Benutzer:Bilanzgrenzer/Von Pythagoras bis Hilbert Teil 3

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Von Pythagoras bis Hilbert (Teil 3) (als Scan auf Commons)


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Siebentes Kapitel
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LEONARDO VON PISA
Mathematik als Anbruch
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Zwischen weltbewegenden Plänen, zwischen Schlachten und Kreuzzügen, zwischen Bann und Achtung hält der tragischeste aller Staufenkaiser, Friedrich II., Hof zu Palermo. Es geht festlich zu, es wird getuschelt, geraunt, als ob ein großes Ereignis bevorstände. Ist es ein großes Ereignis? Man weiß es nicht. Weiß nur, daß der Kaiser es dafür hält. Denn der Wettkampf, der sich abspielen soll, ist nicht etwa ein Sängerkrieg, ist keine ritterliche Übung, kein Erzählen von Heldensagen oder Heldentaten, sondern der Kampf geht - bis zur Auflösung kubischer Gleichungen. Magister Johannes von Palermo wird einem vornehmen Fremden die Aufgaben stellen und der Fremde wird sie wahrscheinlich bis zum Grunde durchleuchten. Denn der Fremde heißt Leonardo von Pisa und ist der größte Algorithmiker der bekannten Welt. Obgleich sein Hauptwerk die Flagge des Feindes führt: denn es hat den Titel „Buch des Abacus“ (liber abaci).
Kein Zweifel, wir leben auch auf sizilianischem Boden noch im Märchen. Diese Kaiserlaune führt zurück zu den Hofgesprachen der Tyrannen von Syrakus, zurück zu den Ptolemäern, erinnert an den indischen König, der dem Erfinder des Schachspieles die berühmte Aufgabe mit den Weizenkörnern stellte, gemahnt an die Sitten am Hof der großen Abassiden Almansur, Harun al Raschid und Almamun. Wir ahnen also, woher Friedrich II. die Anregung für seine etwas außergewöhnliche Handlungsweise empfing. Wer aber ist Leonardo von Pisa? Was ist inzwischen auf abendlandischem Boden für die Mathematik geschehen? Denn daß viele Jahrhunderte so ganz ohne Mathematik ausgekommen sein sollten, ist zumindest unwahrscheinlich.
Bevor wir uns also dem Inhalt des Wettkampfes von Palermo zuwenden, obliegt es uns, die äußerlichen Stationen des Weges zu verfolgen, der zum Wiedererwachen der eigentlichen Mathematik führte. Wir haben schon manches angedeutet. Wir wollen es jetzt näher ausführen, obgleich wir damit irgendwie unsere Aufgabe überschreiten. Denn es handelt sich dabei gleichsam um das Gegenteil einer Epoche, handelt sich um den tiefsten Niedergang, den die Mathematik seit Pythagoras erlebte.
Daß die alten Römer als Mathematiker selbständig so gut wie nichts leisteten, haben wir dadurch gekennzeichnet, daß wir sie mit vollständigem Stillschweigen übergingen. Es waren aber gerade die Römer, deren machtpolitisches Erbe die europäischen Völker antraten. Und sie hinterließen, wie Zeuthen bemerkt, ihren Erben weniger als die alten Ägypter den Hellenen. Eine Mathematik des Boëtius, eines christlichen vornehmen Römers, der 480~524 nach Christi Geburt lebte und aus politischen Gründen durch König Theoderich hingerichtet wurde, war das Um und Auf des frühen Mittelalters. Sie ist eine Bearbeitung des Nikomachos (zweites nachchristliches Jahrhundert) und konnte die Mathematik durchaus nicht fördern, insbesondere, da man sehr vieles überdies vollkommen mißverstand. So etwa hielt man die figurierten Zahlen (Dreiecks-, Pyramidenzahlen usw.), die im Grunde nichts als Folgen oder Reihen waren, für Flächen- und Rauminhalte der betreffenden Figuren und Körper. Was man über Boëtius hinaus empfangen hatte, waren praktische Rechenbehelfe römischer Agrimensoren (Feldmesser), die zudem noch zum Teil falsch abgeschrieben waren und eine Befruchtung der Wissenschaft durchaus nicht ermöglichten. Das große Erbe des alten Griechentums aber lag an zwei politisch und räumlich voneinander getrennten Stellen, die es in sehr verschiedener Weise verwalteten: in Byzanz und in Bagdad.
Während die Byzantiner fast alle mathematischen Bücher der alten Griechen besaßen und aufbewahrten, fiel es ihnen nur sehr bedingt ein, diese Werke wirklich zu studieren, geschweige denn, auf ihnen weiterzubauen. Sie ließen die Schätze liegen, das Verständnis für Mathematik nahm von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr ab und ihre Mathematiker verloren sich in Spielereien, wenn sie nicht sogar unbegreiflichen Rückschritt predigten; wie etwa die Behauptung, daß die Kreiszahl az unterhalb von 3 liege.
Ganz anders die Araber. Wir wissen von ihnen bereits, daß sie mit dem Hunger eines jungen Volkes das griechische Wissen suchten, es in mancher Art erleichterten und mit indischer Weisheit verbanden. Epochale Fortschritte machten arabische Gelehrte späterer Zeit. So erweiterte im zehnten nachchristlichen Jahrhundert der Arithmetiker Alkarchi die diophantische Notation und wagte den umstürzlerischen Schritt, auch irrationale Größen als Zahlen aufzufassen. In derselben, wir möchten fast sagen, modernen Linie bewegt sich im zwölften Jahrhundert Alchaijami weiter. Ihm wird zum ersten Male die Trennung der arithmetischen und der geometrischen Auffassung von Gleichungen ganz klar bewußt. Er durchschaut es auch, daß aus Dimensionsgründen die direkte geometrische Darstellung des Irrationalen bis zur dritten Potenz möglich ist, während höhere Irrationalitäten nur durch zusammengesetzte Verhältnisse ausdrückbar sind. Im gleichen Jahrhundert aber wirkt in „Westarabien“, d. h. auf spanischem Boden, in Sevilla der große Dschabir ibn Aflah, genannt Geber, der die sphärische Trigonometrie mächtig fördert und hierbei einen kongenialen Geist in Abul Wafa findet, der in seinen trigonometrischen Tafeln (Tangententafeln) weit über Ptolemäus hinausgeht, indem er wirkliche Winkelfunktionen von 10 zu 10 Minuten mit einem Fehler von weniger als ; schafft. Bei dieser Sachlage war es nur eine Frage des Interesses und nicht der Möglichkeit, die Mathematik auf abendländischem Boden wieder zum Leben zu erwecken. Denn ihre bisherigen Leistungen lagen, wie schon ausgeführt, in Byzanz gleichsam als Mumien und bei den Arabern als fortgebildete Wissenschaft bereit. Wenn aber auch der große Scotus Erigena nach einer tieferen Beschäftigung mit Mathematik rief, so tönten solche Worte gleichsam noch an die Ohren von Kindern. Und insbesondere das zauberhaft Magische, das über der Mathematik der Araber lag, mag eine nähere Erforschung der mathematischen Geheimnisse ebensosehr gefördert als auch gehemmt haben.
Schließlich gab die äußere Berührung der Völker den Ausschlag. Die Araber, Mauren, oder wie man sie immer nennen will, waren in Spanien, Sizilien und an anderen Stellen in das Abendland rein physisch eingedrungen. Ihre hohen Schulen pflegten die Mathematik in Toledo, Sevilla, Cordoba. Und zwei Gegenbewegungen des Abendlandes brachten neuerliche Berührung und Durchdringung. Nämlich der Orienthandel der drei mächtigen italienischen Republiken Venedig, Genua und Pisa und die Kreuzzüge.
An diesem historischen Schnittpunkt ereignete es sich, daß der Pisaner Leonardo, genannt Sohn des Bonacci (des „Gutchens“), oder zusammengezogen Leonardo Fibonacci, durch den Beruf des Vaters, der eine Art Konsularbeamter war, viel in der Mittelmeerwelt herumkam und schon als Jüngling ein Schüler der Araber wurde. Als er zudem noch, gleich einem Pythagoras, durch Reisen, die ihn nach Ägypten, Sizilien, Syrien, Griechenland und in die Provence führten, seinen Gesichtskreis mächtig erweitert hatte, war er befähigt, gleichsam das Sinnbild des Wiedererwachens der Mathematik in der abendländischen Kultur zu werden. Dies ganz unabhängig davon, ob er selbst schon zu epochaler Weiterbildung der Mathematik vordrang.
Bevor wir jedoch diese Frage erörtern, obliegt es uns, den Kampf der Abazisten und Algorithmiker zu erwähnen, der die Beschäftigung mit Mathematik auf unserem Kulturboden einleitete. Es handelte sich bei diesem Kampf oder Meinungsstreit um zwei Systeme des Rechnens, um das Rechnen „auf den Linien“ und „auf der Feder“, wie man später sagte. In den Extremfällen ist der Abakus, die „Linie“ oder das Rechenbrett, das sich auch bei uns noch in der „Rechenmaschine“ erhalten hat, mit der die Kinder ihren ersten Unterricht erhalten, indem sie Kügelchen auf Drähten verschieben - im Extremfall also ist der Abakus eine Tafel, auf der die sKolumnen für die Zehnerpotenzen durch Linien abgeteilt sind. Eine Null wird hierbei nicht verwendet, sondern die Kolumne leer gelassen, wenn sie, wie etwa bei 750 und 3009 an einer oder mehreren Stellen nicht besetzt ist. Gerechnet aber wird mit Marken. Ursprünglich wurden so viele Marken in die betreffende Kolumne gelegt, als der Koeffizient der Zehnerpotenz ausmachte. Also in obigen Fällen 7 für die Hunderter, 5 für die Zehner und keine für die Einer, oder bei 3009 wieder 3 für die Tausender und 9 für die Einer bei Leerbleiben der Zehner- und der Hunderterkolumne. Da diese primitivste Art des Abakusrechnens, insbesondere bei der Addition vieler Zahlen, sehr unübersichtlich wurde, begann man als Vereinfachung wertverschiedene Marken einzuführen, die mit einer der Zahlen von 1 bis 9 beschriftet waren. Dadurch näherte sich der Abakus schon ein wenig dem Algorithmus, was auf der dritten Stufe, in der man Ziffern in die Kolumnen schrieb, also die Marken ganz abschaffte, noch deutlicher wurde. Wir wollen uns aber auch hier nicht in Einzelheiten verlieren, sondern feststellen, daß beide Schulen, die Abazisten und die Algorithmiker, gute Köpfe zu ihren Vertretern zählten. Ein großer Abazist etwa war Gerbert, der spätere Papst Sylvester II.
Gesiegt haben die Algorithmiker. Der Widerstreit der beiden „Parteien“ (wie man fast sagen könnte), die jede für sich neben der Hauptdoktrin noch ein weiteres „Parteiprogramm“ hatten, das sich auf Wurzelziehen und anderes erstreckte, brachte sehr viel Rechnerisches zur Diskussion und bereitete eine formale Gelenkigkeit der abendländischen Mathematiker vor, die nicht mehr verschwand. Eine der Haltung des Griechentums ähnliche Verachtung des Arithmetischen gab es im Mittelalter von vornherein nicht, da gleich zu Anbeginn des Forschens nach spätarabischem Muster Arithmetik und Geometrie gleichberechtigt auftraten. Diese Behauptung wird dadurch nicht widerlegt, daß der Arithmetik sogar eine gewisse logische Priorität zuerkannt wurde.
Wir warfen nun oben die Frage auf, ob Leonardo von Pisa den großen bahnbrechenden Mathematikern zuzuzählen ist. Hat er neue Kategorien des mathematischen Denkens und Forschens entdeckt? Diese Frage müssen wir verneinen. Er war aber gleichwohl persönlich ein außerordentlich begabter, vielleicht sogar ein großer Mathematiker, in dessen Werk an einzelnen Stellen neue Erkenntnis aufblitzt, so etwa, wenn er die negative Lösung einer Gleichung als Lösung gelten läßt und dazu bemerkt, die Lösung wäre als „Vermögen“ betrachtet sinnlos, als Ausdruck von „Schulden“ hätte sie jedoch einen guten Sinn.
