperbel offene Kurven waren, die sich irgendwohin ins Grenzenlose verloren, von denen man also wohl an jeder beliebigen Stelle das Gesetz ihrer Gestalt, jedoch niemals die Gestalt selbst kannte. Es tauchte aber noch ein zweites gefährliches Bedenken auf. Und dieses Bedenken betraf das Postulat der Parallelen. Es hatte sich nämlich plötzlich zwischen die Linien, die einander schnitten und solche, die voneinander stets gleichen Abstand hielten, einander also nicht schnitten, eine dritte beunruhigende Gattung von Linien eingeschoben, die einander weder schnitten noch aber auch voneinander stets den gleichen Abstand hielten. In der euklidischen Fassung des Parallelenpostulats war das Charakteristikum für einen in Sicherheit zu erwartenden Schnitt zweier Linien ihre gegenseitige Annäherung, der gleichbleibende Abstand dagegen war die Bedingung des Nichtschneidens oder des Parallelismus. Durch die Asymptoten stellte es sich aber plötzlich heraus, daß auch bei Annäherung durchaus nicht unter allen Umständen irgendwann ein Schnittpunkt erfolgen mußte. Gut, man konnte einwenden, es handle sich bei Euklid um zwei Gerade, bei den Asymptoten dagegen um eine Kurve und um eine Gerade, die also recht wohl anderen Gesetzen folgen konnten als zwei Gerade. Aber es war trotzdem durch die Asymptoten eine schwere Beunruhigung eingetreten, die überhaupt durch weitere Jahrtausende gerade das Parallelenpostulat stets wieder zur Diskussion stellten sollte. Denn dieses Postulat - und hier liegt wieder ein sehr verborgener Zusammenhang - widerspricht irgendwie, ohne daß man sich gewöhnlich darüber Rechenschaft ablegt, dem Augenschein. Die Welt des Auges, die Kegelwelt, wie wir sie früher nannten, kennt keine Parallelen. Niemand, der durch Augen die Welt erfaßt, hat, so sonderbar das klingen mag, Parallelen in „Wirklichkeit“ gesehen. Parallele Gerade sind eine Forderung, eine Fiktion, aber keine optisch wahrnehmbare Tatsache. Gewiß, sie können real existieren, können durch Abstandsmessung geprüft und bestätigt werden, etwa, wie es möglich ist, ein Eisenbahngeleise bis in unendliche Fernen zu legen, wenn man unendliche Raume und Zeiten zur Verfügung hätte. Aber sie liegen außerhalb jeder Wahrnehmungsgrenze.
Apollonios von Pergä, der „große Geometer“, der Virtuose unter den althellenischen Meistern der Mathematik, mit dem das eigentliche Heldenzeitalter antiker Mathematik seinen Abschluß findet, hat also, jenseits dieser Virtuosität, mehr als nur ein grundlegendes Problem der Mathematik zur Diskussion gestellt. Und wenn er auch in gewissem Sinn innerhalb der griechischen Geometrie einen Schlußstein setzte, so wurde, wie die Zukunft der Entwicklung zeigte, dieser vermeintliche Schlußstein recht eigentlich wieder der Grundstein für späteren Höherbau.


5[Bearbeiten]

Fünftes Kapitel
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DIOPHANTOS
Mathematik und Schrift
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Wenn unsere Untersuchung auch durchaus nicht eine lückenlose Kontinuität der Entwicklung geben will, sondern gerade das Gegenteil einer solchen Darstellung anstrebt, indem sie nur die Epochen der Mathematik aufzeigt, so bleibt darüber hinaus gleichwohl die allgemein kulturhistorische Tatsache zu erörtern, warum manchmal erst nach einem leeren Zwischenraum von Jahrhunderten der weitere Aufstieg einer Wissenschaft stattfindet oder stattfinden kann.
Dabei ist es für die Zeitgenossen selbst oft unmöglich, diese Leere zu empfinden oder wahrzunehmen. Denn das durch die großen Entdecker zur Diskussion gestellte Problemmaterial wird aufgearbeitet, erweitert, Verallgemeinert und gesichtet. Und es kann sehr wohl geschehen, daß noch bestehende Lücken ausgefüllt werden und Entdeckungen zu dieser Ausfüllung erforderlich sind, die rein qualitativ hinter den epochemachenden Entdeckungen der klassischen Zeit nicht zurückstehen, sondern nur relativ zu der wissenschaftlichen Gesamtlage nicht epochal wirken. Hierbei handelt es sich eben um das Problem des Epigonentums überhaupt. Epigone zu sein ist nicht bloß eine mindere Fähigkeit, sondern in vielen Fällen bloß das Unglück, später das Licht der Welt erblickt zu haben. Die Tatsache, daß innerhalb eines Kulturkreises, der, durch tausend Komponenten bedingt, nicht über sich selbst hinaus kann, nichts mehr zu leisten ist, dürfte sich in vielen Fällen nicht als Schuld und Unfähigkeit, sondern als Schicksal des einzelnen herausstellen lassen.
Doch über derart verwickelte und undurchsichtige Fragen, die außerdem noch eine geschichtsmorphologische Untersuchung voraussetzen, ob es wirklich so etwas gibt wie Jugend, Vollreife und Vergreisung einer Kultur, kann man kaum Allgemeingültiges aussagen, wenn man die Tatsachen der Geschichte nicht vergewaltigen will. Wozu noch die weitere Frage gehört, ob diese Entwicklungsstufen an bestimmte Völker oder an Kulturkreise gebunden sind. Was aber sind Kulturkreise ohne die Basis konkreter Völker? Es ist, nicht bloß von Oswald Spengler, über derartige Problemgruppen viel diskutiert worden. Wir können uns in so umfangreiche Untersuchungen nicht verlieren, ohne unsre Hauptaufgabe zu gefährden. Wir können aber anderseits wieder gerade an der historischen Stelle, an der wir eben nach Apollonios angelangt sind, über das auffallende Phänomen plötzlicher mathematischer Dekadenz nicht schweigend hinweggehen. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß eine eigentliche Epoche der Mathematik erst wieder bei Diophantos behauptet werden kann.
Wenn man scharf formulieren will, muß man feststellen, daß die Mathematik vom zweiten vorchristlichen bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert hinein mit einer einzigen Ausnahme nichts andres als die Verwaltung des klassischen Erbes betreute. Und zwar waren es ausschließlich Griechen, die sich dieser Aufgabe unterzogen. Die römische Mathematik kam dagegen überhaupt nicht in Betracht. Das klassische Rom war ein Volk militanter Juristen, das in einer gewissen Geringschätzung der Gelehrsamkeit Sachverständige für nichtjuristische Gebiete sich auf Grund seiner Machtfülle aus aller Welt herbeiholte, wenn es solche für Zwecke der Technik und der Architektur oder für das Kriegswesen brauchte. Die große Zeit der römischen Weltherrschaft vom Ende der Punischen Kriege bis zum Ende der eigentlichen Cäsarenperiode gehört daher zu den mathematisch sterilsten Zeiten des bisher überblickbaren Geschichtsverlaufes. Wir erwähnten eine einzige Ausnahme. Sie betrifft die Entwicklung der Trigonometrie und wir werden darüber noch zu sprechen haben.
Wir besteigen also wieder einmal unsern Zauberteppich und knüpfen an Apollonios und an seine Durchforschung der Kegelschnittskurven an. Es war klar, daß die schon von Archimedes eingeleitete besonders ausgedehnte Beschäftigung mit den Kurven, die sich bei Apollonios fortsetzte, einen Ansporn zur weiteren Durchforschung des irgendwie gesetzmäßig Gekrümmten bildete. So entdeckte im zweiten vorchristlichen Jahrhundert der Geometriker Nikomedes die Konchoide oder Muschelkurve, deren mechanische Darstellung durch eine Art von Konchoidenzirkel von Nikomedes gleichfalls angegeben wurde. Da es sich dabei, analytisch gesprochen, um eine höhere Kurve, also um eine den zweiten Grad übersteigende Kurve handelte, deren Gleichung wir heute als
schreiben, konnte sie zur Lösung der Winkeltrisektion und des delischen Problems herangezogen werden. Dasselbe leistete die Cissoide oder Efeulinie des Diokles, deren Gleichung
lautet.
Auch die Cissoide ist mechanisch durch ein Cissoidenzirkelgerät darstellbar. Wenn wir noch erwähnen, daß sich um diese Zeit auch der Geometriker Perseos mit den sogenannten spirischen, also den durch einen Kreiswulst gelegten Linien beschäftigte, dann haben wir die Fortschritte auf dem Gebiet der Kurvenlehre angedeutet, die über Archimedes und Apollonios hinaus erzielt wurden.
Als weitere bedeutende Gestalt der nachklassischen Mathematik wäre Heron von Alexandrien zu erwähnen. Heron war vorwiegend Praktiker, war Physiker und Feldmesser und hat die Maßgeometrie mächtig gefördert. Von ihm stammt die berühmte Flächenformel des Dreiecks, berechnet aus den drei Seitenlängen.
Die schon erwähnte Trigonometrie, die sich unter dem Einfluß bekanntgewordener babylonisch-chaldäischer Vorleistungen in Verbindung mit der Kugelgeometrie, der „Sphärik“, entwickelte, hat in Hipparch, einem Nachfolger des Aristarchos von Samos, ihren ersten großen Vertreter. Er entdeckt unter anderem die stereographische Projektion, indem er die Himmelskugel von einem Pol aus auf ihre Äquatorebene abbildet, wobei sämtliche Winkel und Kreise erhalten bleiben.
Die Sphärik wird weiter durch Menelaos von Alexandrien im ersten nachchristlichen Jahrhundert entwickelt, bis sie durch Klaudius Ptolemäus um 140 nach Christi Geburt ihren größten Vertreter findet. Es erscheint vielleicht als eine gewisse Ungerechtigkeit, wenn wir die ungeheure Vollendung, die die Kugelgeometrie und die Trigonometrie bei Ptolemäus erreichen, nicht als gesonderte Epoche der Mathematik ansetzen. Das Hauptwerk dieses großen Mathematikers und Astronomen, dessen Weltbild weitere anderthalb Jahrtausende beeinflußte, die „Megale syntaxis“ (große Zusammenstellung) oder auf arabisch „das Almagest“, stand in derart hohem Ansehen, daß die Auslieferung eines Exemplars dieses Werkes gelegentlich eines Friedensschlusses zwischen dem Kalifat und Byzanz einen Hauptpunkt des FriedensVertrages bildete. Wir selbst gebrauchen auch heute noch taglich Ausdrücke, die erstmalig von Ptolemäus geprägt wurden. Er nennt nämlich gelegentlich seiner Kreis- und Winkelteilung die Unterteile „partes minutae primae“ und „partes minutae secundae“ (Also etwa „verminderte Teile erster und zweiter Art“ oder „Verklemerung erster und zweiter Art“).
Daraus ist höchst inkonsequenterweise unsre Unterteilung in Minuten und Sekunden entstanden, die richtig höchstens „Primen“ und „Sekunden“ lauten sollte.
Wenn wir uns also trotz allem nicht entschließen koxmten, die Trigonometrie als gesonderte Epoche anzusetzen, so ist unser Grund dafür der, daß die Trigonometrie ein abgegrenztes Teilgebiet der Maßgeometrie ist und daß sie daher im strengsten Sinne größtenteils nicht zur reinen, sondern zur angewandten Mathematik gehört. Ihre überragende praktische Bedeutung ist unbestreitbar und unbestritten, ebenso wie die Tatsache, daß ihre Voraussetzungen, soweit sie die goniometrischen Funktionen betreffen, gleich dem Pythagorassatz zu den ersten Fundamenten der höheren Mathematik gehören. Sie wurde aber im Gegensatz zu den meisten andren Disziplinen der Mathematik nicht zu diesen, sondern zu rein praktischen Zwecken geschaffen und hat deshalb das mathematische Denken an und für sich nicht epochemachend beeinflußt. Sie ist vielmehr weiter ihren praktischen Weg oder den Weg als Hilfswissenschaft der Astronomie gegangen und schließlich verhältnismäßig bald zu einer nicht mehr zu überbietenden endgültigen Vollkommenheit ausgebildet worden.
Es war nicht verwunderlich, daß die zunehmend praktische Orientierung der nachklassischen Mathematik des Altertums das wirkliche Rechnen stets mehr und mehr in den Vordergrund schob. Die Diffamierung des Rechnens wurde langsam und unmerklich aufgehoben und schon Heron ergeht sich in einer derartigen Fülle von Berechnungen, daß sein Buch später zu Rechenbüchern und Aufgabensammlungen umgestaltet wurde. Noch deutlicher tritt die Notwendigkeit tatsächlicher Berechnung bei Ptolemäus zutage. Eine brauchbare Trigonometrie ohne umfassendste zahlenmäßige Behandlung ist undenkbar, und Ptolemäus hat deshalb auch ein großes grundlegendes Tafelwerk, seine „Sehnentafel“ von ½° zu ½° bis 90° geschaffen, das den Zweck der heutigen logarithmisch-trigonometrischen Tafelwerke zu erfüllen hatte. Er kannte auch als Näherungswert für die Kreiszahl π die Darstellung
3 + + ,
die vom richtigen Wert 3,1415926..., wie ersichtlich, erst in der vierten Dezimalstelle abweicht und für nicht allzu anspruchsvolle praktische Zwecke auf jeden Fall genügt.
Diese einmal wieder aufgenommene Beschäftigung mit Arithmetik setzten die sogenannten „Neu-Pythagoreer“ fort, die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert in Nikomachos von Gerasa den später sogenannten „Elementarschreiber der Mathematik“ hervorbrachten. Derselben Schule gehörte auch Theon von Smyrna (zweites nachchristliches Jahrhundert) an, der ebenfalls die Arithmetik förderte und Formeln kannte, die zur Annahme nötigen, er sei bereits der Kettenbruchentwicklung zur Ausziehung von Wurzeln kundig gewesen.
Wenn nun auch alle diese Anzeichen bereits den Anbruch einer neuen Epoche anzukündigen schienen, wollte es diesmal der Ablauf der Geschichte anders, als man es hätte voraussehen müssen. Gewiß, die Epoche trat in der Person des Diophantos ein. Aber ausschließlich in dieser einzigen Person, um dann wieder für viele Jahrhunderte, ja, für mehr als ein Jahrtausend gleichsam in die Versenkung der Weltbühne zu verschwinden.
Bevor wir uns jedoch an die eigentliche Leistung des Diophantos und an all das heranwagen können, was seinen Taten folgte und hatte folgen können, müssen wir uns in das Wesen der Arithmetik und Algebra vertiefen, womit primär die Zahlenschreibung zusammenhangt. Da die Ausdrucksform, in der uns die Zahl entgegentritt, das allererste ist, wollen wir auch damit beginnen. Und zwar werden wir bloß die griechische Zahlenschreibweise erörtern, da sämtliche andern alten Völker zum größten Teil noch schlechtere Systeme der Schreibung verwendeten als die Hellenen. Ein besseres hatte bis zu der uns eben interessierenden Zeit des Diophantos kein Volk des Altertums.
Es entwickelte sich also, etwa seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, in Griechenland eine Zahlenschreibung, die die Buchstaben des Alphabets unter Hinzufügung einiger Hilfszeichen (die aus anderssprachigen Alphabeten entlehnt wurden) als Zahlzeichen verwendet.
Und zwar wird
1 mit
2 mit
usw. geschrieben (siehe Tabelle)
Alpha α 1
Beta β 2
Gamma γ 3
Delta δ 4
Epsilon ε 5
Sigma σ (= ϛ) 6
Zeta ζ 7
Eta η 8
Theta θ (= ϑ) 9
Iota ι 10
Kappa κ 20
Wie ersichtlich wurde dem als Zahlzeichen verwendeten Buchstaben rechts oben zur Unterscheidung von gewöhnlichen Buchstaben ein Akzent angefügt. Mehrstellige Zahlen in unsrem Sinne wurden additiv gebildet, wobei die Größenfolge eingehalten und wie bei unsrer Schreibung die jeweils kleineren Zahlen von links nach rechts angereiht wurden. Dabei ließ man die Akzente fort und setzte einen waagrechten Strich über die Zahl.
Da also etwa 300 mit τ' bezeichnet wurde,
mußte 345 als τμε geschrieben werden.
Eine Null war in einem derartig aufgebauten System entbehrlich, da den Zahlen mit Nullstellen ja eigene Buchstaben entsprachen. Für die Tausender verwendete man die Zahlen von 1 bis 9 und charakterisierte sie als Tausender durch einen Akzent links unten.
Also 7000 = ,ζ oder
9000 = ,ϑ.
Myriaden
[Die Myriade steht für eine Anzahl von 10.000 (altgriechisch μυριάς myrias „zehntausend“, „unzählbare Menge“). Der Plural Myriaden steht heute meist für eine unzählbare Menge.]
oder Zehntausender konnte man auch noch darstellen, doch liegt es uns fern, uns in weitere Einzelheiten zu verlieren.
Wir wollen vielmehr aus dieser Art der Ziffernschreibung jetzt prinzipielle Schlußfolgerungen ziehen. Erstens war das griechische Ziffernsystem, trotz seiner unleugbaren Vorzüge gegenüber Systemen, wie etwa dem römischen, einer gelenkigen Rechnungsmöglichkeit noch durchaus nicht voll gewachsen. Insbesondere Multiplikation und Division (vom Wurzelziehen ganz zu schweigen) waren in dieser Schreibart nur recht mühselig durchzuführen. Was aber viel schwerer wog, war der zweite Umstand, daß es einem Volk, das die konkreten Zahlen als Buchstaben schrieb, kaum einfallen konnte, allgemeine Zahlen mit Buchstaben zu bezeichnen. Dieser Umstand, besser dieser historische Zufall wurde für die ganze griechische Mathematik verhängnisvoll. Und es gibt kaum einen denkenden Menschen, der sich bei Betrachtung der Entwicklung griechischer Mathematik nicht die Frage vorgelegt hat, was aus dieser Geometrie hatte werden können, wenn sie von einer kongenialen Algebra unterstützt worden ware.
Zu dieser letzten Andeutung aber müssen wir schärfer Stellung nehmen. Denn wir hatten schon mehr als einmal Gelegenheit, über hervorragende al gebraische Leistungen der alten Griechen zu berichten. Was heißt also dieses Bedauern über eine mangelnde Algebra? Handelt es sich dabei bloß um Formsachen, um die Art des Ausdrucks, oder liegen dabei die Unterschiede doch tiefer? Sicherlich ist das zweite der Fall. Wir haben an keiner Stelle behauptet, daß die Griechen mit Buchstaben gerechnet hätten, sondern haben stets nur von ihrer „geometrischen Algebra“ gesprochen. Wir nehmen dabei auf unsrer Stufe alles das kurzweg Algebra, was das Rechnen mit allgemeinen Zahlen betrifft. Und es gibt, nach Nesselmann, dem wir uns anschließen, drei Stufen der Entwicklung dieser Algebra. Auf der ersten Stufe bedient sich die „Wortalgebra“ bloß rein sprachlicher Ausdrucksformen. Solche Möglichkeiten waren den Griechen seit Pythagoras wohl bekannt. Es würde also auf dieser Stufe etwa all das, was wir Formeln nennen, durch Worte ausgedrückt werden müssen, etwa „der Flächeninhalt eines Dreiecks sei stets gleich der Grundlinie, vervielfacht mit der halben Höhe oder der halben Grundlinie mal der Höhe oder dem Produkt aus Grundlinie und Höhe dividiert durch 2“. Oder „der Kreisumfang sei der Durchmesser, multipliziert mit einer Zahl, die zwischen und liege“, usf. In dieser Art aber können auch Gleichungen erörtert und gelöst werden. Es sei etwa die Aufgabe gestellt, zu suchen, wie groß die Zahl sei, die man zu 15 hinzufügen müsse, um das Quadrat von 6 zu gewinnen.
Wir schreiben dafür 15 + x = 36 und sagen x sei 36 - 15, somit 21. Wir haben absichtlich sehr primitive Beispiele gewählt, wissen aber aus unsren bisherigen Erörterungen, daß die Griechen nicht davor zurückscheuten, sehr verwickelte Gleichungssysteme, wie etwa das „Rinderproblem“ des Archimedes, in Worten auszudrücken. Zur Unterstützung dieser sicherlich vorhandenen Wortalgebra diente nun die geometrische Konstruktion, die Anlegung, der Schnitt von Kurven u. dgl. Diese Methode hat einen, allerdings nur einen einzigen großen Vorteil. Es ist durch Geometrie nämlich ohne weiteres möglich, irrationale Gleichungslösungen als glatte, eindeutige Strecken zu erhalten, wozu man arithmetisch nicht imstande wäre. Dem steht jedoch, abgesehen von der an sich sehr großen und oft unüberwindlichen Schwierigkeit geometrischer Gleichungslösung, die eine ganz besondere intuitive Begabung voraussetzt, noch der zweite Nachteil entgegen, daß eine Erweiterung des Zahlensystems durch negative oder gar imaginäre Größen in dieser Art der Lösung niemals gefunden oder auch nur diskutiert werden konnte. Weiters, daß schon reine Gründe der Dimension es verbieten, die geometrische Algebra auf höhere als zweitgradige Gleichungen anzuwenden, wenn man nicht Schnitte von Kegelschnitten oder gar höhere Kurven, wie Konchoide und Cissoide, einführte. Aber auch da gab es bald eine Grenze, über die man schwer hinauskam.
Trotz alldem ist es, rein historisch-kritisch und rein äußerlich betrachtet, mehr als verwunderlich, daß die zweite Stufe der Algebra, die uns in ihren Anfängen schon in der „Hau-“ oder „Haufenrechnung“ der alten Ägypter vorliegt und die den Hellenen sicher bekannt war, nicht einmal auf alexandrinischem Boden eine Höherentwicklung veranlaßte. Besaßen doch die Ägypter schon zur Zeit des Ahmes eigene Hieroglyphen für die „Unbekannte“, die gesuchte Größe, und für einige Operationssymbole, wie Addition und Subtraktion. Addition wurde nämlich als fortschreitende Füße in der Schreibrichtung, Subtraktion als derartige Füße in entgegengesetzter Richtung dargestellt.
Die Art nun, bei algebraischen Ansätzen, wie Formeln oder Gleichungen, den Satzbau, die Einkleidung in Sätze, zwar prinzipiell noch beizubehalten, gleichwohl aber eine Reihe häufig wiederkehrender Größen, Begriffe oder Operationsbefehle durch Abkürzungen zu ersetzen, heißt die synkopierte Algebra.