Wir sind auch erstaunt, zu hören, daß bei jenem „Wettkampf“ in Palermo der Magister Johannes ihm die kubische Gleichung
vorgelegt haben soll, deren Lösung Leonardo näherungsweise als
angibt, allerdings ohne zu verraten, wie er zu diesem Werte kam.
Dabei bedeuten
die Eins als Ganze,
den Bruch ,
den Bruch usf. in Sexagesimalbrüchen.
Die neuesten und genauesten Nachprüfungen dieser Lösung haben ergeben, daß der Näherungswert des Leonardo nur um größer ist als der nach heutigen Methoden gewonnene. Daß Leonardo weiters gelegentlich der Behandlung seiner „Kaninchenaufgabe“ die erste rekurrente Reihe in der Geschichte der Mathematik bildet, soll auch nur angedeutet werden. Es wird dabei nämlich gefragt, wieviel Paare von Kaninchen im Laufe eines Jahres unter der Voraussetzung entstehen, daß jedes Paar allmonatlich ein neues Paar zeugt, das selbst vom zweiten Monat an zeugungsfähig wird. Todesfälle sollen sich nicht ereignen. Es ist also am Schluß des ersten Monats das erste und das von ihm erzeugte Paar vorhanden, am Schluß des zweiten Monats ist ein drittes Paar hinzugekommen. Am Ende des dritten Monats aber sind außer den bereits erwähnten Kaninchen noch zwei weitere Paare vorhanden, da jetzt auch das zweite Paar bereits zeugungsfahig ist usf.
Daraus ergibt sich für ein Jahr die Folge
1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, 233, 377,
bei der jede folgende Zahl nach dem Gesetz
gebildet wird.
Also wäre etwa das Glied 5 als zu bilden aus der Summe von und , also aus . Oder 21 als siebentes Glied aus usw.
Wenn nun auch Leonardo von Pisa neben diesen angeführten Aufgaben noch weit verwickeltere löste, wenn er sich auch als Meister der bestimmten und unbestimmten Gleichungen, des einfachen und doppelten falschen Ansatzes, der Ausziehung von Wurzeln und zahlreicher anderer arithmetischer und geometrischer Kenntnisse bewies, so ist es doch in erster Linie seine historische Stellung, die uns bewegt, ihn als Epoche zu betrachten. Er ist gleichsam der erste vollwertige Mathematiker der neueren Zeit, ist das erste Beispiel einer Widerspiegelung des vor ihm Geleisteten in der anders strukturierten Seele des spätmittelalterlichen Abendlandes.
Er ist repräsentativ für alle diese Völker, wenn er sich auch in seinem Werke an die „lateinischen Völker“ wendet und ihnen die verschüttete Kunst der Mathematik wiederbringen will.



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Achtes Kapitel
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NICOLE VON ORESME
Mathematik und Natur
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Bevor wir weiterschreiten, ist eine grundlegende Bemerkung notwendig, die für das ganze Mittelalter und fur den Beginn der Neuzeit gilt. Der Niederschlag der Tatsache, von der wir sprechen wollen, findet sich fast in allen Geschichtswerken der Mathematik, und auch eine Epochengeschichte kann nicht stillschweigend über das Neue hinweggehen, das konstellationsmäßig in die abendländische Welt gekommen ist.
Wir haben gesehen, daß die hellenische Mathematik, gleich ihrer Schutzgöttin Pallas Athene, voll gewappnet aus dem Haupte des Zeus sprang und sich weiterhin, als eine gehütete Kunst, fast vollständig rein hielt. Dadurch wurde sie stark und groß, dadurch aber verlor sie den Zusammenhang mit dem Leben, erstarrte und ging unter. Dadurch aber auch ward sie völlig individualistisch und ihr Wesen knüpfte sich eindeutig an die Namen der Bahnbrecher, die ihr priesterlich dienten.
Wir werden auch in der Neuzeit ahnliche Erscheinungen, gleichsam ein klassisches Zeitalter der Mathematik, beobachten können.. Es bleiben aber doch wesentliche Unterschiede zwischen einer Entwicklung, die aus dem Nichts eine Wissenschaft aufbaut, und einer Weiterentwicklung, die auf einem schon einmal aufgetürmten Kosmos fußt und diesen nur einer vollständig andersgearteten Seele anpaßt.
Es ist natürlich zuzugeben, daß sich rein gestaltmäßig viel von dem wiederholte, was sich bereits auf dem Boden des klassischen Altertums abgespielt hatte. Es wiederholte sich aber zum Teil unter dem direkten Einfluß dieser vorhergegangenen Entwicklung. Und dann war es auch von vornherein anders bedingt. Vier große Kulturkreise, Italiener, Deutsche, Franzosen, Engländer, arbeiteten unter sehr verschiedenen inneren und äußeren Antrieben und Bedingungen an der Neugestaltung unserer Wissenschaft, und über allem stand verbindend zuerst der Einfluß der römischen Kirche, dann aber trennend die Antithese zwischen katholischem und protestantischem Denken, wenn man vorläufig vom Einfluß der Philosophie noch absieht, der sich später mächtig geltend machte. Dazu aber kam außerdem noch ein sehr intensives Schulwesen, das von der religiösen und sozialen Struktur beeinflußt war.
Wir wollen mit all dem andeuten, daß wir unsere weitere Darstellung zunehmend mehr auf die Epochen als auf deren Baumeister abstellen müssen. Denn es waren oft nicht die größten Mathematiker, die das Neue brachten. Insbesondere nicht in der „Vorbereitungszeit“, die etwa bis zum Auftreten des Descartes währte.
Diese Verwahrung muß eingelegt werden, damit im Leser kein schiefes Bild der Entwicklung entsteht. Und es muß verhütet werden, daß man sich wundert, Namen besten Klanges, wie etwa die eines Regiomontanus oder Peuerbach, nur nebenbei erwähnt zu finden, während weit weniger universelle Mathematiker zu Sinnbildern von Epochen gestempelt werden. Sie sind aber, bis auf Descartes, weniger als Repräsentanten denn als Beispiele und Streiflichter aufzufassen. Denn von unserem momentanen Standort bis zu Cartesius arbeiteten gleichsam nicht einzelne, sondern es schuf eine ganze Zeit. Und die Mathematik entwuchs einer Reihe von Triebkräften, die bei den wichtigsten Völkern mit verschiedenem Anteil mitwirkten.
Es ist also schon hier am Platze, die Kräfte zu untersuchen, die als Paten die neue Zeit begleiteten und antrieben. Auf italienischem Boden war es, wie wir schon bei Leonardo von Pisa sahen, das Handelswesen, das in doppelter Weise auf die Mathematik wirkte. Es war ja nicht nur durch seine rein äußerliche Beweglichkeit, durch den Reiseverkehr und durch die Völkerberührung ein Anlaß und eine Unterstützung für mathematische Bemühungen gewesen; sondern es stellte darüber hinaus in seiner eigensten Sphäre Problem über Problem. Buchführung, Münzumrechnung, Zinsenrechnung, Geographie und Astronomie waren ohne arithmetische Kenntnisse kaum zu bewältigen, insbesondere dann nicht, wenn man guten Rechnern, wie den Arabern, gegenüberstand und die Probleme an sich selbst stets verwickelter wurden.
Der äußerlichsten Triebkraft des Handels aber stellte sich bald als zweite die innerlichste tiefster Philosophie an die Seite, die nicht zuletzt aus religiösen Gedankenkreisen gespeist wurde.- »Durch die Gründung der Universitäten von Oxford, Paris und Bologna, die zur Zeit Leonardos von Pisa schon in hohem Ansehen standen, war eine neue Geisteskultur erwacht, die später von den Humanisten, halb herabsetzend, die Scholastik genannt wurde. Wir werden aber gleich zeigen, daß eben aus diesen philosophischen Bereichen vielleicht die entscheidendsten Einflüsse für den Weiterbau der Mathematik entspringen. Und es wird sich herausstellen, daß die Naturwissenschaft, die sich über kurz oder lang geradezu als Antipodin der Scholastik fühlte, ihre mächtigste Waffe halb unbewußt durch die Scholastik empfing.
Es handelt sich dabei um die ganze Problemgruppe, die wir schon bei Archimedes angetroffen haben. Um die Begriffe der Stetigkeit, der Unendlichkeit und um einen neuen Begriff, der erst auf „faustischem“ Boden wuchs, um den Begriff der Funktion.
Wir kehren also in die Zeit des Leonardo von Pisa, in den Beginn des dreizehnten nachchristlichen Jahrhunderts, zurück. Noch zu Lebzeiten erwuchs dem Pisaner in J rdanus Nemorarius, einem Deutschen, ein mächtiger N ebenbuhler. Jordanus war Dominikaner. Auf Einzelheiten seines umfassenden mathematischen Werkes, das nach allen Seiten großen Einfluß übte, wollen wir nicht eingehen. Wir wollen bloß einige Einleitungssätze seiner Schrift über die Dreiecke (de triangulis) unter die Lupe nehmen, die uns in verblüffender Art zeigen, wie weit sich schon der „faustische“ Geist von seinen arabischen und griechischen Vorbildern entfernt und selbständig gemacht hatte. Wir lesen dort Definitionen, von denen wir glauben würden, sie stammten aus dem neunzehnten Jahrhundert und seien Untersuchungen von Dedekind oder Bolzano. So definiert J ordanus folgendermaßen: „Stetigkeit ist Nichtunterscheidbarkeit von Grenzstellen, verbunden mit der Möglichkeit, abzugrenzen.“ „Der Punkt ist die Festlegung der einfachen Stetigkeit.“ „Ein Winkel entsteht durch das Zusammentreffen zweier stetiger Gebilde an einem Endpunkt ihrer Stetigkeit.“
Was man auch immer einwenden mag, sind derartige Definitionen zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts einigermaßen verblüffend, da sie zeigen, wie sehr sich schon der infinitesimale Gedanke mit all seinen Gegengesetzlichkeiten und Schwierigkeiten bei den Scholastikern vorbereitete. Und ein solcher war J ordanus. Er soll ja an der Pariser Universität gelehrt haben.
Unsere Verwunderung wird nicht geringer, wenn wir einem Franziskaner lauschen, der nur wenige Jahrzehnte später in England (in Oxford) wirkte. Wir meinen damit Thomas de Bradwardina (Bredwardin), dessen Name gewöhnlich Bradwardinus lautet und der in der Reihe der mächtigsten Doktoren als „Doctor profundus“ erscheint. Wir erinnern uns bei diesen großen Doktoren fast an die sieben Weisen Griechenlands. Und wollen daher einige anführen, die mehr oder weniger zu unserer Erörterung in Beziehung stehen. So hieß Roger Baco „Doctor mirabilis“, Thomas von Aquino „Doctor angelicus oder universalis“, Duns Scotus „Doctor subtilis“, Raimundus Lullus „Doctor illuminatus“, Wilhelm von Occam „Doctor invincibilis“ oder „singularis“.
Unser „tiefgründiger“ Doktor Bradwardinus also, der als Erzbischof von Canterbury im Jahre 1349 an der Pest starb, verfaßte unter anderem ein Werk über die Stetigkeit, einen „tractatus de continuo“, in dem zahlreiche Sätze stehen, von denen man glauben könnte, sie seien der allermodernsten Mengenlehre entnommen. So scheidet er das Stetige in das beharrende Stetige (continuum permanens), das sich etwa in Linien, Flächen und Körpern manifestiert, während das fortschreitend Stetige (continuum successivum) durch Zeit oder Bewegung verwirklicht wird. Wir finden weiters Sätze wie: „Indivisibile est, quod nunquam dividi potest. Punctus est indivisibile situatum.“ Also etwa: „Das Unteilbare ist das, was niemals geteilt werden kann. Der Punkt ist das lagemäßig fixierte Unteilbare.“ Weiters: „Das Unteilbare der Zeit aber ist der Augenblick.“ „Die Bewegung ist das aufeinanderfolgende Stetige, das in der Zeit gemessen wird.“ Nun untersucht der „Doctor profundus“ das Problem des Anfangs und des Aufhörens. Dadurch kommt er naturnotwendig zu Unendlichkeitsüberlegungen, die in einer unglaubwürdig scharfsinnigen Antithese ihre Krönung finden. Er unterscheidet nämlich zwischen kathetischer und synkathetischer Unendlichkeit. Kathetisch oder einfach unendlich ist eine Größe, die kein Ende hat. Synkathetisch dagegen ist das Unendliche dann, wenn es zu jedem Endlichen stets ein größeres Endliches gibt, ohne daß dieses Wachsen je aufhört. In der neuesten Zeit hat man für diesen Unterschied die Ausdrücke „transfinit“ und „infinit“ geprägt, insbesondere in der Mengenlehre, in der die Mächtigkeiten unendlicher Mengen kurz transfinite Kardinalzahlen heißen. Nun erklärt Bradwardinus weiter, daß das Stetige sich nicht aus einer endlichen Anzahl von unteilbaren Größen, ebensowenig aber aus einer unendlichen Anzahl von Unteilbaren zusammensetzen könne. Es enthalte bloß unendlich viele Unteilbare in sich. Jedes Stetige sei zusammengesetzt aus einer unendlichen Anzahl von stetigen Elementen derselben Art und habe unendlich viele arteigene Atome. Also bestehe etwa eine Strecke aus unendlich vielen Strecken, eine Fläche aus unendlich vielen Flächen, ein Körper aus unendlich vielen Körpern. In der gleichen unteilbaren Lage aber könnten nicht mehrere Unteilbare ihren Ort besitzen (Punkte in Punkten), was nichts anderes bedeutet als eine mathematisch-philosophische Formulierung des Gesetzes der Undurchdringlichkeit.