Nun sind wir so weit, uns mit der Neuerung des Diophantos, die im Altertum vereinzelt dasteht, näher befassen zu können. Sie ist das Schulbeispiel einer „synkopierten Algebra“ und es zeigt sich auch innerhalb des Werkes Diophants ein Ringen um die neue Form, was sich in einer gewissen Inkonsequenz seiner Schreibart äußert. Er ist sich, so sieht es wenigstens aus, kaum schon der vollen Tragweite seiner Neuerung bewußt und glaubt wahrscheinlich, durch seine Schreibweise bloß Arbeit zu ersparen und Übersichtlichkeit zu gewinnen. Daß er sich dabei, halb unbewußt, in den Besitz einer selbsttatigen „Denkmaschine“ ungeheuerster Präzision und Leistungsfähigkeit gesetzt hat, dürfte er wohl dunkel gefühlt, nicht jedoch glasklar erkannt haben. Wir werden über diese sehr wichtigen Grundfragen der Algebra noch im Verlauf dieses Kapitels sprechen, nachdem wir uns die Neuerungen Diophants prüfend angesehen haben.
Das Hauptgebiet seiner Forschungen ist, wie es einem Algebraiker zukommt, die Untersuchung und Lösung von Gleichungen. Da aber in jeder Gleichung die zu suchende Größe (die wir heute mit x benennen), also die sogenannte „Unbekannte“, die Hauptrolle spielt, sieht sich Diophant zuerst um eine abkürzende Bezeichnung für diese Unbekannte um. Er nennt die erste Potenz der Unbekannten schlechtweg „die Zahl“ (Arithmos). Und er schreibt sie mit dem Schlußsigma, dem er einen Akzent rechts oben anfügt. Die Unbekannte erscheint also bei ihm als σ'. Will er die Mehrzahl andeuten, dann schreibt er .
Warum er gerade diesen Buchstaben wählte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die einen behaupten, er hatte ihn nehmen müssen, da alle andern Buchstaben des griechischen Alphabets bereits für Zahlenbezeichnungen vergeben waren. Die andern halten ihn für einen Zusammenzug von oc und Q, also der beiden Anfangsbuchstaben des Wortes Arithmos. Sicherlich hat Diophant für die höheren Potenzen der Unbekannten keine Buchstaben mehr vorgefunden, die nicht auch als konkrete Zahlen in Verwendung standen. Er behilft sich also damit, daß er die Anfangsbuchstaben der Wortbezeichnung dieser Potenzen mit einem hochgestellten kleineren zweiten Buchstaben versieht, der in allen vorkommenden Fallen das ist. Er schreibt also
x2 als (Dynamis = Quadrat),
x3 als (Kybos = Würfel),
x4 als (Dynamodynamis = Quadrat des Quadrats),
x5 als (Dynamokybos = Quadrat mal Würfel)
und schließlich
x6 als (Kybokybos = Würfel mal Würfel).
Weiter geht er nicht. Dagegen haben die Stammbrüche, in deren Nenner eine Potenz der Unbekannten steht, gleichfalls eigene Bezeichnungen, die sich an die obigen Zeichen anschließen. Es wird nämlich als Bezeichnung des Bruches (oder wie wir heute sagen würden, der negativen Potenz) dem kleinen eine dem griechischen „Chi“ () ähnliche Ligatur hinzugefügt, so daß
(Dynamoston) als
(Dynamodynamoston) als
(Dynamodynamoston) als usf. geschrieben wird.
Der reziproke Wert der ersten Potenz der Unbekannten, also , heißt Arithmoston.
Hinter diese Potenzen der Unbekannten bzw. hinter ihre reziproken Werte wird nun der Koeffizient geschrieben, so daß etwa als dargestellt wird. Da aber in Gleichungen auch sogenannte Konstanten (unbenannte Zahlen) vorkommen, müssen sie, zur Vermeidung von Konfusionen, als solche gekennzeichnet werden, insbesondere, da ein Additionszeichen nicht existiert und sich jede Addition als bloße Aneinanderreihung ausdrückt. Dieses Unterscheidungszeichen ist das My mit hochgestelltem Omikron, also , was Monas oder „Einheit“ bedeuten soll.
Wäre also darzustellen, so müßte man schreiben
Damit ist aber die Symbolik Diophants noch nicht erschöpft. Er kennt überdies ein Subtraktionszeichen in Form eines umgedrehten „Psi“, also das angeblich eine Ligation (zusammenziehende Abkürzung) von „Leipsis“ ist, was bei Diophant eben im Gegensatz zur Addition oder „I-Iyparxis“ die Subtraktion bedeutet.
Schließlich finden wir an manchen Stellen statt „ist gleich“ (isoi eisin) einfach den Buchstaben „Jota“ (). Diese Einschränkung „an manchen Stellen“ ist äußerst wichtig. Wir werden dies gleich näher an wirklichen Beispielen Diophantischer Schreibung verdeutlichen, deren Veröffentlichung von Nesselmann stammt. So wäre etwa eine Gleichung
Diese Stelle heißt wörtlich: „10 Unbekannte nun plus 30 Einheiten sind gleich 11 Unbekannten plus 15 Einheiten“, also in unsrer Schreibung
Wir machen darauf aufmerksam, daß den „Unbekannten“ oben kleine Endungen „oi“ und „ois“ angehängt sind, was dem Nominativ und Dativ Pluralis der männlichen Deklination entspricht. Es ist das etwa so, wie wenn wir „am 43m“ Juli“ schreiben. Weiters hat Diophant im vorliegenden Beispiel die „Monas“ das erstemal im Nominativ abgekürzt, im Dativ dagegen voll ausgeschrieben.
Schließlich finden wir das „Gleichheitszeichen“ in diesem Falle nicht, sondern es steht „isoi eisin“, also in Worten „sind gleich“. Daraus ersehen wir ganz deutlich, daß Diophants Gedanken noch sehr stark in der alten Wortalgebra gefangen waren, während sich seine Symbolik für ihn vorerst als „Abkürzung“ manifestierte, was ja auch außerhalb der Mathematik als „Abbreviatur“ beim Schreiben von häufigen Wörtern oder bei Endungen vorkam. Eine zweite Originalstelle, ein Bruch zweier Mehrgliederausdrücke (Polynome), wird dadurch bewältigt, daß an Stelle unsres Bruchstriches das Wort „moriou“ steht, wobei alles, was rechts davon steht, den Nenner bedeutet.
Der Ausdruck lautet
was in unsrer algebraischen Art als
geschrieben werden würde. Wieder fehlt hier die volle Konsequenz. Statt des sonstigen Minuszeichens steht zweimal das volle Wort und bei ist die Eins ausdrücklich als beigefügt. Wir wollen daher als Beispiel konsequenter diophantischer Schreibart, die sich aller von Diophant selbst gebrauchten „Abkürzungen“ bediente, ein von uns konstruiertes Beispiel anfügen, nämlich die Schreibung der Gleichung
die sonach lauten müßte:
Hier fehlt, obgleich es sich um einen sehr komplizierten Ausdruck handelt, jedes Wort, mit Ausnahme des Bruchanzeigers „rnoriou“, der sich etwa durch ein verkehrtes leicht hätte symbolisieren lassen können. Bei einiger Konsequenz läge also schon bei Diophant eine sehr hoch entwickelte algebraische Schreibweise vor, die unsrer an Einfachheit nur wenig nachsteht, wenn man von den konkreten Zahlen absieht, die natürlich noch kein Stellenwertsystem kennen.
Wir wollen aber weder philologische Tüftelei betreiben, noch dem großen Diophant Zensuren erteilen. Wir wollen nur einen ungeheuer wichtigen Tatbestand bis zum letzten Urgrund aufklären. Die Frage nämlich nach der Bedeutung der Algebra im allgemeinen und der algebraischen Schreibweise im besonderen. Denn es ist kein billiger Scherz, sondern eine geschichtliche Tatsache, daß die „geometrische Algebra“ der alten Griechen später entziffert wurde als die Hieroglyphen, während Diophantos und die noch spröderen Araber schon zu Beginn der Neuzeit im wesentlichen volles Verständnis fanden.
Es ist also zuerst die Frage nach der Bedeutung der Algebra zu stellen, die die weitere Frage nach der Bedeutung der Arithmetik im mathematischen Denken voraussetzt, da sie aus ihr hervorgegangen ist. Philosophisch gesprochen, liegt dem Problem der Unterschied des Begrifflichen und des Anschauungsmäßigen zugrunde. Um die Ausdrucksweise Kants zu gebrauchen, ist der Verstand das Vermögen, Begriffe zu bilden, während die Anschauung uns die Anschauungen vermittelt. Der Verstand ist eine sogenannte diskursive Fähigkeit, was nichts anderes heißt, als daß er für die Gewinnung seiner Ergebnisse das N acheinander braucht, während die Anschauung gleichsam zeitlos ist und auf einen Blick gewonnen wird. Darüber hinaus ist das eigentliche Gebiet des Verstandes das Zergliedernde, Teilende, während die Anschauung ein synthetisches, verbindendes Vermögen ist. Wir haben bei Gelegenheit der Paradoxien Zenons schon über ähnliche Dinge gesprochen. Eine wirkliche Kontinuität oder Stetigkeit ist nur durch die Anschauung zu verwirklichen. Eine Linie, eine Fläche, ein Körper sind anschauungsmäßig stetige oder kontinuierliche Wesenheiten. Will ich diese Wesenheiten jedoch verstandesmäßig aufbauen, dann muß ich Wohl zu Urelementen greifen, zu ersten Bausteinen, also zu Atomen. Atome sind aber irgendwie stets prinzipiell zählbare Mengen, wenn ich auch ihre unendliche Menge behaupte.
Wir können uns jedoch an dieser Stelle noch nicht tiefer in solche philosophische Erörterungen verlieren, da wir dadurch sozusagen einen Anachronismus der Darstellung begingen. Wir halten nämlich bei Diophant und nicht bei moderner Erkenntniskritik oder gar bei der Mengenlehre. Wir wollten lediglich feststellen, daß die Zahl und die Anzahl Ergebnisse der Verstandestätigkeit sind, und daß es auch eine Tätigkeit des Verstandes ist, die diese Zahlen in allerlei Arten miteinander verbindet. Die Tätigkeit derAnschauung betrifft dagegen die Gestalt und die Figur, also all das, was wir im eigentlichen Sinne als geometrisch bezeichnen. Nun ist es selbstverständlich, daß Verstand und Anschauung nirgends rein und ungemischt auftreten, da nach Kant ja Begriffe ohne Anschauung leer und Anschauungen ohne Begriffe blind sind. In dem an sich undenkbaren Begriff des Unendlichen steckt irgendwie eine wenn auch nebelhafte Anschauung und in der Anschauung eines Dreiecks das begriffliche Element einer gewissen Anzahl von Ecken und einer gewissen Verbindungsart dieser Ecken durch Linien.
Gleichwohl gibt es naturgemäß die verschiedensten Mischungsverhältnisse, in denen Begriffliches und Anschauliches in einem mathematischen Problem auftreten können. Und es ist gerade das sonderbare, daß die scheinbare Erblindung von Anschauungen und die Leere von Begriffen dazu besonders geeignet sind, mathematische Kräfte in Bewegung zu setzen. Wir haben nämlich die Möglichkeit, geometrische Tatsachen zu bloßen Schemen verblassen zu lassen, während wir Zahlen so sehr symbolisieren können, daß nichts mehr von ihnen übrigbleibt als der allgemeinste Begriff einer Zahl überhaupt. Das aber ist das Wesen der Algebra. Es soll nicht mehr mit Zahlen, d. h. mit konkreten Zahlen operiert werden, sondern mit Zahlen überhaupt oder, wie man auch sagen könnte, mit Zahlenstellvertretern. Irgendeine Zahl soundso oder eine Quadratzahl soundso wird gesucht. Wir kermen sie noch nicht, sonst brauchten wir sie nicht zu suchen. Bevor wir sie aber finden, benennen wir sie bereits und rechnen mit ihr nach Regeln, mit denen man sonst nur mit wirklichen, konkreten Zahlen umgeht. Man addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert mit diesen noch unbekarmten Zahlen, erhebt sie zum Quadrat, zur n-ten Potenz, zieht aus ihnen die Wurzel. Kurz, man operiert mit allgemeinen Zahlen, als ob sie konkrete Zahlen wären.