Jeder Mathematiker wird zugeben müssen, daß diese Erörterungen, die an Zeno und Aristoteles erinnern, vielleicht sogar an diese hellenischen Philosophen anknüpfen, durchaus nicht scholastischer Unfug sind, wie es denkfaule Empiristen stets gerne wahrhaben wollen. Denn selbst ein praktischer Ingenieur kommt manchmal über eine genaue Festlegung infinitesimaler Paradoxien und Gültigkeiten nicht hinweg, wenn er nicht Gefahr laufen will, daß ihm irgendwo einmal eine Hängebrücke aus Nichtbeachtung „scholastischer Tüfteleien“ einstürzt.
Es ist überhaupt ein tragisches Gesetz der Wissenschaftsgeschichte, daß man „die Spione gern benutzt, sie jedoch verachtet“. Wozu dieser ewige Rivalitätsstreit um den Vorrang des Deduktiven und des Induktiven? Gerade die folgende Zeit wird uns zeigen, daß beide Zonen erst zusammen die ungeheure Fortschrittskurve ermöglichten, auf der sich der „faustische“ Geist der europäischen Völker in den nächsten Jahrhunderten aufwärtsbewegte, bis er der Welt tatsächlich in bisher noch nie geahntem Ausmaß auch rein äußerlich sein Antlitz aufprägen konnte.
Wir haben also zu zeigen versucht, daß Handel und Philosophie die neuabendländische Mathematik vorwärtstrieben. Aus der Seele der christlichen Völker aber stieg noch ein uraltes, vielleicht aus Indien überkommenes Erbe mächtig empor. Es war die tiefe Sehnsucht, die Natur zu erkennen, gepaart mit dem vielleicht erst jetzt entstandenen trotzigen Willen, diese Natur zu meistern und zu bezwingen.
Es ist allbekannt, daß Aristoteles, als „der Philosoph“ schlechtweg, das Denken aller dieser Jahrhunderte, von denen wir sprachen, nicht bloß beeinflußte, sondern gleichsam überschattete. Dieser Einfluß des Stagiriten blieb jedoch nicht allein auf Logik und Philosophie beschränkt. Er griff auch auf viele andere Gebiete über, nicht zuletzt auf das Gebiet der Naturwissenschaften. Nun deuteten wir schon an, daß in der damaligen Welt leidenschaftliche Sehnsucht nach vertiefter Naturerkenntnis erwacht war, die auch durch die folgenden Jahrhunderte nicht mehr versiegen sollte. Es war also nur natürlich, daß man zur Befriedigung dieser Sehnsucht dort Aufklärung suchte, wo man größte und endgültigste Autorität vermutete. Und dies war eben bei Aristoteles der Fall. Wir können nur andeuten, daß hierbei der Formbegriff, die „forma“, eine ungeheure Rolle spielte, daß eine lebhafte Diskussion über das Wesen dieses Begriffes zwischen Franziskanern und Dominikanern ausbrach, deren größte Exponenten wieder Duns Scotus und Thomas von Aquino waren. Aus all diesen tiefgründigen Untersuchungen löste sich zum Schluß eine Bedeutung der „forma“ für die N aturbetrachtung ab, die wir etwa als „meßbare Naturerscheinung“ übersetzen könnten. Wie aber sollte man nun den Grad, die „intensio“, dieser Formen darstellen? Darauf gab ein neuer Lehrgegenstand der Universitäten Antwort, der von den „Langen und Breiten der Formen“ handelt und den wir zu Ende des vierzehnten nachchristlichen Jahrhunderts bereits in den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten von Köln und Wien als Pflichtgegenstand zur Erlangung des Bakkalaureats finden.
Wieder würde es uns viel zu weit führen, zu prüfen, ob damit bloß das Anknüpfen an eine ältere Tradition oder schon eine Auswirkung der Lehren des Nicole von Oresme gegeben ist. Dessen Lebenszeit währte etwa von 1323 bis 1382 und er war zuerst Schüler, dann Lehrer, schließlich Vorsteher am College de N avarre in Paris. Gestorben ist er als Bischof von Lisieux. Sein Werk aber führt den Titel „Tractatus de latitudinibus formarum“ (Traktat über die „Breite“ der „Formen“) und erregt unser Interesse im allerhöchsten Maß. Ganz abgesehen davon, daß dieses Interesse auch bei den Zeitgenossen bestand, unter denen das Werk zuerst handschriftlich und nach Erfindung der Buchdruckerkunst in vier rasch aufeinanderfolgenden Ausgaben verbreitet wurde. Es handelt sich bei diesen „Breiten“ nämlich um nichts weniger als um die ersten allgemeinen Koordinaten.
Gehen wir wieder zu unseren „Formen“ zurück. Eine solche Form wäre etwa die Wärme, und die Veränderung dieser Form erfolgt in der Zeit. Wie soll nun die Art dieser Veränderung, der „Grad der Breite“, wie Oresme es nennt, dargestellt und näher untersucht werden? Was für ein allgemeines Bild liefert schließlich diese weiterschreitende Veränderung? Uns Heutigen erscheint die Beantwortung dieser Frage einfach und selbstverständlich, da wir, etwa wie bei einer Fieberkurve, die Zeiteinheiten auf eine horizontale Linie in gleiehen Abständen auftragen würden, während wir die zur jeweiligen Zeiteinheit gehörigen Temperaturen als zu dieser horizontalen Linie senkrechte Größen darstellen müßten. Wir würden aber nun weiters annehmen, daß sich der Ablauf der ganzen Erscheinung womöglich „stetig“ vollzieht und würden als Ausdruck dieser Fiktion die Endpunkte der „Ordinaten“, also die Temperaturhöhen, miteinander durch eine Kurve verbinden.
In diesem Vorgehen liegt zweierlei. Vor allem eine graphische Darstellung des Verlaufes einer größenmaßig faßbaren Erscheinung. Weiters aber auch die Feststellung einer Abhangigkeit, eines Zusammenhanges zwischen Zeit und gemessener Größe. Wenn sich drittens noch etwa herausstellt, daß zwischen Messungszeit und Meßresultat nicht bloß der formale Zusammenhang besteht, daß eben diese und jene Temperatur zu dieser und jener Zeiteinheit gehört, sondern wenn erforscht werden kann, daß die Bewegung der Temperatur gesetzmäßig von der Messungszeit abhängt, indem etwa deutliche Tageskurven des Fiebers oder ein Verlauf über die ganze Krankheit hinweg zu konstatieren sind, dann liegt bereits das vor, was wir im eigentlichsten Sinne als Funktion bezeichnen. Eine unabhangig oder willkürlich gewählte Größe, wie etwa die Zeit, steht in einem Zusammenhang mit einer zweiten, von ihr durchaus und eindeutig abhängigen Größe, der Temperatur. Dadurch aber wird die „Kurve“ weit mehr als eine graphische Verlaufsdarstellung, sie wird geradezu zum Ausdruck eines Gesetzes. Und es bleibt, mathematisch gesprochen, nur mehr ein Schritt, dieses Gesetz wirklich zu fassen. Indem man nämlich den Verlauf der Kurve durch einen rechnerischen Ausdruck fixiert und bannt.
Wir wollen nun untersuchen, wie weit Nicole von Oresme in diese Gedankengange vordrang, da es ja eine auch heute noch verbreitete Mär ist, daß Descartes gleichsam aus dem Nichts den Koordinatenbegriff geschaffen hatte. Die historische Forschung des neunzehnten Jahrhunderts hat diese Mar widerlegt, ohne daß dadurch das Verdienst des Cartesius wesentlich geschmälert wurde.
Nicole von Oresme also hat in dem bereits erwähnten Traktat auseinandergesetzt, „daß das Ausmaß der Erscheinungen (latitudines formarum) vielfachem Wechsel unterworfen sei und daß solche Vielfältigkeit nur schwer unterschieden werden könne, wenn ihre Betrachtung nicht auf die Betrachtung von geometrischen Figuren zurückgeführt werde.“ Diese Ankündigung Oresmes ist im Zusammenhang mit unseren obigen Ausführungen geradezu verblüffend. Enthält sie doch nicht weniger als das Versprechen einer graphischen Darstellung der meßbaren Naturerscheinungen. Nun kann man die beiden Umstände, die unsere Erscheinung erzeugen, teils als „Länge“ (longitudo), teils als „Breite“ (latitudo) ansehen. Die Länge ist eine horizontale Linie, die unsrer Abszisse entspricht, während die Breite die jeweilige Ordinate ist. Der Unterschied aufeinanderfolgender Ordinaten heißt „Grad der Breite“.
Daß Oresme sehr tief in seinen Gegenstand eingedrungen ist, ersieht man aus der weiteren Einteilung seiner Erkenntnisse. Es gibt bei ihm eine „Breitelosigkeit“ und eine „bestimmte Breite“, je nachdem an der betreffenden Stelle die Ordinate Null ist oder einen bestimmten Wert hat. Es gibt weiters eine ganze Terminologie für die Arten der Veränderung, für die Einförmigkeit der Erscheinung, für das Gleichbleiben oder die Veränderung der Veränderlichkeit. Sein „excessus graduum“ ist bereits ein Veränderlichkeitsmaß. Ändert sich der „excessus“, dann liegen die Ordinaten-Endpunkte nicht mehr auf einer Geraden, sondern auf einer Kurve. Für eine solche Veränderung der Veränderlichkeit gibt Oresme sogar ein Zahlenbeispiel, indem sich die „Breiten“ ändern, wie 0, 1, 2, 4, 7, ll, 16 usf. Dabei ist allerdings die Null nicht zutreffend.
Wenn wir noch beifügen, daß Oresme unter „Figura“ das Resultat versteht, das sich ergibt, wenn man die Länge (den Abszissenabschnitt), die beiden Endordinaten des Bereiches und das zwischen ihnen liegende Stück der Kurve zu einem Gebilde vereinigt, haben wir einen guten Begriff von diesen Anfängen einer echten Koordinatengeometrie.
Oresme ist aber, wenigstens als Ahnender, noch tiefer in die Geheimnisse gedrungen, die sich durch die neue Methode plötzlich zu erschließen begannen. Wäre nämlich etwa die „Figur“ ein über der „Länge“ stehender Halbkreis, dann fällt es auf, daß die „Breiten“ an den Punkten, wo der Halbkreis anzusteigen beginnt, bzw. zur „Länge“ (Abszissenachse) zurückkehrt, sehr rasch wachsen bzw. absinken. Dieses Wachstum oder, wie man sagen könnte, der Rhythmus, das Tempo des Wachstums, verzögert sich stets mehr und mehr, bis es in der Nähe des Maximums der „Breite“, also in der Umgebung des Kurvenscheitels, fast verschwindet.
In diesem ahnenden Erkennen Oresmes tauchten erstmalig das „Tangentenproblem“ und der „Differentialquotient“ auf. Das heißt, auf unsrer vorläufigen Stufe erläutert, eine Betrachtungsweise, die den Verlauf einer Erscheinung als Kurve darstellt und sich diese Kurve gleichsam als von verschieden geneigten Tangenten umhül.lt vorstellt, so daß jeder Kurvenpunkt durch die Neigung der durch ihn laufenden Kurventangente charakterisiert ist.