Das, was wir bisher erwähnten, könnte sich allerdings auch nur im Denkraum abspielen. Es ist eine begriffliche, logische Tätigkeit, aber sie muß noch nicht von einer eigenen Schrift, die bloß ihr allein dient, begleitet sein. So stand es au ch mit den algebraischen Bemühungen der Griechen bis auf Diophant. Man „dachte“ Algebra, man „sprach“ Algebra, aber man „schrieb“ nicht Algebra, oder schrieb sie nur in gewöhnlicher Umgangssprache. Und auch Diophant selbst begann erst in einem Zwischenstadium zwischen Abkürzung und selbständiger Symbolisierung die Algebra zu „schreiben“, wie wir es schon gesehen haben. Wie also schreibt man Algebra und warum schreibt man Algebra? Wir antworten darauf, daß man Algebra durch Symbole und Befehle schreibt und daß man sie nicht nur aus gleichsam stenographischen, sondern aus viel tiefer liegenden Gründen in dieser Weise schreibt. Gewiß, es ist nicht zu verachten, wenn wir etwa den Satz, daß das Quadrat eines Zweigliederausdrucks aus dem Quadrat des ersten, dem Quadrat des zweiten Gliedes und dem doppelten Produkt beider Glieder bestehe, einfach als
schreiben können.
Wir gewinnen dadurch Zeit, Überblick und Einblick in Strukturen. Wir können jetzt nach der gleichen Regel diesen einmal gewonnenen Ausdruck noch einmal zum Quadrat erheben, indem wir ihn etwa als
anschreiben. Und dabei als Resultat vorerst
erhalten, was dann leicht
oder schließlich nach Addition gleichbenannter Größen als Endergebnis
liefert.
Eine solche Rechnungsoperation, in Worten ausgedrückt, würde unsre Vorstellungskraft schon unerträglich belasten, während in der symbolischen Schreibweise nur einige Aufmerksamkeit und Sauberkeit der Schreibung notwendig ist, um nicht in Fehler zu verfallen. Aber es geschieht dabei noch viel mehr. Die Symbole (das sind die Bezeichnungen für die allgemeinen Zahlen, wie a oder b oder das bei Diophant) und die Befehle oder Operatoren oder Operations- oder Verknüpfungssymbole (+, -, = usw.) gewinnen gleichsam ein Eigenleben. Sie verbinden sich zum „Algorithmus“, zur Denkmaschine, und es ist nur mehr nötig, sie nach gewissen höchst einfachen Regeln zu gebrauchen. Der Leerlauf der isolierten Begriffe besorgt dann, ohne daß ein Fehler möglich ist, alles weitere, und am Ende steht das Ergebnis. Doch auch so weit sind wir bei Diophantos noch durchaus nicht, obgleich er mit seinen von ihm selbst geschaffenen Mitteln so weit hatte vordringen können. Sein Hauptfortschritt ist der Beginn einer algebraischen Schreibweise, einer sogenannten „Notation“ und noch nicht eines wirklichen Algorithmus. Natürlich ist die Notation die unerläßliche Voraussetzung des Algorithmus. Zu diesem Übergang war jedoch ein langer Weg notwendig, der sich hauptsächlich aus dem Bereiche konkreter Zahlen entwickelte, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden. Dieser Behauptung widerspricht es nicht, daß Diophant an einer Stelle eine unzweideutige allgemeine Regel zur Lösung von Gleichungen angibt. Er sagt nämlich: „Wenn man nun bei einer Aufgabe auf eine Gleichung kommt, die zwar aus den nämlichen allgemeinen Ausdrücken besteht, jedoch so, daß die Koeffizienten auf beiden Seiten ungleich sind, so muß man Gleichartiges von Gleichartigem abziehen, bis ein Glied einem Gliede gleich wird. Wenn aber auf einer oder auf beiden Seiten Abzugsgrößen vorkommen, dann muß man diese substraktiven Größen auf beiden Seiten hinzufügen, bis auf beiden Seiten nur Hinzuzufügendes entsteht. Dann muß man wieder Gleichartiges von Gleichartigem abziehen, bis ein Glied einem Gliede gleich wird. Wenn aber auf einer oder auf beiden Seiten Abzugsgrößen vorkommen, dann muß man diese subtraktiven Größen auf beiden Seiten hinzufügen, bis auf beiden Seiten nur Hinzuzufügendes entsteht. Dann muß man Wieder Gleichartiges von Gleichartigem abziehen, bis auf jeder Seite nur ein Glied übrig bleibt.“ Cantor bemerkt zu dieser Stelle, daß sie die Zurückbringung einer Gleichung auf die Form : betreffe, wobei und ganze, von einander verschiedene Zahlen bedeuten, deren eine auch Null sein kann. Diese Regel, sagt Cantor weiter, sei so unzweideutig, wie wir nur selten im Altertum Regeln ausgesprochen finden.
Wir berufen uns hier auf Cantor, um unsre Behauptung, Diophantos habe noch keinen wirklichen Algorithmus, keine umfassende Denkmaschine ausgebildet, zu stützen. Denn im übrigen fällt uns zwar an jeder Aufgabe, die Diophantos löst, eine geradezu unwahrscheinliche persönliche Virtuosität auf, die Aufgabe anzupacken und zu meistern, er behandelt aber gleichwohl jedes dieser Probleme für sich gesondert und bringt durchaus nicht alles Zusammengehörige in den großen Zusammenhang umfassender Regeln. Er hat also, wie Descartes einmal über die griechischen Mathematiker sagte, nicht nach einer allgemeinen Methode Lehrsätze aufgestellt, sondern nur diejenigen aufgelesen, die ihm begegnet sind.
Wir bemerken also noch einmal, daß für uns, rein entwicklungsgeschichtlich betrachtet, Diophantos, trotz all seiner nicht in Abrede gestellten persönlichen Genialität, bloß der Bahnbrecher der algebraischen Notation oder Schreibweise ist, wenn er auch die Gleichungen, insbesondere die unbestimmten, an zahlreichen Beispielen einer ganz neuartigen Behandlung zuführte. Diese neben seiner generellen Leistung als Notationserfinder einherlaufende Tätigkeit als Spezialforscher für Gleichungen wollen wir uns nun naher betrachten.
Vorerst aber noch eine weitere Feststellung: es ging Diophantos durchaus nicht etwa darum, speziell für unbestimmte Gleichungen sämtliche Lösungen zu finden. Er begnügt sich vielmehr sehr oft damit, eine einzige Lösung anzugeben. Noch viel weniger hat er es angestrebt, etwa bloß ganzzahlige Lösungen zu suchen. Die Methode für diesen Zweck hat erst sein Übersetzer Bachet de Méziriac im 17. nachchristlichen Jahrhundert geschaffen. Das muß deshalb betont werden, weil heute im Schulunterricht und in der Vfissenschaft die unbestimmten Gleichungen nur dann „diophantische Gleichungen“ heißen, wenn sie ganzzahlige Lösungen ermöglichen, bzw. es wird die Lösung in ganzen Zahlen als diophantisch bezeichnet. Diophantos selbst verlangt wie überall in seinem Werke, bloß positive und rationale Lösungen. Irrationale Größen erkennt er als Grieche nicht als Zahlen an und bezüglich der negativen Größen ist er sicherlich, wie das ganze übrige Altertum, gar nicht auf den Gedanken gekommen, sie als Zahlen oder Gleichungslösungen zu betrachten, da sie geometrisch, wenigstens innerhalb der griechischen Geometrie, keinerlei Sinn haben. Wir wollen uns aber nicht mit diesen Andeutungen über Diophantos begnügen. Dadurch würden wir seine Spezialleistungen nicht im gehörigen Lichte sehen. Sie sind nämlich alles eher denn gering, sind in manchen Augenblicken sogar erstaunlich. Er hat insbesondere mit einer ungeheuren Schwierigkeit zu kämpfen, die sich sozusagen aus seinem „Rohmaterial“ oder aus der Beschaffenheit seines Werkzeuges ergibt. Dadurch nämlich, daß er zur Bezeichnung seiner „Unbekannten“ keine Buchstaben außer dem vorfindet, die nicht konkrete Zahlen bedeuten, ist er gezwungen, stets nur mit einer einzigen Unbekannten zu arbeiten. Allerdings hätte er sich mit fremden Alphabeten behelfen können. Doch das widerstrebte dem Griechen sicherlich, da ja die alten Hellenen auch Fremdwörter stets vermieden.
Sein Hauptwerk heißt „Arithmetika“ (also etwa „Arithmetisches“ oder „arithmetische Untersuchungen“) und besteht, außer allgemeinen Erörterungen über Zahlen, aus Beispielen, die Lösungen von Gleichungen beinhalten. So verlangt etwa die 39. Aufgabe des ersten Buches, daß, wenn zwei Zahlen gegeben sind, eine dritte gesucht werde, so daß dann die Summe je zweier Zahlen, mit der dritten multipliziert, drei Zahlen ergibt, die gleiche Differenzen haben. Also eine sicherlich sehr verwickelte Bedingung. Diophantos schließt in folgender Art: die gegebenen Zahlen seien drei und fünf, die gesuchte ist x (bei Diophantos natürlich als geschrieben).
Man erhält sonach die drei Produkte
und
Das Ergebnis der ersten Multiplikation kann nicht die größte der drei Zahlen sein, dagegen könnte die größte oder mittlere, die größte, mittlere oder kleinste sein.
Sei nun die größte, die mittlere der drei Zahlen, dann muß, da die drei Zahlen gleiche Differenzen haben sollen, die Summe der größten und der kleinsten Zahlen gleich sein der doppelten mittleren, da in unsrer Sprache gesprochen, aus
und
folgt, daß
.
Daher ist also
oder
.
Wäre aber die größte,
die mittlere und
die kleinste Zahl,
dann wäre nach der angeführten Regel
,
somit .
Ist schließlich
die größte,
die mittlere und
die kleinste Zahl,
dann ist wohl
oder
.
Löst man jetzt die drei Gleichungen, jede für sich, auf, dann erhält man für x die drei Werte
, und 15, die alle drei der aufgestellten Bedingung genügen. Aus diesem Beispiel ist klar zu sehen, daß Diophantos zwar im tiefsten Grunde mit drei Gleichungen, jedoch formal bloß mit einer einzigen Unbekannten arbeitet.
Um nun weiters zu zeigen, mit welcher Virtuosität Diophantos für seine Zeit sehr schwierige unbestimmte Gleichungen behandelte, geben wir, in der Darstellung Zeuthens, Gleichungen der Formen
und
,
die bei Diophantos häufig vorkommen. Diophantos löst nun die erste Form dadurch, daß er
setzt,
während die zweite Form durch die Substitution
behandelt wird.
Er gewinnt also im ersten Fall für
durch die Substitution die Gleichung
oder
oder
und wird gemäß
und
gleich
.
Nun kann man durch leicht und sicher rational ausdrücken. Und weiters aus und .
Nehmen wir an, die ursprüngliche Gleichung hätte gelautet
und wir hätten für
nach obiger Regel
substituiert. Dann hätten wir nach Einsetzen
, also
, somit
und daraus ergäbe sich als
Wenn wir jetzt ein wählen, das die Lösung nicht negativ macht, also etwa , dann erhalten wir für den Wert
oder
.
Das zugehörige ergibt sich aber, da es ja
ist, als oder
Gehen wir zur ursprünglichen Gleichung zurück, dann muß
gleich sein
also
, was offensichtlich stimmt.
In analoger Art wird die zweite angeführte Substitution gehandhabt, um aus derartigen Gleichungen rationale Wurzeln oder Lösungen für beide Unbekannte zu gewinnen. Zeuthen bemerkt hiezu, daß noch heute mit denselben Substitutionen irrationale Differentiale rational gemacht werden. Selbstverständlich sieht die tatsächliche Behandlung derartiger Aufgaben bei Diophantos viel verwickelter aus, da er nur mit einer Unbekannten operiert und daher fortwährend Zwischengleichungen einschalten muß. Dabei verwirrt es den Leser, daß die Unbekannte in mehreren verschiedenen Gleichungen, obwohl sie Verschiedenes bedeutet, mit demselben Buchstaben geschrieben wird (bzw. mit
, falls es sich um ein Quadrat handelt). Um so bewunderungswürdiger aber die Sicherheit der Handhabung. Wir haben ja auch an unserem ersten Beispiel gesehen, daß ein solches Vorgehen möglich ist. Denn dabei hat das in jeder der drei Gleichungen etwas anderes bedeutet. Natürlich ist dasselbe Vorgehen in einer und derselben unbestimmten Gleichung noch komplizierter zu handhaben und zu begreifen.
Um die Gewandtheit Diophants, seine „Wendungen“, wie sie oft genannt werden, zu demonstrieren, sei noch eine unbestimmte Gleichung erwähnt. Zwei Zahlen, die wir für uns und nennen, ergeben die Summe 20. Dabei soll jede dieser beiden Zahlen, um ein und dieselbe Quadratzahl vermehrt, wieder eine Quadratzahl liefern.
Also, modern geschrieben:
.
Das wären drei Gleichungen mit vier Unbekannten. Wie hilft sich nun unser Meister aus der Verlegenheit? Wieder durch kühne „Substitutionen“, wie wir gleich sehen werden.
Er quadriert nämlich und und erhält
und
.
Das aber, so denkt er, könnte recht wohl an Stelle der obigen zweiten und dritten Gleichung gesetzt werden.
Es wäre dann
und
Es steht also jetzt
für und
für .
Da aber
, so wäre
Um nun aus dieser Gleichung für einen positiven Wert zu erhalten, muß
kleiner sein als zwanzig.
Also, wie er annimmt, 4 und 9.
Dadurch wird
und schließlich
Daraus folgt
und
, wodurch alle Bedingungen des Gleichungssystems erfüllt sind.
Denn ,
somit die rationale, gebrochene Quadratzahl und
, somit .
Diese Lösungen sind, wie bei Diophantos an allen Stellen, natürlich nur spezielle und sind durch frühzeitiges Einsetzen konkreter Werte, unter Ausschluß negativer Möglichkeiten für den Wert von , gewonnen. Wir Heutigen würden ruhig für und auch Zahlen substituieren, die der Bedingung
(die, nebenbei bemerkt, etwas gewaltsam ist) nicht genügen.
Bei und ergäbe sich etwa
für der Wert
,
für der Wert und
für der Wert .
Daraus folgt, daß
und
also ebenfalls eine Erfüllung des Gleichungssystems.
Schließlich sei noch das einzige Beispiel einer kubischen Gleichung erwähnt, das sich bei Diophantos findet. In unsrer Schreibweise würde die Gleichung
lauten.
Berechnet ergäbe sich oder, nach der Gewohnheit Diophants umgeformt,
Er setzt die Gleichungen schließlich stets so an, daß lauter positive Werte vorkommen. Dadurch aber kann er im vorliegenden Fall weiter umformen
und erhält durch Division . Von den beiden anderen Wurzeln, die jede kubische Gleichung haben muß und die in unsrem Fall imaginär wären, ist naturgemäß keine Rede.
Es war jedoch nicht bloß die, fast möchte man sagen, abenteuerliche Geschicklichkeit Diophants, Gleichungen zu behandeln, die seine spätere Wirkung erklärt. Gelegentlich seiner Einkleidungen der Gleichungen stößt er darüber hinaus oft auf zahlentheoretische Beziehungen. So findet er, daß in jedem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Hypotenuse auch dann noch ein Quadrat bleibt, wenn man das doppelte Produkt der Katheten dem Quadrat hinzufügt oder davon abzieht. Es ist also
stets ein Quadrat, was uns algebraisch natürlich vollständig klar ist, da es nichts anderes bedeutet als die Ausrechnung der Quadrierung des Binoms oder . Allerdings erscheint es hier in anderem Zusammenhang als neue Beziehung zwischen den Seiten rechtwinkliger Dreiecke. Weiters entdeckt er, daß sich die Zahl 65 auf zwei Arten in die Summe von Quadraten zerlegen lasse, nämlich und , da 65 aus der Multiplikation von 5 und 13 entstanden sei, die wieder selbst die Summe je zweier Quadrate seien, nämlich
und .
Es ist also, so übersetzen wir diese Erkenntnis in unsre Algebra, stets
oder gleich
.
Schließlich erkennt Diophantos, daß jedes Quadrat auf beliebig viele Arten als Summe zweier Quadrate aufgefaßt werden könne. Wenn nämlich a2 die zu zerlegende Quadratzahl sei, dann könne man als den einen, dagegen als den andern Teil denken, wobei ganz beliebig gewählt werden darf.
Dann ist , woraus
und schließlich
folgt.
Die zweite Quadratzahl gibt sich hierdurch als
oder
.
Dadurch aber ist wieder, da ja ,
dieses ursprüngliche Quadrat jetzt
,
wobei willkürlich angenommen werden kann.
Hätten wir also etwa : zu zerlegen und wählen wir als , so erhalten wir
.
Wählen wir aber , so ergibt sich
.
Diese zahlentheoretischen Erkenntnisse haben viel später auf die Zahlentheoretiker des 17. nachchristlichen Jahrhunderts, insbesondere auf Fermat, als mächtige Anregung eingewirkt.
Wir wollen aber, so interessant es ware, den Leser nicht mehr mit den speziellen Leistungen des Diophantos belasten. Wir mußten sie konkret zeigen. Denn durch bloße Zensuren läßt sich die geniale Kunstfertigkeit dieses einzigen wirklichen Algebraikers des hellenischen Kulture kreises nicht zwingend darstellen. Daß er der einzige Algebraiker des Altertums blieb, ist durch seine geschichtliche Position innerhalb einer im Zerfall begriffenen Kultur zu erklären. Er fand keine Nachfolger, weil die Schaffenskraft der Hellenen gleichsam erschöpft war. Und vielleicht noch mehr deshalb, weil sein Werk die bisherigen Bahnen griechischer Mathematik verlassen hatte.
Auf jeden Fall bildet er ein Unikum in der Geschichte unsrer Wissenschaft. Gleichwohl aber für sich eine Epoche. Denn er hat als erster die symbolische Schreibweise angewandt, zum mindesten die Schranken der Wortalgebra und der geometrischen Algebra niedergerissen.



6[Bearbeiten]

Sechstes Kapitel
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ALGHWARIZMI
Mathematik als Denkmaschine
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Unser Zauberteppich hat uns jetzt in Gefilde zu tragen, aus denen er stammt. Wir befinden uns plötzlich mitten in der Welt der Tausend-und-eine-Nacht-Märchen, in der Stadt der großen Kalifen Almansur, Harun al Raschid und Almamun. Die Stadt heißt Bagdad und die traumschnell aufblühende Kultur, die sie umschließt, ist jetzt, an der Wende des achten und neunten nachchristlichen Jahrhunderts, kaum mehr als ein Säkulum alt. Denn erst nach den Stürmen der Völkerwanderung hat die Bindekraft des Islams aus bisher schweifenden, unbeachteten Nomaden, die irgendwo in der Wüste in Sternennächten einander Märchen erzählt hatten, ein mächtiges und geachtetes Kulturvolk geschmiedet.
Im Abendland ist alles verändert: Merowinger, Karolinger, Pippin, Karl der Große. Die Pforten der letzten halbleeren und vom Geist längst verlassenen Philosophenschulen sind schon im sechsten Jahrhundert nach Christi Geburt endgültig geschlossen worden, und die alexandrinischen Bibliotheken sind ausgeplündert und niedergebrannt. Entartetes Hellenentum lebt noch, so starr wie Goldmosaik, in einem Reich, das voll ist von Tücke, Grausamkeit, Wollust und Halbbildung: in Byzanz.
Noch vor diesem Untergang der klassischen Kultur erhoben sich zwei Mathematiker zu höherem geometrischen Flug. Aber auch sie waren nicht epochal, sondern vorwiegend sammelnd und rückschauend, obgleich beiden ein geniales Format nicht abgesprochen werden soll. Es waren Pappos und Proklos Diadochos. Eine Geschichte der Mathematik muß sich mit beiden befassen, da sie durchaus nicht eigener Gestaltung entbehrten. Die Geschichte würde auch den Arithmetiker Theon von Alexandrien und seine unglückliche Tochter Hypatia erwähnen, die als einzige Frau seit den Anfängen unsrer Wissenschaft in der Geschichte der Mathematik einen Platz verdient. Kaiser Julian der Abtrünnige hatte den Philosophenschulen Schutz gegen das von allen Seiten vordringende Christentum gewährt und die gebildeteren Stände waren noch durchaus nicht bekehrt. Auch Jahrzehnte nach dem Tode J ulians nicht. Hypatia war Heidin, stand aber wegen ihres hohen wissenschaftlichen Ranges gleichwohl in großem Ansehen beim Bischof Synesios von Ptolemais. Auch der kaiserliche Präfekt Orestes von Alexandria war ihr wohlgesinnt. Nun begab es sich, daß eben dieser Prafekt hierarchische Ansprüche des Bischofs Cyrillos zurückwies. Man verdächtigte Hypatia der Einflußnahme auf den Präfekten. Und eine Pöbelmenge riß sie in Stücke. Es war derselbe Großstadtmob Alexandriens, der etwa 20 Jahre früher, unter dem Deckmantel religiöser Gesinnung, nach dem Befehl des Theodosius, alle Tempel der Heiden zu zerstören, in blindem Plünderungstrieb den Serapistempel, die letzte Zufluchtsstätte der alexandrinischen Bibliothek, eingeäschert und bis zu den Grundmauern niedergerissen hatte.
Wie ein Symbol wirkt der Tod der Hypatia und diese Selbstzertrümmerung der Reste einer Zeit ungeheuerster Geistesgröße. An eben dieser Stelle des geistigen Kosmos aber setzt das unvergangliche Verdienst der Araber ein. Unser Zauberteppich trägt uns zurück, wir sind wieder am Hof der Kalifen, an dem nicht bloß Scheherezaden in Gunst standen. Die arabische Kultur war eine durchaus männliche Kultur und daher der Mathematik besonders zugewandt. Mit wahrem Feuereifer, mit dem Fanatismus des eben erst arrivierten Volkes, wird das Erbe von Hellas in Form von Manuskripten gesammelt. Aber nicht nur hellenische Papyri haben hohen Wert in Bagdad. Auch die neupersischen Pehlewitexte und die Sanskrittexte beginnen die Bibliotheken zu füllen, und ein Heer von Übersetzern müht sich damit ab, Euklid, Archimedes, Menelaos, Pappos und insbesondere die „Syntaxis“ des Ptolemäus ins Arabische zu übertragen, die von da an durch Jahrhunderte nur mehr „das Almagest“ genannt wird. Der Lehrgang in den Schulen - denn Mathematik wird Allgemeingut - beginnt mit Euklid und endet mit dem Almagest. Dabei aber spiegelt sich die Wissenschaft als solche in der Seele eines anders gearteten Volkes, in einer mathematisch und logisch sehr begabten Psyche, deren Hauptmerkmal jedoch die von Oswald Spengler so genannte „magische“ Richtung war.