Wie gesagt, blieb es noch durch Jahrhunderte bei dieser vorläufigen Ahnung. Und auch die vollendet vorliegende Koordinatengeometrie des Descartes mußte sich erst mit ganz anderen Elementen verbinden, um wirklich zur Infinitesimalgeometrie zu werden. Wir haben also bei Oresme eher die philosophische als die mathematische Seite des Problems zu prüfen. Zuvor aber noch eine kleine Einschaltung. Es fällt uns auf, daß die Fachausdrücke „Länge“ und „Breite“ genau so gebraucht werden wie in der Geographie oder Astronomie, in denen man den Ort eines Erdoberflächenpunktes (etwa einer Stadt) oder eines Sternes durch „Länge“ und „Breite“ festlegt. Oresme hat seine „longitudines“ und „latitudines“ sicherlich aus solchen Bereichen entlehnt, denn es sind bereits aus dem zehnten nachchristlichen Jahrhundert Darstellungen von Gestirnsbahnen nachweisbar, bei denen man die Hohlkugel des Himmels zuerst auf eine Ebene projizierte und in diese Ebene dann die (scheinbare) Sternbahn nach »Lange und Breite eintrug. Diese Zwischenbemerkung aber führt uns sofort auf unsere Kernfrage zurück. Und erlaubt uns, das eigentliche Verdienst Oresmes zu würdigen. Denn es ist ein sehr großer Unterschied, ob man eine Bahn als Kurve darstellt oder den Verlauf von Intensitatsschwankungen innerhalb der Zeit. Wenn man nämlich die zweite, höchst abstrakte Überlegung noch verallgemeinert, dann gelangt man zwangsläufig zum Begriff der Funktion. Alles, was irgendwie eine Größe oder einen Grad hat, kann jetzt als zeitliche oder als räumliche Verteilung in der Form von „Breiten“ aufgetragen werden. Jeder Veranderung entspricht plötzlich eine „Figura“, eine von der Kurve und ihren Koordinaten begrenzte Fläche, und - eine weitere Verallgemeinerung - jeder solchen „Figura“ entspricht umgekehrt wieder eine Veranderung.
Mit dieser „latitudo formarum“ ist etwas umwalzend Neues in die abendländische Kultur eingedrungen, ein ganz neuer Zahlbegriff, wie Oswald Spengler sagt, der die Funktion als „faustische Zahl“ bezeichnet. Wir können diese verblüffende Formulierung an dieser Stelle noch nicht überprüfen, werden jedoch bald sehen, daß eben die Funktion eine Überbrückung der eleatischen und der heraklitischen Weltansicht in sich schließt. Der Begriff der Funktion ist - man verzeihe den Ausdruck - ein Umschalter, der es an jeder Stelle gestattet, Sein in Werden und Werden in Sein zu verwandeln. Er ist eine ebensowohl statische als dynamische Erkenntnishilfe, die sich, wie nichts andres vorher, als Werkzeug zur Erforschung der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten eignet. Aber zur vollen Durchdringung dieser Zusammenhänge sollte es noch Jahrhunderte währen, wenn sich auch das werdende Werkzeug in der Hand eines Mathematikers befunden hatte, der, gleich Oresme, bereits gebrochene Potenzexponenten gebrauchte und deren Bedeutung durchschaute.
Nun kam dieses geistige Vordringen, zu dem die germanischen Völker die mystischen Schauer des Unendlichen und die romanischen die strenge ,Formphantasie der analytischen Darstellung beitrugen, auch im nächsten, dem fünfzehnten Jahrhundert noch nicht zum Stillstand. Würdig schließt sich den großen Ordensmännern der Kardinal Nicolaus von Cusa an, der, zu Cues am Ufer der Mosel als Sohn eines armen Fischers geboren, den Namen Crypffs oder Krebs führte und eine der bedeutendsten geistigen Erscheinungen seiner Zeit wurde. Der Tatmensch Cusanus, der Jurist, Theologe, Gesandter in Byzanz, Staatsmann, Feldherr, Delegierter auf dem Konzil von Basel und noch manches andre war, beschäftigte sich mit Mathematik wohl nur nebenbei, obgleich er dort, wo er hingriff, sofort Großes leistete. Uns erscheinen jedoch seine streng mathematischen Schriften weniger epochal als seine Einblicke in die Schwierigkeiten und Offenbarungen des Unendlichkeitsbegriffes. In zwei sehr merkwürdigen und undurchsichtigen, sicherlich jedoch tiefenschwangeren Schriften, der „Docta ignorantia“ und dem „De Beryllo“, setzte er seine mathematisch-philosophischen Gedanken auseinander. „Docta ignorantia“, die „gelehrte Unwissenheit“, ist ein Symboltitel, der des Cusaners Grundansicht spiegelt, daß die Vereinigung der Gegensätze Grundlage der Erkenntnis sei. Später nennt er diese Erkenntnismethode auch die „Kunst der Coincidenzen“, die darin besteht, in scheinbar Gegensätzlichem einen gemeinsamen Oberbegriff zu finden. So koinzidieren etwa das Kleinste mit dem Größten, weil bei beiden eine weitere Fortsetzung in der von jedem eingeschlagenen Richtung unmöglich sei. So koinzidiere auch eine unendliche Gerade mit dem Dreieck und dem Kreis. Denn ein Dreieck, das eine unendliche Seite besitze, müsse auch zwei andere unendliche Seiten haben, da diese zusammen ja größer sein müßten als die erste Seite. Nun sei das Unendliche schon eine Grenze und Größeres gebe es nicht. Folglich müßten in einem Dreieck mit einer unendlichen Seite alle drei Seiten in eine einzige unendliche Gerade fallen oder mit ihr koinzidieren. Dasselbe gelte für einen Kreis, der größer und größer werde, um schließlich als unendlicher Kreis keine Krümmung mehr zu besitzen. Auch er müsse mit der Geraden koinzidieren.
Der „Beryll“ als Titel der zweiten Schrift ist ebenfalls sinnbildhaft gemeint. Von „Beryll“ in diesem Sinne stammt unser Wort Brille, da es sich dabei um einen konkav oder konvex geschliffenen Stein handelt, der das bessere Sehen ermöglichen soll. Wenn wir nun, meint Cusanus, einen geistigen Beryll hätten, der zugleich Größtes und Kleinstes offenbaren könnte, so würde man den geheimnisvollen Ursprung aller Dinge erkennen. In diesem Werke befaßt sich Cusanus vorwiegend mit dem Stetigen und dem Kleinsten, und zwar in einer Art, die uns im Wesen schon von Bradwardinus her geläufig ist. So interessant es nun auch wäre, näher in all diese ungeheuer wichtigen und ebenso subtilen Fragen einzugehen, wollen wir nur noch kurz bemerken, daß Cusanus, wahrscheinlich als erster in der Geschichte der Mathematik, den Kreis deutlich und ungeschminkt als „Unendlichvieleck“ bezeichnet.
Gewiß sind mit solchen Feststellungen sofort wieder alle Schwierigkeiten in die Welt gesetzt, die schon die alten Griechen seit Eudoxos zum „beliebig“ Großen oder Kleinen und zum Exhaustionsbeweis drängten. Gleichwohl ergibt jedoch auch der polare Gegensatz und seine Überbrückung durch die Koinzidenz wieder ganz neue Gesichtspunkte. Und wir können uns nicht enthalten, beizufügen, daß gerade die neueste Geometrie mit ihren unendlich fernen Punkten, Geraden u. dgl. sich kaum wesentlich von der Auffassung des Cusaners unterscheidet, geschweige denn ihr widerspricht. Und wir arbeiten auch heute seelenruhig mit unendlich großen Kreisen, deren Krümmung Null ist, und mit Unendlichvielecken, die Kreise sind. Ob wir diesen Vorgang mit Vaihinger eine Fiktion oder mit Cusanus eine Koinzidenz nennen, ist dabei ziemlich gleichgültig. Und es ist auch gleichgültig, daß man bei jeder solchen Gelegenheit sofort von der Unklarheit und Verschwommenheit des „Grenzüberganges“ spricht. Gleichgültig nämlich in

einem höheren Sinne. Denn wenn die einen behaupten, daß sich das Vieleck höchster Seitenanzahl noch stets als gebrochene Linie darstellen, also sich im eigensten Wesen von der ungebrochenen, an jeder Stelle krummen Linie des Kreises unterscheiden muß, dann können die andern wieder antworten, daß im Unendlichen vielleicht andre Gesetze gelten als im Endlichen. Und daß irgendeinmal die Polygonseite ausdehnungsmäßig mit einem Kreisumfangspunkt zusammenfallen muß.

»Bei all diesen Betrachtungen wird man den Unterschied des aktual und des potentiell Unendlichen nicht umgehen können. Und wird auf die Begriffe des Stetigen, des Diskreten und an die Antinomie zwischen Teilbarkeit und Atom stoßen. Schließlich wird man wohl mit Kant zugeben, daß unser Verstand gleichsam für die eine Ansicht zu lang, für die andre zu kurz sei. Das ist aber, so wichtig es sein mag, nicht das Wichtigste. Wichtiger ist anscheinend, soweit es die Geschichte unsrer Wissenschaft beweist, daß das Heraklit-Wort vom Widerstreit als Vater des Allgeschehens und das Cusanus-Wort von der Fruchtbarkeit der Überbrückung der Gegensätze sehr viel für sich hat.
Und wir können abschließend behaupten, daß die Verbindung dieser beiden in sich gegengesetzlichen Begriffe der Funktion, die Sein und Werden vereint, und der Koinzidenz, die wieder imstande ist, das Endliche zum Unendlichen und das Unendliche zum Endlichen zu machen, der Sprengstoff war, der eruptiv unser ganzes äußeres und inneres Weltbild umgestaltete. Diese beiden rein abendländisch-faustischen, und zwar speziell germanischen und französischen Errungenschaften verschwisterten sich aber noch einmal, um voll zur Entfaltung gelangen zu können, mit der magischen und kabbalistischen Kategorie des Algorithmischen, die allerdings in letzter Linie ein indisches Denkergebnis war.
Das nächste Kapitel wird uns zeigen, wie sich dieser letzte Ansturm vollzog, um plötzlich den Weg zum vorläufigen Gipfel des Erreichbaren freizumachen.



9[Bearbeiten]

Neuntes Kapitel
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VIETA
Mathematik als Symbolik
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Wenn die Mathematik des Hellenentums gleichsam aus innerer Problematik bis dahin vordrang, wo es für sie keine Möglichkeit weiteren Aufstiegs mehr gab, so wurde die neuzeitliche Mathematik bei ihrer Entfaltung sehr wesentlich von außen her angeregt. Es soll damit nicht gesagt sein, daß es unter den neuabendländischen Mathematikern keine Grübler und Problematiker gab. Die ganze neue Welt hatte vielmehr eine andere Zielsetzung als die bloße Vollendung einer Wissenschaft in sich selbst. Deshalb wurde die Mathematik ununterbrochen zu „Taten“ aufgerufen und die größten Entdeckungen erfolgten unter dem Antrieb von außen hereingetragener Aufgaben, die weitaus „wirklicher“ waren als etwa die drei klassischen Probleme der Würfelverdoppelung, Winkeldreiteilung und Kreisquadratur.
Es ereignete sich aber auch in diesen Jahrhunderten, die zwischen Cusanus und Descartes lagen, also vom fünfzehnten bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, mehr als genug an umwälzender Wirklichkeit.
Wir wollen aus der Fülle dieser Ereignisse zuerst das für uns allerwichtigste herausgreifen. Im Jahre 1453 war durch die Eroberung Konstantinopels der letzte Sitz der antiken Tradition fortgefallen und die byzantinischen Gelehrten waren nach Westen gezogen, nicht ohne eine Unmenge verstandenen und unverstandenen klassischen Wissens mit sich zu nehmen und ins Abendland zu importieren. Die großen Bewegungen des Humanismus und der Renaissance erhielten dadurch ein ungeheures neues Arbeitsmaterial, und speziell auf mathematischem Gebiet gelangte man in den Besitz vieler einschlägiger Werlae des Altertums, die man bisher nur aus arabischen Übersetzungen oder überhaupt noch nicht kennengelernt hatte. Es war aber auch wieder nicht allein dieser äußere Umstand, sondern die ganze Geisteshaltung der Renaissance und der ihr folgenden Zeit, was sich gleichsam als „Rezeption“, als Übernahme und Einschmelzung der antiken Mathematik, auswirkte. Wie diese Rezeption, die bis heute andauert, vor sich gegangen ist, wollen wir an späterer Stelle untersuchen.
Nun kommen rein äußerlich für einen Aufstieg und eine Ausbreitung der Mathematik noch zwei andere Ereignisse in Betracht, die alle schon vorhandenen Bewegungen mächtig beschleunigten: die Erfindung der Buchdruckerkunst und die Aufschließung der Erde durch die Entdeckungsfahrten des Kolumbus und seiner Nachfolger. Während der Buchdruck durch die im Jahre 1494 erfolgte Veröffentlichung des Werkes von Luca Pacioulo die Mathematik, insbesondere die Arithmetik der folgenden Zeit, tiefgehend anregte, stellten die neue Gestalt der Erde, die werdende Geographie eines viel größeren Bereiches, die Schiffahrtskunde und die damit verbundene Astronomie zunehmend neue Aufgaben, von denen viele durchaus mathematischer Natur Waren. Dies verstärkte sich natürlich noch bedeutend, als dem Entdeckertum auf der Erde das Konquistadorentum des Himmelsraumes folgte und Kopernikus und Galilei das neue heliozentrische Weltbild schufen, das nunmehr an Stelle des bisher geltenden ptolemäischen Weltbildes trat. Wir bemerken dazu, daß diese Neuerung sich nicht auf ein Umdenken astronomischer Kategorien beschränkte, sondern darüber hinaus die Physik und Mathematik in neue dynamische Bahnen lenkte, die rein mathematische Behandlung nicht bloß zuließen, sondern geradezu forderten.
Wir müssen hier neuerlich feststellen, daß wir all das Wertvolle und Große, das in dieser Zeit auf unserem Gebiete geleistet wurde, nicht untersuchen können und auch nicht untersuchen wollen, da es sich dabei nur sehr bedingt um epochale Fortschritte handelte. Wenn solche vorhanden waren, dann waren sie wieder nicht an einzelne Männer geknüpft, sondern vollzogen sich zwangsläufig als allgemeine Entwicklung der Wissenschaft.
Es war vor allem eine ausgebreitete Beschäftigung mit Arithmetik und Algebra, die diesen Zeitabschnitt charakterisiert. Das zu praktischen und theoretischen Zwecken verwendete Rechnen zwang zu stets ausgeprägterer Beschäftigung mit dem Algorithmischen, also Denkmaschinellen, und es ist nicht übertrieben, wenn wir erklären, daß in diesen Jahrhunderten fast alle Symbole und Befehlszeichen entstanden, mit denen wir heute rechnen. Wenigstens alle primitiveren.
Bevor wir uns aber dieser Ausbildung der Arithmetik zuwenden, merken wir noch kurz an, daß zwei größte Künstler der Renaissance die ersten vorahnenden Grundlagen eines Zweiges der Geometrie schufen, der erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wieder aufgegriffen und zur Vollendung gebracht wurde. Es waren dies Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer, die als Augenmenschen, Ingenieure und Architekten die ersten umfassenden Untersuchungen über geometrische Perspektive und darstellende Geometrie durchführten. Dies aber nur nebenbei.
Die Arithmetiker, die Wir ankündigten, waren der Deutsche Michael Stifel, der Franzose Chuquet und das merkwürdige italienische Quadrifolium Ferro, Gardano, Tartaglia und Ferrari. Eigentliche Rechenkünstler und Pädagogen dagegen waren der sprichwörtlich gewordene Adam Riese und Rudolff.
Wenn auch Stifel und Chuquet auf große selbständige Leistungen blicken konnten, wenn auch beide in der Gegenüberstellung einer arithmetischen und geometrischen Reihe gleichsam den ersten Ton in der Tonleiter der Logarithmenforschung anschlugen, so gelang den Italienern ungleich Bedeutsameres. Sie waren es nämlich, die den ersten entscheidenden Schritt über die antike Mathematik hinaus tun konnten, indem ihnen die Lösung der Gleichung dritten Grades durch Wurzelausdrücke gelang.
Wenn wir „ihnen“ sagen, so hat diese Ausdrucksweise sehr tiefliegende Gründe. Die eigentliche Entdeckung soll nämlich der uns ansonst unbekannte Ferro gemacht haben. Alles weitere ist von einem Prioritätsstreit umnebelt, wie er in der Geschichte der Wissenschaft kaum je wieder vorgekommen ist. Die Einzelphasen gleichen Novellen von Boccaccio oder den Memoiren irgendeines Rokoko-Abenteurers. Es wimmelt dabei nur so von Schmähschriften, Flugblättern, Beschimpfungen, AmtsVerlusten, Verträgen, Stichproben, Herausforderungen. Die Wahrheit darüber war niemals ganz genau zu ermitteln, doch ist die neueste Forschung geneigt, trotz all seiner Eidbrüche, dem Cardano ein großes, dem immerhin genialen Tartaglia das kleinere Verdienst zuzubilligen. Und so wird auch die Schlußformel der Auflösung kubischer Gleichungen heute allgemein als Gardanosche oder Cardanische Formel bezeichnet, was allerdings historisch wieder nicht genau stimmt, auch wenn man vom Prioritätsstreit und der aus ihm sich ergebenden schwankenden Tatsachenlage ganz absieht. Denn diese Schlußformel, so zwangsläufig sie sich aus den Cardanoschen Lösungen ergibt, stammt von einem späteren ausgezeichneten Arithmetiker, von Bombelli. Nun war die Auflösung der kubischen und die kurz darauf erfolgte Auflösung der biquadratischen Gleichung, also der Gleichung, in der die Unbekannte in vierter Potenz als höchste Potenz auftritt, nicht nur an und für sich eine Entdeckung, sondern es wurden gelegentlich dieser Lösungen Wege beschritten, deren spätere Verallgemeinerung und Durchdringung all das ermöglichen, was die moderne Algebra und dazu noch die moderne Theorie der Integrale leistet. Es handelt sich dabei um die sogenannte Substitution, um die Ersetzung algebraischer Ausdrücke durch andere einfachere oder kompliziertere. Jeder, der nur ein wenig in der Algebra bewandert ist, weiß, daß man etwa die ansonst unzugängliche Gleichung sechsten Grades
dadurch lösen kann, daß man durch die neue Unbekannte ersetzt, das für „substituiert“ und nun die Gleichung behandelt, deren Lösung bekanntlich gleich ist
,
die somit die Lösungen und liefert. Man hat also die sechstgradige auf eine gemischtquadratische Gleichung zurückgeführt, zurückgeschraubt, man hat sie „reduziert“. Nun kehrt man zu den rein kubischen Gleichungen und zurück und findet die x-Werte als bzw. also und , was allerdings noch weitere Überlegungen erfordert.
Solche Kunstgriffe Waren schon im Altertum, etwa dem Diophantos, wohlbekannt. Die Zeit Gardanos hat also die Substitutionen durchaus nicht erfunden. Wir Wollen aber die Gelegenheit gleichwohl nicht Versäumen, an der sogenannten Cardanischen Lösung ein ganzes Netz von Substitutionen aufzuzeigen, Weil wir an diese Rechnungshilfe einige allgemeine Bemerkungen anschließen werden. Wir beschränken uns dabei auf gemischt-kubische Gleichungen und bringen alle Überlegungen in moderner Schreibweise, die zur Zeit Cardanos noch durchaus nicht bestand. Es wurde damals noch vorwiegend „Wortalgebra“ mit schwachen synkopierten Einschlägen getrieben. Wir stellen also in unsrer gegenwärtigen Sprache fest, daß sich jede gemischt-kubische Gleichung auf die Form muß bringen lassen können, wobei a, b, c irgendwelche konkrete oder allgemeine Zahlen, also Konstanten bzw. Koeffizienten sind. Diese Form hatte, wie erwähnt, bisher allen Lösungsversuchen getrotzt, was hauptsächlich durch das quadratische Glied der Unbekannten, also durch ax2 verschuldet war, wie sich bald herausstellte.
Um dieses nun zu beseitigen, substituierte Cardano (wie wir ohne Rücksicht auf die Prioritätslage weiterhin sagen werden) für x den Wert
.
Dadurch ergibt sich
und nach Ausrechnung
also eine Gleichung, die nur mehr die dritte und die erste Potenz der Unbekannten enthält. Sie hat somit, allgemein gesprochen, die Form
wobei sich und lediglich aus den Konstanten a, b und c zusammensetzen.
Es wird gleichsam für und für
substituiert.
Nun vollzieht Cardano zur Behandlung dieser vom quadratischen Gliede befreiten Gleichung eine neuerliche, anscheinend sinnlose und komplizierende Substitution, indem er für die Unbekannte zwei Hilfsunbekannte und einführt.
Es wird also, wegen , aus der Gleichung
die neue Gleichung
oder geordnet
.
Da man ohne weiteres annehmen darf, daß den Wert Null ergibt, wird dann sofort
auch Null.
Wir besitzen also jetzt zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten. Wenn nun, wie erwähnt,
sein soll, dann ist
oder
.
In die zweite Gleichung
eingesetzt, ergibt sich aber
oder mit multipliziert und durch 27 dividiert die Form .
Wir stehen also jetzt vor einer Gleichung 6. Grades, die sich auf eine gemischt-quadratische Gleichung zurückführen läßt, da sie die Unbekannte bloß in der 2n-ten und n-ten Potenz enthält. Wir müßten jetzt eigentlich neuerlich substituieren und für u3 etwa r setzen. Wir machen dies jedoch diesmal nur in Gedanken und berechnen direkt als
,
worauf sich wieder als
, also als
,
schließlich als
ergibt.
Nun haben wir nichts weiter zu tun, als den Weg zurückzuschreiten, den wir bisher gegangen sind. Wir hatten ja postuliert, daß
sei, folglich ist
.
Wir müssen allerdings hinzufügen, daß weder bei Cardano noch bei Bombelli die Vorzeichen in unserer Art auftreten, was insbesondere für die Vorzeichen vor den Quadratwurzeln gilt, die selbst Bombelli noch im ersten Ausdruck nur als „ + “ und im zweiten Kubikwurzelausdruck nur als „ - “ ansetzte.
Dieses sogenannte „Wurzelpolynom“ für muß nun noch Weiter rückübertragen werden, da ja noch die Substitutionen für und und endlich die Beziehung zu berücksichtigt werden müssen. Wir bemerken Weiters, daß schon Cardano und seine unmittelbaren Nachfolger sich mit dem Imaginärwerden des Wurzelpolynoms befaßten und zur Vermeidung dieser „Unmöglichkeit“ allerlei neue Substitutionen ersannen. Außerdem stieß ebenfalls schon Gardano auf die bisher gar nicht in Betracht gezogene Tatsache, daß eine und dieselbe Gleichung drei Lösungen ergeben konnte. Er wußte auch, daß seine Substitutionen nicht stets zum Ziele führten und daß es auch „irreduzible“ Fälle geben konnte.
Prinzipiell aber war nunmehr die Gleichung kubischen Grades erstmalig durch rein algebraische Umformungen als durch Wurzelziehen lösbar erkannt, und es änderte daran nichts, daß man, insbesondere seit Girard und der Einbürgerung der Logarithmen, die trigonometrischen Lösungen dieses Gleichungstyps, die irgendwie auf die Winkeldreiteilung zurückgingen, aus Berechnungsgründen bevorzugte.
Was aber über diese Sonderfragen hinaus alle tiefer denkenden Mathematiker seit dieser Zeit zunehmend bewegte, war das Problem der Substitution an und für sich. Wie, wann und warum kann man algebraische Ausdrücke kurzweg durch einfachere oder kompliziertere andre algebraische Ausdrücke ersetzen? Was bleibt hierbei gleich, was ändert sich durch dieses Vorgehen? Daß dabei eine Gestaltfrage und eine Ähnlichkeitsfrage vorlag, wurde bald klar. Den vollen Begriff der Formbeharrung, der Invarianz, zu fassen, war auf jener Stufe noch nicht möglich, da sich der Begriff der Transformation, der Umformung erst aus der Koordinatengeometrie und der Unendlichkeitsanalysis in leuchtender Klarheit heraushob. Doch davon werden wir erst bei der Besprechung der Algebra im neunzehnten Jahrhundert zu handeln haben. Vorläufig muß es uns genügen, daß wir am Beispiel der kubischen Gleichung das Problem in seiner vollen Schwere und Bedeutung kennengelernt haben. Wieder hatte der Menschengeist ein neues Zaubermittel in die Hand bekommen und ruhte nicht eher, bis er es zu weit höherer Wirkung entfaltete.