Hatte man sich im Griechentum, Harmonie suchend, im äußeren Anschauungsraum getummelt, so erstrebt die magische Seele gleichsam die Strukturierung des Denkraumes. Etwas unglaublich Kühles, dabei jedoch Glitzerndes legt sich über diese Welt. Alle Bilder und Begriffe, alle Architektonik und Formulierung wird scharf, wie eine mit kleinster Blende aufgenommene und hart kopierte Photographie. Und es ist kein Gegensatz zu dieser Geisteshaltung, wenn das Gemüt nebenher in üppigen Märchen Zuflucht sucht. Denn auch durch Aladins Wunderlampe gelangen wir schließlich in Gärten, in denen geschliffene Edelsteine an den Bäumen hängen. Plastik und Malerei aber fehlen in dieser Kultur. Das irrational Lebendige ist verbannt. Zumindest aus dem Anschauungsraum vertrieben und in seinen Resten ins Innerste, in die Bereiche der Phantasie und des Zaubers zurückgedrängt.
Wir haben das Wort „Zauber“ ausgesprochen. Die Bedeutung des Magischen liegt nämlich nicht bloß in der rationalen Geschlossenheit des Weltbildes, besser des Weltdenkens, sondern hat dazu noch einen polaren dunklen Begleiter. Wo sich nämlich die Anschauung aufzulösen beginnt, dort steht hinter der Form das Chaos. Wo sich dagegen die ratio, die bewußte Tätigkeit, in den Schatten verliert, dort lauert der Wahnsinn, das Schauderhafte, der Zauber. Derselbe Zauber, der wieder nichts anderes ist als die halbvergebliche Mühe, das Reich des Verstandes, über seine Grenzen hinaus, ins Unerforschte vorzutreiben.
Die Mathematik aber bot seit jeher diesem kabbalistisch-magischen Bemühen allerlei Vorschub. Jeder, der sich tiefer in sie versenkt, wird durch ihre eigentümliche Erkenntnishilfe überrascht und erschreckt zu gleicher Zeit. Denn nur Mathematik ist die „vera cabbala“, wie sie Leibniz ein Jahrtausend später genannt hat. Ihre Ergebnisse springen oft unvermutet aus dem Innersten des Menschen hervor, so daß schon der große Platon diesen Vorgang nicht anders deuten konnte denn als „Anamnesis“, Rückerinnerung. Sodaß der Unterricht in Mathematik nichts anderes bedeutet als Wiedererweckung eines gleichsam angeborenen Gedankengutes. Aber nicht bloß dieses Emporschießen von Zusammenhängen bei längerer passiver Betrachtung, das jeder Geometer kennt, dieser Zustand, bei dem ganze Figurengruppen sich gleichsam zu bewegen, zu schichten, zu ordnen beginnen, um schließlich Ungeahntes zu offenbaren, ist ein Zauber. Ebenso kabbalistisch ist die Führung, die das Werkzeug der Arithmetik und Algebra plötzlich an sich reißt, wodurch es sich als richtigen Zauberlehrling erweist. Und diese Führung durch das Werkzeug selbst leitet uns oft über Abgründe, in die niemals ein Gedanke dringt und deren Boden auch ein Gedanke niemals erblicken kann. Die höchste aller kabbalistischen Künste aber ist der durch richtige Notation entstandene Algorithmus, ist die Denkmaschine der Arithmetik und Algebra mit all ihrem Symbolzauber.
Woher das Wort Algorithmus stammt, wußte man bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein nicht, obgleich er seit Leibniz in allgemeiner Verwendung stand. Man dachte an eine Verstümmelung des Ausdruckes Logarithmus, sicherlich aber an einen Zusammenhang mit „Arithmos“ (Zahl). Erst die Orientalisten klärten das Rätsel, beseitigten auch den Irrglauben, daß Algoritmi ein indischer, sagenhafter, zauberkundiger König gewesen sei. Er war vielmehr ein höchst lebendiger Mensch, ein großer Mathematiker der Kalifenzeit, lebte um 800 nach Christi Geburt und hieß Muhammed ibn Musa Alchwarizmi. Dieser Beiname Alchwarizmi bedeutet aber bloß, daß er aus der ostpersischen Provinz Khorassan (später Khanat Chiwa) stammte. Muhammed Alchwarizmi verfaßte nun zwischen 800 und 825 zwei mathematische Werke, deren eines ein Rechenbuch ist und in der lateinischen Übersetzung mit den Worten „Algoritmi dicit“ („also sagt Alchwarizmi“) beginnt. Das zweite Werk aber ist eine geniale Algebra mit dem Titel „Aldschebr Walmukabala“, was etwa „Einrichtung-Gegenüberstellung“ heißt und bedeutet, daß eine Gleichung „eingerichtet“ ist, wenn sie nur mehr positive Glieder enthält. „Gegenüberstellung“ aber ist das weglassen oder Subtrahieren gleicher Größen auf beiden Seiten der Gleichung. Nun hat sich, nach Günther, das Wort Algebrista in Spanien unter maurischem Einfluß bis auf Cervantes erhalten, da der „Spiegelritter“, den Don Quixote vom Pferde geworfen hat, einem Algebrista (einem Einrichter) zum Einrenken der Glieder übergeben wird.
Und es ist der wunderlichste Zufall der Wissenschaftsgeschichte, daß unser Alchwarizmi zu verschiedenen Zeitpunkten gleich zweimal kategorial verewigt wurde. Der Titel seines Werkes lieferte die Gattungsbezeichnung für die Buchstabenrechnung und für alle sich daran schließenden Formenlehren; wobei Alchwarizmi selbst, wie wir sehen werden, von einer Algebra dritter Stufe, also von der Buchstabenrechnung, keine Ahnung hatte. Er steht vielmehr durchwegs auf der ersten, Wortalgebraischen Stufe. Sein verballhornter Beiname aber wurde zur Gattungsbezeichnung für einen der tiefsten und umfassendsten Begriffe, die die Mathematik kennt, zum „Algorithmus“, was ungefähr dasselbe wäre, als ob spätere Jahrtausende irgendeine mathematische Kategorie nach Gauß „Braunschweiger“ nennen würden.
Um diese Bezeichnung und den ganzen Inhalt des Begriffes Algorithmus (früher sagte man auch Algorismus) voll würdigen zu können, müssen wir zuerst einmal sehen, wo das Wort zum erstenmal auftritt, und müssen dann sofort als echte Besucher Bagdads den Zauberteppich besteigen, der uns diesmal nicht aus dem Märchenbereich von Tausend-und-einer-N acht hinausführen wird. Wir verrieten schon, wo das Wort zum erstenmal vorkommt. Nämlich als Anfang eines Rechenbuches. Was nun enthält dieses Rechenbuch? Etwas für uns vollkommen Entzaubertes, Selbstverständliches: die sogenannten Species, die Rechnungsoperationen, die jedes Kind in der Volksschule lernt. Dazu noch zwei inzwischen aus der Übung gekommene Operationen des Verdoppelns und des Halbierens, deren Ursprung sich vielleicht rein sprachlich aus den Formen des Duals (der Zweizahl) herleitet, den es als Ergänzung der Einzahl (Singularis) und Mehrzahl (Pluralis) sowohl im Sanskrit als etwa im Altgriechischen gab. Gut, uns sind diese Rechnungsarten selbstverständlich, aber dies nur aus einem Grund, der gerade ihren Zauber ausmacht. Sie beruhen nämlich, und dies der Kernpunkt, auf dem durchsichtigsten und vollkommensten System, das in der Geschichte des Geistes bisher geschaffen wurde: auf dem Stellenwertsystem oder Positionssystem der Ziffernschreibung. Die Tatsache, daß man mit zehn Begriffssymbolen, die von jeder Sprache unabhängig sind, alle Zahlen vom denkbar kleinsten Systembruch bis zu der sich im Nebel des Unendlichgroßen verlierenden astronomischen und überastronomischen Zahl mühelos und irrtumsfrei, eindeutig und allgemeinverständlich anschreiben kann, hat im geistigen Kosmos nicht ihresgleichen. Von allen Wissenschaften besitzt nur noch höchstens die Chemie ein annähernd so ehernes und scharfes Werkzeug in ihrer Symbolik der Elemente, dessen Gültigkeit und Vollständigkeit jedoch jederzeit von einer Erkenntnisrevolution zertrümmert werden kann, was bei der Ziffernschrift unmöglich ist. Damit ist aber die Zauberkraft des Stellenwertsystems, das natürlich nicht einmal gerade ein dekadisches sein müßte, noch durchaus nicht erschöpft. Es gebiert gleichsam fortzeugend Gutes. Und es ermöglicht etwa zum erstenmal eine im wahrsten Sinne kinderleichte Handhabung auch sehr verwickelter Rechnungsoperationen und eine Fülle von im System selbst begründeten Proben und Kontrollen. Damit wird es zur ersten wirklichen Denkmaschine, deren Bedienung, wie gesagt, jeder Elementarschüler kennt, deren tiefere Struktur und deren Zahnräderwerk aber durchaus nicht so einfach ist, wie es sich der Laie vorzustellen versucht ist. Ein solcher „Durchschauer“ müßte zuerst einmal bei Gauß in die Lehre gehen und etwas von „Rest-Modul-Systemen“ oder Primzahlforschungen in Sich aufnehmen. Doch das nur nebenbei.
Unserem Alchwarizmi also fiel die historische Aufgabe zu, das indische dekadische Stellenwertsystem in einem Rechenbuch zusammenzufassen, worauf er oder ein Übersetzer seinen Herkunftsnamen „Algoritmi“ an die Spitze stellte.
Wir wollen aber jetzt dieses erste an uns herantretende Beispiel eines Algorithmus, und zwar den vollkommensten aller Algorithmen, ein wenig näher prüfen, um uns ein richtiges Bild über das Geleistete und über den Anteil der einzelnen Kulturen an dieser Epoche zu bilden.
Seit den bahnbrechenden und verdienstvollen Forschungen des englischen Kolonialbeamten Colebrooke, der 1816 zum erstenmal die indische Mathematik ins richtige Licht stellte und auf dessen Arbeiten dann die weitere Forschung nicht nur des Abendlandes, sondern auch der autochthonen Forscher Indiens selbst weiterbaute, weiß man, daß die alten Inder in mehr als einer Art zur Entwicklung der Mathematik beigetragen haben. Ihre mit ausschweifender, zügelloser Phantastik gemischte mathematische Begabung befähigte sie zu großen Entdeckungen, deren größte eben das Stellenwertsystem ist. Gewiß, sie hatten auch bedeutende Algebraiker wie Aryabhatta (476 nach Christi Geburt), Brahmagupta (7. Jahrhundert nach Christi Geburt) und Bhaskara (12. Jahrhundert nach Christi Geburt). Sie entdeckten selbständig die ganzzahlige Lösung unbestimmter Gleichungen und drangen bis zur Algebra dritter Stufe, also bis zur reinen Symbolschreibung, vor. Ihr Werk aber blieb mit Ausnahme der Zahlenschreibung abseits von der allgemeinen Entwicklung und hat daher in unsrem Sinne nicht den Charakter des Epochehaften, sondern eher des Episodischen. Daran änderte es auch nichts, daß Bhaskara den Grenzwert von richtig einschätzt und sagt: „Je mehr der Divisor verkleinert wird, um desto mehr wird der Quotient vergrößert. Wird der Divisor aufs äußerste verkleinert, so vergrößert sich der Quotient aufs äußerste. Aber solange noch angegeben werden kann, er sei so und so groß, ist er noch nicht aufs äußerste vergrößert; denn man kann alsdann eine noch größere Zahl angeben. Der Quotient ist also von unbestimmbarer Größe und wird mit Recht unendlich genannt.“
[Wenn der Divisor allerkleinst, also 0 ist.]