Diesen großen Schritt vorwärts aber machte der geniale Arithmetiker und Algebraiker Vieta, den wir nur deshalb bloß als Algebraiker bezeichnen, Weil das Schwergewicht seiner epochalen Leistung auf diesem Gebiete lag. Er War nämlich überhaupt ein großer Mathematiker, auch Geometriker. Merkwürdigerweise war er kein Fachmathematiker im eigentlichen Sinn, sondern Jurist und Advokat, betätigte sich in allerlei Staatsanstellungen und entzifferte unter anderem einen Geheimcode der Spanier, der 500 Zeichen enthielt. Dadurch wurde es den Franzosen möglich, sämtliche Chiffredepeschen der mit ihnen im Krieg befindlichen Spanier mühelos zu lesen. Vieta war ursprünglich Hugenotte gewesen, soll aber seinen Glauben mehrmals gewechselt haben, was nicht hinderte, daß er stets ein Schützling Rohans blieb. Er brachte es zum Geheimrat beim französischen König, hinterließ 20.000 Taler, ließ alle Bücher auf eigene Kosten drucken, verschenkte sie nach allen Seiten an Freunde und Widersacher und war auch ansonsten sehr sanften Gemütes. So verköstigte er einen wissenschaftlichen Gegner durch viele Monate in seinem Hause und bezahlte ihm sogar die Heimreise.
Die Menschheit verdankt ihm aber, überall diese persönlich sympathischen Züge hinaus, etwas ganz Einzigartiges. Er nämlich und nur er war es, der die Algebra auf die dritte, rein symbolische Stufe emporhob. In seiner „Einführung in die analytische Kunst“ (In artem analyticam isagoge) vom Jahre 1591 spricht er vorerst das Homogeneitatsprinzip klar und deutlich aus, das zwar von den hellenischen Mathematikern der klassischen Zeit stets unausgesprochen eingehalten, bei Heron und Diophantos jedoch nicht allgemein mehr gehandhabt wurde. Es lautet kurz dahin, daß nur Größen gleicher Art streng vergleichbar seien, daß es also etwa unzulässig wäre, Strecken, Flächen und Körper miteinander in Beziehung zu setzen. Dieses Prinzip nun führt Vieta für seine Buchstabenrechnung konsequent durch. Wie gesagt, hat er als erster die Worteinhüllung der Algebra fallen gelassen und verwendet die großen lateinischen Buchstaben zur Rechnung. Die Vokale sind dabei Symbole für die unbekannten, die Konsonanten Symbole der bekannten Größen. Das Wort „Größen“ ist zu beachten. Ganz eindeutig ist nämlich auch bei Vieta die Algebra noch nicht in den Bereich der Zahlen hinübergeschoben. Seinen Buchstaben haftet irgendwie der Begriff von „Größen“ im anschaulich geometrischen Sinn an. Und er rechnet dabei „Per species seu rerum formas“, also etwa „mit versinnbildlichenden Zeichen von Raumgebilden“. Diese Auffassung behält er bei, obgleich er sich durch den geometrischen Dimensionsbegriff nicht für gebunden erachtet und ruhig bis zur neunten Potenz in seinen Rechnungen fortschreitet. Es ist schwer zu entscheiden, was sich ein mathematischer Kopf vom Range Vietas bei dieser offensichtlichen Inkongruenz dachte. Ahnte er irgendwo eine mehrdimensionale Geometrie? Oder genügte ihm das Homogeneitätsprinzip, das ihm auch bei höheren als der dritten Dimension die Beziehungen ungleichartiger Größengattungen aufeinander verbot? Oder hielt er die höheren Dimensionen der Buchstabengrößen gar nicht für höhere Raumdimensionen, da sie ja, wie wir bei Cardano gesehen haben, im Weg von Substitutionen auf die naturgegebenen drei Dimensionen reduzierbar waren? Diese Frage wird schwer zu entscheiden sein, ebenso schwer wie die Frage, ob sich ein heutiger Geometer irgendeine höhere Geometrie als die dreidimensionale als tatsächlich existent vorstellen will. In der Geschichte der Mathematik schob man bisher stets den ganzen Gedankeninhalt oder Anschauungsinhalt mathematischer Formen mehr oder weniger bewußt von der arithmetischen Seite zur geometrischen Seite hinüber und umgekehrt. Für die Hellen-en und alle ihre Schüler ist reine Algebra ein wesenloses Schattenreich, für heutige Mathematiker dagegen wird die Geometrie zu einem der zahllosen Anwendungsgebiete einer weit übergeordneten Wissenschaft, der „Gruppen“, „Ähnlichkeiten“, „Formen“, „Mannigfaltigkeiten“ und „Strukturinvarianzen“.
Doch wir wollen nicht vorgreifen. Vieta hat auf jeden Fall die Arithmetik oder das konkrete Rechnen als Zahlenrechnen oder „logistica numerosa“ streng von der Buchstabenrechnung, der „logistica speciosa“, getrennt, obgleich er, rein algorithmisch, das Maschinelle des Zahlenrechnens, wo es anging, auf das Buchstabenrechnen übertrug. Die deutsche Erfindung des Plus- und Minuszeichens zeigt sich bei ihm bereits überall, während die anderen Verknüpfungssymbole der heutigen Schreibweise noch fehlen oder durch andere als die heutigen Zeichen ausgedrückt werden. Den Bruchstrich verwendet Vieta bereits in unserem Sinn, ebenso hat er eigene Wurzelzeichen. Auch sind ihm geschweifte und eckige Klammern zur Zusammenfassung mehrgliedriger Ausdrücke nicht unbekannt.
Wir können also ruhig behaupten, daß Vieta als erster ganze mathematische Komplexe im strengsten Sinne des Wortes auf „Formeln“ brachte und durch Operationssymbole verknüpfte. Es blieben gewiß noch kleine Schlacken, wie durch Worte erfolgende Potenzbezeichnungen, am neuen Guß haften. Dieser neue Guß schimmert aber unter den Schlacken so eindeutig und unverkennbar hervor, daß die „Stenographie der Mathematik“ oder besser das „Esperanto der Mathematik“, also die reine Begriffs- und Symbolschrift auch allgemeiner Entwicklungen, sich im Laufe von weniger als 150 Jahren nach Vieta fast genau zur heutigen Schreibweise ausgebildet hatte. Unsre moderne Schreibung algebraischer Größen in kleiner Kursivschrift des lateinischen Alphabets ist eine Einführung des Oxforder Professors Thomas Harriot (1560-1621), der sie in seiner „Artis analyticae praxis“, in seiner „Praxis der analytischen Kunst“, Wahrscheinlich unter dem Einfluß Lord Napiers, von dem wir bald hören werden, propagierte.
Nun wäre, von unserem Standpunkt aus, noch über Vieta zu erwähnen, daß das Wort „Koeffizient“ aus seinem Sprachschatze stammt, das in einer geometrischen Aufgabe in der Form „longitudo coefficiens“, also etwa als „mitwirkende Länge oder Strecke“ auftritt. Koeffizient bedeutet sonach bei Vieta eine Strecke, die bei der Größenerzeugung mitwirkt. Nehmen wir etwa den Fall, es würde an ein Quadrat der Seite noch ein Rechteck angelegt werden, dessen eine Seite ebenfalls ist, während die andere D beträgt, dann ist die Fläche des neuen Gebildes wohl .
Es ist also hier D der „Koeffizient“ der Strecke . Dabei stellt sich Vieta gemäß seinem „Homogeneitätsprinzip“ vor, daß das Quadrat erst dann addierbar Wird, wenn durch den Koeffizienten auch in die Dimension einer Fläche erhoben Wird. Ansonst Würde ja eine Fläche zu einer Linie addiert Werden, was unstatthaft ist.
Über die sonstigen sehr hohen mathematischen Qualitäten Vietas Wollen Wir in unserem Zusammenhang nicht sprechen. Wir Wollen auch nur kurz erwähnen, daß eine ganze Schule von Arithmetikern und Algebraikern am Werk War, die „Ars magna“ (große Kunst), Wie sie schon Cardano genannt hatte, Weiterzubilden. Seit Raimundus Lullus (Ramon Lull, 13. Jahrhundert nach Christi Geburt) War überhaupt das Ideal einer Universalwissenschaft, einer Methode, die das Denken gleichsam mechanisieren sollte, nicht mehr aus dem Blickfeld gekommen. Diese halb mystische Bemühung, die sich in Bezeichnungen Wie „Artium ars“ (Kunst der Künste) für die Algebra niederschlägt, hat natürlich auch auf deutschem und österreichischem Boden durch Männer Wie Regiomontanus und Peuerbach und überhaupt durch die Schule der „Cossisten“ Förderung erfahren. Cossist ist gleichbedeutend mit Algebraiker. Das Wort stammt von Causa oder Cosa, was soviel wie „Ding“ heißen soll. Dieser Ausdruck „Ding“ für die unbekannte Größe düfte aber Wieder auf die indischen Algebraiker zurückgehen, die die Unbekannte auch einfach „das Ding“ nannten.


10[Bearbeiten]

Zehntes Kapitel
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JOST BÜRGI
Mathematik als Tabelle
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Doch unser Zauberteppich reißt uns in verwirrender Art vorwärts und rückwärts. Deshalb müssen wir unsre Darstellung wieder dadurch in disziplinierte Bahnen lenken, daß wir ein neues Problem, das geradezu eine unabsehbare Epoche bedeutete, in den Vordergrund schieben. Wir wollen uns noch aus einem zweiten Grund naher mit dieser Frage befassen, da gerade bei ihr eine halb unbewußte Falschmeldung der Wissenschaft am Werk ist, zumindest jedoch eine Flüchtigkeit, von der selbst ansonst subtile Mathematikbücher nicht frei sind. Wir meinen die Logarithmen, das konzentrierte Grauen so manches Mathematikschülers.
Es wäre sehr natürlich gewesen, wenn man die Logarithmen gleichsam systematisch entdeckt hatte. Man hatte sich auf Grund der eingehenden Analyse aller Rechenoperationen sagen müssen, daß noch weitere Grundoperationen möglich seien. Wie zur verbindenden (thetischen) Operation der Addition die Subtraktion ein auflösendes, rückgängig machendes (lytisches) Gegenspiel ist, so findet man die genaue Entsprechung bei der Multiplikation und Division. Ja, diese Zweiheit geht noch weiter, denn Potenzerhebung und Wurzelausziehen zeigen wieder dieselbe bilaterale Struktur. Nun ware aber noch eine weitere Frage möglich. Es könnte nämlich bei einer Potenz die Basis bekannt und der Exponent unbekannt sein, also die Form vorliegen, wobei , irgendeine Größe konkreter Art, etwa 10 oder 500 oder 7.324 oder irgendeine Zahl bedeutet. Ist nun , wobei auch bekannt ist, dann muß man zugeben, daß es sich hierbei um eine aufbauende oder thetische Operation, nämlich um eine Spielart der Potenzierung handelt, bei der diesmal nicht die Basis , sondern der Exponent x unbekannt ist. Diese zweifache Möglichkeit bei der Potenzierung ergibt sich aus der Nichtgeltung des kommutativen oder Vertauschbarkeitsprinzips bei der Potenzerhebung.
Bei Addition und Multiplikation ist es infolge der Kommutativitat gleichgültig, ob man oder ansetzt.
Ebenso ist bei der Multiplikation und gleichwertig.
Nicht aber bei der Potenzierung, bei der etwas weltweit andres aussagt als . Das erste heißt heute Potenzierung, das zweite Exponentialfunktion. Die Umkehrung von ist die lytische Operation des Wurzelziehens, also .
Was aber ist die Umkehrung von ?
Falls ich etwa setze, komme ich um keinen Schritt weiter. Denn jetzt erhebt sich erst recht die Frage, wie man berechnen soll.