Wenn solche reife Erkenntnisse des Infinitesimalen aus dem Zauberland des Meditierens, aus indischen Schulen, damals schon ins Abendland gelangt und in die geeigneten Hände gekommen wären, hätte sich wahrscheinlich die Weltgeschichte anders entwickelt. Aber es begab sich eben anders. Und das Abendland erfuhr auch bis zum 19. Jahrhundert nichts davon, daß Brahmagupta mehrere Unbekannte durch Farbenbezeichnungen unterschied, wie denn die indische Algebra überhaupt in ihrer Einkleidung sehr poetisch war. So sagt Bhaskara in seinem „Lilavati“ überschriebenen Kapitel über die Rechenkunst: „Schönes Mädchen mit den glitzernden Augen, sage mir, so du die richtige Kunst der Umkehrung verstehst, welches ist die Zahl, die mit 3 vervielfacht, sodann um des Produktes vermehrt, durch 7 geteilt, um ein Drittel des Quotienten vermindert, mit sich selbst vervielfacht, um 52 vermindert, durch Ausziehung der Quadratwurzel, Addition von 8 und Division durch 10 die Zahl 2 hervorbringt.“ Falls diese Lilavati ein wirkliches schönes Mädchen und nicht bloß, wie einige Historiker annehmen, die allegorische Darstellung der herrlichen Rechenkunst selbst war, dann dürften sich, auch wenn sie die „Methode der Umkehrung“ verstand, ihre glitzernden Augen ein wenig getrübt haben, bevor sie wußte, daß der Gang der Rechnung
und
lautete,
da alle in Worten angegebenen Rechnungsoperationen gerade umgekehrt angesetzt werden mußten. Denn . Dazu von 84, also 63, ergibt 147.
Diese 147 durch 7 sind 21, davon ab macht 14, das, mit sich selbst vervielfacht, 196 ergibt.
Subtraktion von 52 vermindert l96 auf 144, dessen Quadratwurzel 12 ist. Wenn man hierzu 8 addiert, also 20 erhält, und dies durch 10 dividiert, resultiert tatsächlich 2, wie es verlangt war. Noch poetischer erscheint uns die Aufgabe: „Von einem Schwarm Bienen läßt sich auf einer Kadambablüte, auf der Silindhablume nieder. Der dreifache Unterschied der beiden Zahlen flog nach den Blüten einer Kutuja, eine Biene blieb übrig, die in der Luft hin und her schwebte, gleichzeitig angezogen durch den lieblichen Duft einer Jasmine und eines Pandamus. Sage mir, reizendes Weib, die Anzahl der Bienen“. Es handelt sich dabei nicht um einen großen Bienenschwarm. Wenn wir ihn nennen, so ist
oder
oder
Doch diese Beispiele nur nebenbei. Wir müssen jetzt zum Algorithmus des indischen Positionssystems zurückkehren. Daß es eine indische Entdeckung ist, unterliegt heute keinem Zweifel mehr, wenn auch die Zeit der Entstehung des Systems nicht genau bekannt ist. Vor der Zeit des Alchwarizmi aber war es sicherlich schon hoch ausgebildet. Nun beschränkt sich aber, wie schon gesagt, die Bedeutung des Stellenwertsystems durchaus nicht darauf, eine bequeme Zahlenschreibung zu ermöglichen. Das spezifisch „Algorithmische“ daran ist seine Fähigkeit, die Rechnungsoperationen, gleichsam zwangsläufig, in einer bis dahin unerreichten Einfachheit zuzulassen; was sich wieder insbesondere bei der Multiplikation und bei der Division geltend macht. Wir können uns hier nicht ins theoretische Detail verlieren.
Wir merken bloß an, daß das Stellenwertsystem eigentlich nichts anderes ist als eine fallende Potenzreihe der Form
wobei bis an die Koeffizienten und bis die Potenzen der Grundzahl sind. Also beim Zehnersystem bis . Nun werden bloß die Koeffizienten nach dem Grundsatz der Größenfolge geschrieben und die „Stelle“ zeigt an, mit welcher Potenz der Grundzahl der Koeffizient zu multiplizieren ist. In der Zahl 3457 ist die 3 tausendmal so groß als in der Zahl 72.553. Daher kann man für alle Fälle mit 10 Zeichen auskommen, wozu allerdings auch die sogenannte Null gehört, deren Erfindung am spàltesten erfolgte und die im Indischen „das Leere“ (sunga) heißt. Erst diese Null schließt das System, indem sie das Fehlen von Grundzahlenpotenzen, bzw. das Vorhandensein von N ullkoeffizienten anzeigt. Gerade die Null aber ist eine echt indische Entdeckung, ebenso wie die Benennung der Stufenzahlen (10, 100, 1000 usw.) bis mit eigenen Wörtern. Die Null nun wurde, wahrscheinlich in Ägypten, von den Arabern als „as sifr“ bezeichnet, was eine Übersetzung für das indische „das Leere“ ist. Aus diesem Wort aber entsprang wieder die Bezeichnungen chiffre und Ziffer, und Zero für die Null.
Wir sprachen von der algorithmischen Eignung der neuen Positionsarithmetik. Gewiß, auch die Griechen multiplizierten und dividierten. Ebenso die Römer. Sie mußten aber, etwa bei der Multiplikation, die Teilprodukte nach dem distributiven Gesetz wirklich bilden und diese Teilprodukte dann addieren, als ob es sich um Polynome (Mehrgliederausdrücke) gehandelt hätte. Die Zahlen 320 und 47 wurden multipliziert als
Wir haben absichtlich ein simples Beispiel gewählt, das durch die Null am Schluß von 320 noch vereinfacht wird, da dies zwei Teilprodukte erspart. Man stelle sich aber etwa diese Art Multiplikation von 932.581 und 764.822 vor, oder gar noch eine Verbindung mit Brüchen, die ja bloß in der Form gemeiner Brüche existierten. Es wird dadurch verständlich, daß später gesagt wurde, eine etwas größere Multiplikation (von der Division ganz zu schweigen), die heute jeder Volksschüler bewältigt, sei damals eine Aufgabe für erstrangige Mathematiker und Rechenvirtuosen gewesen.
Die Inder dagegen erkannten bald nach der vollständigen Ausbildung des Stellenwertsystems die eben in diesem System liegenden algorithmischen Vorzüge und Möglichkeiten.




Als Beispiel dafür, wie sie die Rechenoperationen anfaßten, geben wir eine ihrer Multiplikationsmethoden, die den Namen „die Blitzartige“ führte. Man schrieb die zu multiplizierenden Zahlen an den Rand eines Quadrates oder Rechtecks, je nachdem, ob die zu multiplizierenden Zahlen gleiche oder ungleiche Stellenanzahl hatten. Wir wählen das Rechteck als den allgemeineren Fall und zwar die Multiplikation von 2976 mit 435. Man bildet nun ohne Rücksicht auf Stellenwert die Teilprodukte , , und und schreibt sie in die erste Kolonne waagrecht an, allerdings stets so, daß die Einer jeweils in das durch die gestrichelten Diagonalen entstandene untere, die Zehner in das jeweils obere Dreieck zu stehen kommen. Höhere Stellenwerte als Zehner können nicht entstehen, da das denkbar höchste derartige Teilprodukt , somit 81 wäre. Es handelt sich, wie man sieht, dabei um das „kleine Einmaleins“. Nun wird die zweite waagrechte Kolonne mit den Produkten , , gefüllt und so fort bis zur vollständigen Füllung des Rechtecks, die bei uns durch , , und entsteht. Damit ist alles geleistet. Denn es bleibt nur mehr die Addition sämtlicher, jeweils zwischen zwei durchlaufenden punktierten Linien stehenden Zahlen übrig, die von rechts nach links vorzunehmen ist.
Also zuerst , dann , dann , dann
und sofort bis und , wobei natürlich überschießende Zehner vorzutragen sind, wie wir das ja auch beim Addieren machen. Das Ergebnis schreibt man an den unteren Rand des Rechtecks.
Uns erscheint diese „Blitzartige“ lange nicht so zauberhaft wie den Alten, die bisher mit distributiven Teilprodukten rechnen mußten. Es sind hier allerdings auch distributive Teilprodukte vorhanden, aber sie verschwinden durch die Stellenwertschreibung völlständig aus dem Bewußtsein des Rechners. Er hat niclfts anderes zu tun, als seine Aufmerksamkeit sklavisch auf die Quadrate und Diagonalen zu richten und dabei Operationen des „kleinen Einmaleins“ auszuführen. Alfles übrige besorgt selbständig und selbsttätig der „Algorithmus“, die Denkmaschine, deren Zahnräderwerk sich unter dem Positionssystem verbirgt: auch gelegentlich der Schlußaddition, wo der Rechner nur sagt „5 + 3 + 8 = 16, bleibt 1“ und die 6 hinschreibt. Ob diese Eins ein Zehner, Hunderter, Tausender usf. ist, wird nicht gefragt, nicht einmal gedacht. Sie wird der nächsthöheren Kolonne als Summand hinzugefügt, und damit Schluß. Ständen dort bloß Nullen, dann wird das, was geblieben ist, einfach hingeschrieben. Aber noch mehr. Nicht einmal der Begriff der nächst „höheren“ Kolonne wird mehr ausgesprochen oder gedacht. Diese Kolonne steht um eine Stelle weiter links und es ist von rechts nach links vorzurücken. Das ist die ganze Regel. Mit allem anderen mögen sich die Zahlentheoretiker beschäftigen, wenn es ihnen Spaß macht. So steht es auch heute noch mit den vier Spezies oder einfachen Grundrechnungsarten. Jeder fast hat sie als Kind erlernt und handhabt sie perfekt, manchmal sogar virtuos. Aber wohl kaum jeder Tausendste versteht wirklich, was er da macht. Die von Leibniz erfundenen Rechenmaschinen sind ja auch nichts anderes als die mechanische Ersetzung des schriftlichen Algorithmus. Und vorgreifend sei bemerkt, daß dieser spezielle Algorithmus der Stellenwertrechnung vier Stufen hat. Erstens die Rechnung nach der Methode im Kopfe, die allerdings nur auserwählten Menschen mit großer Vorstellungskraft gelingt. Zweitens die schriftliche Rechnung. Drittens die Rechenmaschine mit Handbetrieb, wobei gewisse Teiloperationen mit Kurbel oder weiterrücken eines sogenannten Lineals ausgeführt werden. Und viertens endlich die automatische Rechenmaschine, wobei etwa bei der „Mercedes-Euklid“-Maschine bloß noch die Art der Operation und die Zahlen (Multiplikand und Multiplikator usw.) eingestellt werden und die Maschine dann, elektrisch angetrieben, den Algorithmus abschnurrt. Diese Automatik in irgendeiner Form ist der Sinn und letzte Zweck eines Algorithmus überhaupt. Und es ist die höhere oder geringere Tauglichkeit jedes Algorithmus danach zu beurteilen, wie weit er einer Automatik nahekommt. Dabei ist nicht bloß an die Denkökonomie gedacht. Sie spielt auch eine Rolle, jedoch nicht stets die erste. Wichtiger ist es noch, daß der Algorithmus bei zunehmender Komplizierung der Probleme als selbständiges Ordnungs- und Übersichtsprinzip auftritt und daß er, wie schon erwähnt, Abgründe überbrücken kann, in die das Denkvermögen des Menschen einfach nicht mehr hinunterreicht. Wir werden dies später beim Imaginären und bei der Infinitesimalrechnung in der Leibnizschen Schreibweise am Werke sehen.