Wir werden darauf bald zurückkommen. Wir brechen aber bei dieser letzten Fragestellung hier vorläufig ab, da die historische Entwicklung tatsächlich einen ganz anderen Verlauf nahm, bis man endlich das Problem in voller Allgemeinheit durchschaute. Und gerade diese etwas bizarre Annäherung an das eigentliche Zentrum ist entdeckungsgeschichtlich äußerst reizvoll. Denn die Wirklichkeit, auch in der Mathematik, wählt oft den Weg des Kolumbus. Er hat bei seiner Ausfahrt nicht gesagt: „Ich will jetzt Amerika entdecken.“ Er hat nicht einmal an einen noch unbekannten Weltteil gedacht, sondern wollte den Weg nach Ostindien abkürzen. Fast genau so vollzog sich die Erfindung der Logarithmen.
Die ersten Spuren des Geheimnisses gehen bis auf Archimedes zurück und stammen aus dem Vergleich von arithmetischen und geometrischen Reihen. Deutlicher wird der Zusammenhang bereits bei Michael Stifel und bei Chuquet, der überhaupt, ebenso wie Stifel, ein genialer Mathematiker war. Wie gesagt, handelt es sich um den Vergleich einer arithmetischen und einer geometrischen Reihe, die bei Stifel in der „Arithmetica integra“ schon in folgender Form auftritt:
... -4; - 3; -2; -1; 0 ; 1; 2; 3; 4; 5; 6; ...
... ; ; ; ; 1; 2; 4; 8; 16; 32; 64; ...
Stifel bemerkt dazu: „Man könnte ein ganz neues Buch über die wunderbaren Eigenschaften dieser Zahlen schreiben, aber ich muß mich an dieser Stelle bescheiden und mit geschlossenen Augen daran vorübergehen.“ An anderer Stelle allerdings öffnet er die Augen ein wenig, denn er bemerkt: „Addition in der arithmetischen Reihe entspricht der Multiplikation in der geometrischen, ebenso Subtraktion in jener der Division in dieser. Die einfache Multiplikation in den arithmetischen Reihen wird zur Multiplikation in sich (Potenzierung) bei der geometrischen Reihe. Die Division in der arithmetischen Reihe ist dem Wurzelausziehen in der geometrischen Reihe zugeordnet wie etwa die Halbierung dem Quadratwurzelausziehen.“
Damit war eigentlich schon im Jahre 1544 das logarithmische Prinzip voll und deutlich ausgesprochen, die Möglichkeit nämlich, die Stufe der ersten sechs Rechenoperationen nach Bedarf um je eine Stufe herabzusetzen. Um deutlicher zu sein, wollen wir die zweite Behauptung Michael Stifels an der von ihm selbst aufgestellten Reihe exemplifizieren. Hätte man etwa die Multiplikation auszuführen, dann braucht man bloß die darüberstehenden beiden Zahlen der arithmetischen Reihe, also 3 und 6 zu addieren und erhält 9.
Unter dieser Neun aber steht jetzt in der geometrischen Reihe das Multiplikationsergebnis 512.
Natürlich darf man auch mehr als zwei Faktoren nehmen,
etwa ; ; 2 und 256.
Addition ihrer Entsprechungen in der arithmetischen Reihe ergibt
; worauf sofort 16 als Ergebnis abgelesen werden kann, da es unterhalb der Vier steht.
Zum Zweck der Division muß subtrahiert werden. So ist etwa äquivalent mit und als Quotient ergibt sich unterhalb der Drei die Zahl 8. Die Potenzierung, die man ja auch als wiederholte Multiplikation „in sich“ auffassen kann, wie Stifel sagt, erfolgt bei unseren Reihen durch Aufaddition der arithmetischen Reihenglieder „in sich“ oder, was dasselbe ist, durch Multiplikation.
So ist etwa zu finden durch , unter welcher Zahl 512 steht, oder noch einfacher durch , was dasselbe liefert. Wurzelausziehen wird durch Division geleistet. Die vierte Wurzel aus 256 wird gewonnen, indem man ansetzt und damit als Wurzelwert 4 erhält.
An und für sich ist diese Zauberei nicht mystisch, wenn man unsere Reihen algebraisch anschreibt.
... -5; - 4; -3; -2; -1; 0; 1; 2; 3; 4; 5; ...
... ; ; ; ; ; ; ; ; ; ; ; ...
Man sieht sofort, daß die „arithmetische Reihe“ nichts andres ist als die „Folge“ der Potenzexponenten und daß man beim konkreten Rechnen nichts andres vorgenommen hat als die Ausführung der Rechnungsoperationen mit Potenzgrößen.
Denn
oder
und
und
und schließlich
usf.
Daher nennt man auch heute die Tatsache, daß
schlechtweg die „logarithmische Eigenschaft“, da sich aus dieser ersten Eigenschaft alle weiteren ableiten lassen.
Zu dieser Verallgemeinerung allerdings stieg man, hauptsächlich wegen der noch nicht vollkommen ausgebildeten algebraischen Schreibweise, nicht sofort auf. Doch wurden die Erkenntnisse Michael Stifels von den späteren Algebraikern, insbesondere von Simon Jacob, übernommen und gelangten dadurch zur Kenntnis des Jost Bürgi, der ein ebenso genialer Mathematiker wie ein gehemmter und verschrullter Kopf war. Aber fast gleichzeitig entstand der gleiche Gedanke im Gehirn eines Schotten, des Gutsherrn von Merchiston, Lord John Napier oder latinisiert Neperus (Neper). Dadurch ist die Entdeckung der Logarithmen ein Schulbeispiel der Duplizität von Neuerungen, was Späteren hätte zu denken geben müssen, die in ähnlichen Fällen oft ohne Prüfung des Sachverhalts einen Prioritätsstreit entfesselten, der sowohl den Streitenden als der Wissenschaft schadete. Nebenbei bemerkt, entstand über die Priorität der Erfindung der Logarithmen keinerlei Streit. Nur die Nachwelt, bis in die modernsten Lehrbücher hinein, hat sowohl das Wesen dieser Entdeckungen als auch den Anteil, den Napier und Bürgi daran hatten, vollkommen verwirrt und entstellt.
Beginnen wir also systematisch bei der allgemeinen Problemlage der Zeit um die Wende des sechzehnten und siebzehnten nachchristlichen Jahrhunderts. Wir haben schon einmal bemerkt, daß speziell die germanischen Völker das rein Rechnungsmäßige an der Mathematik förderten und ausbildeten. Nun wurden aber trotz Durchsetzung des algorithmischen Zahlenrechnens, trotz sehr vertiefter Einsichten in das Wesen dieser Rechnungen und Rechnungsarten, die Berechnungen, die man brauchte, stets unübersichtlicher und verwickelter. Wir erinnern nur an Ludolf van Ceulen, dem es bekanntlich im Jahre 1596 gelang, weit über Archimedes hinauszugehen und
die Zahl aus dem 1.073.741.284-Eck auf 35 Dezimalen mit
zu berechnen. Astronomie, Astrologie und Trigonometrie sowie eine erweiterte Handelsbuchhaltung und Staatsverrechnung trugen das Ihrige zum Bedürfnis nach Rechenerleichterung und nach größerer Genauigkeit des Rechnens bei. Und dazu hatten, wie wir schon wissen, sowohl Stifel als Jacob als auch noch andere geradezu mit dem Finger auf die Fundgrube hingewiesen, die zu all diesen Zwecken unter der arithmet-ischen und der geometrischen Reihe verborgen lag. Dies alles wurde noch verstärkt durch das allmähliche Eindringen der Dezimalbruchschreibung in die Rechentechnik und durch das Vorhandensein von Tabellenwerken als Hilfsmittel für Multiplikation und Division. Aus diesen und nur aus diesen Gründen machten sich, als die Zeit reif geworden war, Bürgi und Napier an die Arbeit. Wir wissen heute, besser, wir sollten wissen, daß Bürgi früher im Besitze des neuen Hilfsmittels war. Er ließ es aber, angeblich aus Zeitmangel, nicht an die Öffentlichkeit gelangen, so daß ihm der große Kepler Vorwarf, er habe „das Kind seines Geistes im Stich gelassen, statt es für die Öffentlichkeit zu erziehen“. Und zwar habe er so gehandelt, weil er ein „cunctator“, also ein Zauderer, und ein „secretorum suorum custos“ (ein Hüter seiner eigenen Geheimnisse, also ein Geheimniskrämer) gewesen sei.
Wie also kam Jost Bürgi in den Besitz seiner „Progress-Tabulen“ (Reihen-Tafeln), die mit ihren roten und schwarzen Zahlen Ähnliches leisteten wie die heutigen Logarithmen? Nun, er betrachtete eben die beiden Reihen Michael Stifels und überlegte, was dieser gesagt hatte.
( In heutiger Sprache sind es keine „Reihen“, sondern „Folgen“. Wir sagen hier nur stets Reihen, weil man diese Serien damals und auch noch später so nannte. Charakteristisch ist sowohl für die Reihe als auch für die Folge das sogenannte „Bildungsgesetz“, nach dem sie aufgebaut sind. Während aber in der Folge die Glieder unverbunden nebeneinander stehen, sind sie in der Reihe additiv verbunden.)
Als guter Mathematiker erkannte er dabei zweierlei.
Erstens, daß eine praktische Auswertung solcher Reihen nur möglich war, wenn man die Glieder möglichst enge aneinanderrücken konnte. Denn mit Reihen geometrischer Art, in denen 1, 2, 4, 8, 16 usw. vorkommen, werden die Lücken zwischen den Zahlen stets größer und man könnte nicht einmal die Multiplikation durchführen, ganz zu schweigen von den Lücken, die zwischen höheren Gliedern auftreten, wie etwa schon zwischen 1024 und 2048 oder 2048 und 4096.
Zweitens aber sah Bürgi, was auch seine Vorgänger schon gewußt hatten, daß sich die logarithmische Eigenschaft durchaus nicht bloß auf Potenzreihen der Basis 2, sondern auf Reihen mit irgendeinem beliebigen Quotienten erstreckte, was auch wir, rein allgemein, schon erkannt haben. Es waren nur gewisse Bedingungen unerläßlich. So mußte die arithmetische Reihe mit 0 und die geometrische mit 1 beginnen, damit die logarithmische Eigenschaft erhalten blieb. Es mußte aber auch der Steigerungsschlüssel möglichst klein sein, damit die Reihenglieder möglichst dicht aufeinander folgten; was wieder deshalb notwendig war, damit man in jeder der beiden Reihen praktisch jede Zahl finden konnte. Um zu zeigen, wie das gemeint ist, haben wir als Beispiel eine Folge aufgestellt, in der jedes Glied mal so groß ist wie das vorhergehende. Der Einfachheit halber haben wir dann noch die ganze Folge mit einer Million multipliziert, um keine Dezimalstellen anschreiben zu müssen.
Wir erhalten somit:
0 1.000.000
1 1.010.000
2 1.020.100
3 1.030.301
4 1.040.604
5 1.051.010
6 1.061.520
7 1.072.135
8 1.082.857
9 1.093.685
... ...
Jeder kann sich überzeugen, daß die logarithmische Eigenschaft dieser Folge gegeben ist, wenn man die Stellenwerte entsprechend berücksichtigt. Jost Bürgi nun ist bei seinen Progress-Tabulen in noch kleineren Schritten vorgegangen, die man fast als mikroskopisch bezeichnen könnte. Und zwar in doppelter Art.
Er hat gleichzeitig die arithmetische Reihe mit 10 multipliziert und die geometrische per Glied um also um vorwärtsschreiten lassen,
wodurch er für 0 den Wert l00.000,000 und für 10 erst 100.010,000 erhält.
Zahlen zwischen 1 und 10 müssen durch ein Berechnungsverfahren proportional eingeschaltet werden, wobei man angenähert annimmt, daß die Steigerung der geometrischen Reihe mit der Steigerung der arithmetischen Reihe innerhalb des Intervalls proportional verläuft. Nun nennt er die Glieder der arithmetischen Reihe die„roten Zahlen“, weil sie in der Tafel rot gedruckt sind. Die übrigen Zahlen heißen die „schwarzen Zahlen“. Heute nennen wir die roten Zahlen „Logarithmen“, die schwarzen „Numeri“ oder kurzweg „Zahlen“.