Unser Zauberteppich beginnt aber alle Grenzen zu überfliegen, wahrscheinlich, weil er in seinem Heimatland sich seiner Zauberfunktion erst so recht bewußt geworden ist. Deshalb wollen wir ihn für einige Zeit verlassen, uns in die Werkstätte Alchwarizmis begeben und zusehen, ob er, jenseits des Rechenunterrichtes im Stellenwertsystem, auch noch andere Disziplinen der Mathematik gepflegt hat. Wir sprachen schon davon, daß sich die Araber mit Algebra befaßten und daß das Wort Algebra geradezu vom Titel eines Werkes des Alchwarizmi stammt. Daher wollen wir jetzt in diesem Werk blättern und zusehen, in welcher Art Alchwarizmi Gleichungen behandelte. Aus dem vorzüglichen Werk Tropfkes entnehmen wir eine dieser Aufgaben, und zwar die Lösung der gemischtquadratischen Gleichung
x2 + 21 = 10x.
Alchwarizmi sagte (wobei er x2 und x mit den später als „census“ und „radix“ übersetzten Worten bezeichnet):
x2 + 21 = 10x bedeutet, daß, wenn du 21 zu dem Quadrat einer Zahl addierst, die Summe gleich dem Zehnfachen dieser Zahl ist. Die Regel hierfür verlangt, daß du die x halbierst, das ist 5. Diese multipliziere mit sich selbst, das ist 25. Hiervon subtrahiere jene 21, die du mit dem Quadrat zusammen nanntest; da bleibt 4.
Hieraus ziehe die Wurzel, das ist 2, und subtrahiere diese 2 von der Hälfte der as, also von 5. Es wird nun 3 bleiben. Dies ist die Wurzel des Quadrates, die du haben wolltest; das Quadrat ist 9. Wenn du willst, addiere auch die 2 zur Hälfte der Wurzeln, das ist 7. Das ist x und das Quadrat x2 ist 49.
Wenn eine Aufgabe dich auf diese Normalform bringt, so prüfe die Richtigkeit der durch Addition erhaltenen Lösung. .Stimmt sie nicht, so ist jeder Zweifel bei der Subtraktion ausgeschlossen. Und nur bei dieser einzigen der drei Normalformen, in denen es sich um Halbierung der x: handelt, darf die Lösung mit Addieren und Subtrahieren vor sich gehen. Beachte ferner, daß, wenn du x: bei diesem Fall halbierst und quadrierst, und es nun eintritt, daß dieses Resultat weniger als das konstante Glied, das mit x2 zu vereinigen war, beträgt, dann eine Lösung unmöglich ist. Wenn es dem konstanten Glied gleich ist, dann ist x gleich der Halfte der x ohne Vermehrung oder Verminderung.“
Wir haben diese Textstelle wörtlich angeführt, nicht bloß, um eine Probe aus der „Aldschebr Walmukabala“ zu geben, sondern um aus ihr die ganze Art und Haltung der arabischen Algebra abzuleiten. Zuerst sehen wir, daß, rein formal, die Tätigkeit der Araber gegen Diophantos ein ausgesprochener Rückschritt ist. Die Ansätze der Symbolschreibung in der synkopierten Algebra Diophants sind wieder einer reinen, ausschließlichen Wortalgebra gewichen. Allerdings ist inhaltlich trotzdem ein Fortschritt in der Richtung eines Algorithmus aufzuweisen.
Denn die Lösungsmethode des Alchwarizmi, die unsrer Formel
entspricht, ist Original und Eigentum des Arabers.
[ ist hier positiv, da in der vorgelegten Gleichung rechts vom Gleichheitszeichen steht, im Gleichungspolynom also eigentlich negativ wäre.]
Er hat ihr auch, nach griechischem Vorbild, geometrische Beweise hinzugefügt. Doch das hat seine rein algebraischen Vorstöße nur wieder zurückgeschlagen. Denn dadurch war er nicht imstande, die zweite negative Lösung anzuerkennen, die in unserm Falle dann eintreten müßte, wenn
größer wäre als .
Es gibt also auch bei Alchwarizmi zwei Lösungen der gemischtquadratischen Gleichung nur dann, wenn beide Lösungen positiv ausfallen, wie im obigen konkreten Beispiel.
Dabei zieht er außerdem die Lösung
der Lösung
vor, da sie ihm irgendwie naturgemäßer erscheint.
Er hat auf keinen Fall die bei den Indern entdeckten negativen Lösungen als Lösungen betrachtet. Für unmöglich erklart er die imaginäre Lösung, falls c größer wäre als
.
Dieses Wort „impossibilis“ (unmöglich) begleitet die imaginären Zahlen mehr als ein weiteres Jahrtausend bis zu Descartes, der es durch das weniger absprechende Wort „imaginär“ ersetzt.
Auf weitere Einzelheiten der arabischen Mathematik einzugehen, liegt für uns kein Anlaß vor, obgleich sie sicherlich sehr interessant sind. Worin also, so fragen wir uns, besteht die Epoche, die durch die Araber heraufgeführt wurde? Ist sie eine Epoche der Forschung, des Unterrichtes oder gar nur eine Übersetzer- und Sammlertätigkeit, die dadurch angeregt wurde, daß die Kalifen zufällig nestorianische Christen als Leibärzte verwendeten und diese Arzte hellenische Bildung besaßen und mitbrachten? Oder ist durch all die Jahrhunderte bis zu den maurischen Hochschulen von Sevilla, Toledo und Granada durch Ost- und Westaraber doch etwas Bleibendes geschaffen worden, das über die Verwaltung des indischen und griechischen Erbes hinausreicht?
Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Um so schwerer, als in der Wissenschaftsgeschichte oft auch die Verwendung und Anpassung überkommenen Wissens in seiner späteren Auswirkung epochale Bedeutung gewinnen kann. Vielleicht ist mancher Ruhm unverdient und die bloße Verewigung von Namen und Ausdrücken ist irreführend. Aber die Tatsache allein, daß wir bis vor kurzem unser Ziffernsystem das „arabische“ nannten, daß Algebra und Algorithmus, Alhidade, Zenit, Nadir, Almukantarat, Ziffer, Zero aus unserm Sprachschatz nicht wegzudenken sind, daß unser Himmel voll von arabisch benannten Sternen steht, wie Alkor, Mizar, Beteigeuze, Rigel, Algol, Aldebaran, Fomalhaut, Toliman, Kochab, Ras-Alhague, Zuben el schemali, um nur einige zu nennen, dürfte doch mehr bedeuten als eine unrechtmäßig usurpierte Autorschaft oder eine bloße Vermittlertätigkeit.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Araber gleichsam im Materialen, rein Inhaltlichen unsrer Wissenschaft vergleichsweise wenig Neues hinzugefügt haben. Sie bereicherten etwa die Geometrie gegenüber den Griechen wesentlicher nur in der Trigonometrie und Astronomie. Dagegen haben sie in formaler Beziehung die Denkmaschine, die in der Arithmetik und Algebra liegt, ziemlich klar erkannt und wenn auch nicht erfunden, so doch zum großen Teil aus den Schranken geometrischer Bevormundung und Übergewichtigkeit erlöst. Entsprechend ihrer kühleren, rationaleren Veranlagung, der gleichsam das Kristallinische näher lag als das Lebendig-Organische, haben sie der Verstandesseite des Erkenntnisapparates gegenüber der Anschauung zu ihrem Recht verholfen. Sie waren begabte, tüchtige und interessierte Mathematiker. Gemäß islamitischer Ausbreitungs- und Bekehrungstendenz entwickelten sie ein umfassendes Schulwesen, das durch ihre Handelstätigkeit noch an Bedeutung gewann. Sie brachen aber zudem noch ihrer Kultur überallhin durch Feuer und Schwert Bahn und versäumten es nicht, den blutigen Eroberungszügen die Mathematik nachfolgen zu lassen. Aber auch sie waren trotz aller praktischen und expansiven Veranlagung keine Ingenieure, das heißt, sie berannten nicht mit dem Werkzeug der Mathematik die Natur, um sie dann, nachdem sie ihr die Geheimnisse entrissen hatten, durch Maschinen in ihren Dienst zu zwingen. Ihrer magischen Veranlagung gemäß, mündete vielmehr ihre Mathematik in Rätsel, kabbalistischen Zauber und astrologisch orientierte Astronomie. Wieder einmal, wie bei den Pythagoreern, wurde die Zahl, ihre Beziehung zur Welt und die Beziehungen der Zahlen untereinander zum Geheimnis und zur Enthüllung. Die Kabbala gewann den magischen Klang, den wir ihr heue noch beilegen. Und in den erleuchtetsten Köpfen der Araber dürfte schon ziemlich klar aufgedämmert sein, daß noch magischer als die Zahl selbst die Denkmaschine des Algorithmus war. Um Mathematik zu lehren und Mathematik zu verbreiten, sind Regeln erforderlich. Regeln aber führen zur Verallgemeinerung. Und Verallgemeinerung setzt eine genaue Kenntnis von Zusammenhängen voraus. Diese Stufenfolge aber führt zwangsläufig dazu, daß die Mathematik an irgendeiner Stelle zum Zauberlehrling wird. Das Werkzeug selbst beginnt plötzlich für uns zu denken und reißt uns in Gebiete vor, die wir bisher nicht einmal ahnten. Und Mathematik wird so recht ein „Sesam, öffne dich“.
Wieder hat uns der Zauberteppich, diesmal bloß unsere Gedanken, in die Zeit vorangetragen. Denn es mußte sich noch viel Äußeres und Inneres, viel Zufälliges und N otwendiges, viel rein Persönliches und Strukturelles ereignen, bis mit der Geburt einer neuen Mathematik sich auch die äußere Umwelt veränderte. Denn gerade um die Zeit, als ein andrer heißer Glaube seine streitbaren Heere in die Welt hinaussandte, zur Zeit, als die Kreuzfahrer, im wilden Überschwang eines werdenden Kulturbewußtseins, siegend oder verschmachtend in arabischen Wüsten kämpften, begannen sich gotische Türme zum Himmel zu recken, verschwammen halbdunkle gotische Gewölbe in der sicheren Vorahnung und Vorschau eines Rinascimento, das, ungleich der eigentlichen Renaissance, die Wiedergeburt des Geistes als ganzen betraf. Wie alle großen Kulturen der kaukasischen Völker war diese Kulturwerdung eine peninsulare. Nach den Halbinseln Kleinasien, Griechenland und Rom trat die „Halbinsel Europa“ ihre Sendung an.
Alles lag bereit, alle Keime waren noch voll Leben, wenn auch die Pflanzer dieser Keime gestorben und verdorben waren oder eben ihren letzten Kampf ausfochten. Alles lag bereit. Der gotisch-faustische Geist konnte sein Werk beginnen. Denn ein Völkermorgen dämmerte und die frische, unverbrauchte Kraft vieler Nationen dürstete spannkräftig nach einer Betätigung, deren ideelle Vorwegnahme die Kreuzzüge und gotischen Dome waren. Von der Hand des Magiers Klingsor hatte der Gralsritter die Wunde empfangen, die nie sich schließen wollte. Der magische Geist begann den faustischen mit der Wunde ewiger Aufwärtssehnsucht zu erfüllen.


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