Obgleich man mit Bürgis Progress-Tabulen in der Art der Logarithmenrechnung sehr gut rechnen kann, sind diese Tafeln in unserem Sinne noch nicht vollwertige Logarithmen, da Bürgi sich in keiner Art um die Basis des Systems kümmert, sondern manchmal aus rein äußerlichen Gründen Abrundungen vornimmt. Dazu muß noch bemerkt werden, daß man heute fast überall behauptet, Napier sei der Entdecker der „natürlichen Logarithmen“ mit der allbekannten Basis gewesen, wobei
.
Das ist absolut falsch, wie wir gleich sehen werden. Wenn ein Mathematiker dieser Basis als erster unbewußt nahekam, dann war es Jost Bürgi, denn seine Basis, die er selbst, wie gesagt, nicht kannte, hat den Wert
,
der vom richtigen Wert für , das gleich ist
,
nicht allzu weit absteht. Allerdings muß zu dieser Wertbestimmung Bürgis rote Zahlenreihe noch durch 100.000 dividiert werden.
Lord Napier ging noch mehr als Bürgi von den Bedürfnissen der Praxis aus. Wir können uns in die komplizierte Berechnungsart seiner „Mirifici Logarithmorum canonis constructio“, die 1619 in Edinburg erschien, nicht vertiefen, sondern stellen nur fest, daß seine Tafel dieser „wundertatigen Logarithmen“ nicht die Logarithmen der natürlichen Zahlenreihe, sondern der Sinuswerte gab, also eine Vorläuferin unserer trigonometrisch-logarithmischen Tafeln war. Im übrigen operiert er, ähnlich wie Bürgi, ebenfalls mit zwei Reihen, die allerdings hier gegenläufig sind. Von einer Basis spricht er dabei nicht, schon gar nicht von einem „natürlichen Logarithmus“.
Seine Basis ergibt sich angenähert als ,
ist also ein wenig kleiner als der reziproke Wert des natürlichen Logarithmus. Allerdings steht es fest, daß die Neperschen Logarithmen als erste derartige (auch für reine Zahlenrechnung brauchbare) Tafel im Druck erschienen, daß Napier der Erfinder des Wortes Logarithmen ist, deren Entstehung er sich als synchrone Bewegung, als ein „Fließen“ (fluxio) zweier Reihen, also mechanisch-dynamisch vorstellte, worauf dann eine punktweise Zuordnung der beiden Reihen erfolgen mußte, um die bekannten Beziehungen herzustellen. In dieser „fluxio“, die von Clavius stammen kann, finden wir auf jeden Fall einen Vorläufer der Newtonschen Unendlichkeitsauffassung. Schließlich muß noch erwähnt werden, daß Napier bereits die 10 als Basis eines Logarithmensystems anregte, was der mit ihm befreundete Oxforder Professor Henry Briggs sofort aufgriff. Es ist allgemein bekannt, daß wir heute vorwiegend mit diesen Briggsschen Logarithmen rechnen, deren Basis, wie gesagt, die Grundzahl unseres Zahlensystems, also , ist.
Durch diese Basisfestsetzung ergibt sich eine große Anzahl von Vorteilen, wie etwa die Trennung der Logarithmen in Kennziffer oder Charakteristik und Mantisse. Jeder Briggssche Logarithmus besteht demnach aus einer ganzen Zahl, die den Stellenwert des zugehörigen Numerus angibt, und aus einem angehängten Dezimalbruch, der „Mantisse“, die den Zahlwert signalisiert.
(So genannte „Mantisse“ seit Wallis, der unter Mantisse überhaupt einen Dezimalbruch versteht.)
Der Logarithmus etwa ist der Logarithmus von ,
dagegen ist der Logarithmus von ,
während den Logarithmus von darstellt.
Mit diesen Entdeckungen zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts war die große Vervollkommnung des Rechnens, die Möglichkeit der Herabsetzung der Rechenstufen und noch mehr die Ermöglichung von Potenzierungen und Wurzelausziehungen geleistet, an die man bisher nicht hatte denken können.
Wer hätte bisher etwa oder berechnen können?
Durch die Logarithmen wurden derartige auch für Gleichungslösungen notwendige Aufgaben vergleichsweise zur algorithmischen Spielerei. Wenn auch die Tafeln fortwährend Verbesserungen erfuhren, wenn auch die tiefsten Beziehungen zwischen der Exponentialfunktion
und deren Umkehrung , also gleich auf der Basis , erst durch den großen Leonhard Euler im achtzehnten Jahrhundert aufgeschlossen wurden, war das Wesentlichste doch gleich zu Beginn der Entdeckertätigkeit in Gang gebracht. Der Algorithmus, die Denkmaschine, war durch ein neues, unglaublich feines und durchschlagskräftiges Hilfsmittel bereichert, das, einmal in der Form einer Tafel bereitgestellt, für alle Ewigkeiten das Zahlenreich in wirklich „wundertätiger“ (mirifica) Art erschloß.
Noch ahnte man nicht, daß der neue Rechnungsmodus in seinen letzten Konstruktionsprinzipien als „logarithmus naturalis“, als Zahl , gleichsam die Achse der ganzen Infinitesimalmathematik werden sollte. Noch dachte niemand daran, daß die lcgarithmische Funktion eine Brücke werden sollte, über die der Weg zu scheinbar unauflösbaren Integrationen führte. Noch auch dachte man an eine Zukunft dieses magischen für die Zinseszins- und Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Man hatte viel geleistet. Man verfeinerte das Instrument, verbesserte die Tafeln, studierte die Möglichkeit der Interpolation (Einschiebung) von Zahlen, um die Tafeln vollkommen dicht und eng zu machen, und schritt vor allem mit dem neuen Werkzeug unter der Führung des Riesengeistes Kepler an die Bewältigung der Probleme, die die Astronomie und die Naturwissenschaft in nie endender Fülle stellten und die ein Maximum an Gewandtheit und Genauigkeit erheischten.
Zur gleichen Zeit aber glomm schon unter der Asche des eben verbrannten Freudenfeuers eine Unzahl neuer Funken, die, demnächst zum neuen Brand gefacht, als weithin leuchtendes Fanal den Anbruch der mächtigsten Epoche der Mathematik ankündigten. Denn es sollte auf neuabendländischem Boden eben das ganz große Heldenzeitalter der Mathematik beginnen.



11[Bearbeiten]

Elftes Kapitel
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DESCARTES
Mathematik als Methode
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Bevor wir in dieses Heldenzeitalter eintreten, wollen wir es nicht Versäumen, über den schon oft zitierten „faustischen Geist“ des neuen Abendlandes zu sprechen.
Wie bekannt, wurde die Bedeutung, die wir hier meinen, wenn wir „faustisch“ sagen, von Oswald Spengler geprägt, dem es infolge seiner großen mathematischen Einsicht gegeben war, die Mathematik gleichsam als Spitzensymbol der Struktur einzelner Kulturen aufzufassen. Wir sind im Laufe unsrer Betrachtungen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, haben gesehen, wie sich Mathematik ganz verschieden in verschiedenen Völkern oder Strukturen bzw. deren genialen Einzelexponenten spiegelt. Deshalb fühlen wir uns berechtigt, eine Variabilität des „Wissenschaftsideals der Mathematiker“ anzunehmen, wie es Pierre Boutroux nennt. Damit soll allerdings keineswegs zum Ausdruck gebracht sein, daß wir auch in den Folgerungen die Aspekte vom „Untergang des Abendlandes“ zur eigenen Ansicht machen. Doch ist hier nicht der Ort, diese Fragenkomplexe näher auseinanderzusetzen.
Wir kündigen nur an, daß wir bald sehen werden, aus welchen Triebkräften sich die Mathematik entwickelt und wie verschieden die Ergebnisse ausfallen können, ja ausfallen miissen, je nachdem hinter der Forschung ein ästhetischer, ein magisch-formender oder ein faustisch-drängender Wille steht. Das Kulturwollen, wenn man es so nennen darf, die äußere Zielsetzung, spielt überhaupt bei allen Erfindungen und Entdeckungen eine große Rolle. Es ist das nicht anders als in der Chemie, der Technik, der Volkswirtschaft. Die alten Chinesen kannten seit Jahrtausenden das Schießpulver, wußten, daß es große Sprengkräfte enthalte --und wandten es ausschließlich für Feuerwerke an. War das bloß kindlich, war es ethisch oder war es geradezu unklug? Das ist furchtbar schwer zu entscheiden. Sicher ist nur, daß der Wehrgedanke nicht das Zentrum des chinesischen Empfindens beherrschte, sonst hätte ihnen das Mittel auffallen müssen, das sie in der Hand hatten, und das ihnen eine ganz andere „Geschichte“ verschafft hätte.
Auch bei den alten Hellenen haben wir gezeigt, daß sie sich für ein geradezu ideologisches Wissenschaftsideal opferten und daß es ihnen wenig half, wenn ab und zu ein prometheischer Geist diese „strenge Observanz“ der Geometrie durchbrechen wollte.
Ganz anders die faustischen Völker. Bei ihnen stand von Anbeginn nicht eine lichte Welt von freundlichen Musen über der Wissenschaftsgeschichte, von Musen, denen man nur richtig diente, ??? Werm ??? man ihr künstlerisch-harmonisches Reich auf Erden adäquat abbildete. Es war für die Hellenen kein Widerspruch, wurde von ihnen niemals als störend empfunden, daß in einem süßen Hain, an Quellen, die die Phantasie mit Nymphen und Halbgöttern bevölkerte, im Sande die „Fährte des Menschen“, die Geometrie, gezeichnet stand. Diese Geometrie der reinlichsten Proportionen gehörte genau so gut zur „Harmonie der Sphären“ wie die Musik oder der körperliche Genuß. Das Vordrängende, Versuchende, Versuchte war durch ein „Medén ägan“ (Nichts zuviel) abgeriegelt, und der Teufel der ersten Christen hieß in hellenisch ablehnendem Sinn der Peirastes (Versucher).
Weltenweit anders der faustische Kosmos. In ihm liegt stets neben „Nostradamus altem Buch“ in mystisch halberleuchteten gotischen Räumen ein Totenkopf und andrer Spuk. An der Schwelle nagen Mäuse am Pentagramm, denn das geometrische Zeichen ist hier nicht die freundliche Fährte des Menschen, sondern ein kabbalistisches Symbol gegen das Vordringen des Teufels, der drohend, neckend und helfend zugleich schon vor der Tür lauert. In der Stube aber sinnt Doktor Faust mit seiner Doppelseele über die letzten Abgründe des Unendlichen und über die Eroberung der diesseitigen Welt, und eine Disharmonie nach der andern schleudert ihn aus Himmelsregionen in Verzweiflung, die bis zur Selbstvernichtung geht. Tiefstes Symbol des gotisch-faustischen Menschen, daß Conrad Ferdinand Meyer den großen Ulrich Hutten sagen läßt: „Das heißt: ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ Menschsein heißt in der faustischen Sprache eben soviel wie polar sein. Polar sein ist aber dasselbe wie disharmonisch. Nicht im Sinne des statischen Zerrissenseins, sondern des dynamischen Hinaufgetriebenwerdens durch polare Kräfte. Denn überall wohnen zwei Seelen, ach, in der Brust dieserMenschen. Wobei das „ach“ nur ein letztes traurig-wissendes Aufbaumen des schwachen Menschleins gegen das erkannte, unentrinnbare Schicksal ist.
In solcher Seele mußte sich die Mathematik anders spiegeln als in der griechischen oder arabischen. Sie mußte aber auch in anderer Form geboren werden, in Kampf und Erregung. Und wir sehen, daß ein junger Reiteroffizier, dessen Gemüt von tiefsten religiösen Dingen, von Zweifeln, Wahrheiten, Plänen, Erleuchtungen voll ist, im Sattel, in Reitergefechten in den böhmischen Gefilden sich weiter und weiter zur Klarheit durchficht, bis er in der Ruhe ungarischer Winterlager ein Werk schafft, das kaum seinesgleichen hat in der Wissenschaftsgeschichte. Boutroux sagt von dieser Entdeckung, sie bestehe darin, „vorauszusehen und zu zeigen, wie die systematische Anwendung der Koordinaten eine Methode schuf von einer Gewalt und von einer Universalitat, wie sie bisher in der Mathematik noch nicht bekannt war. Eine Methode, die alle bisherigen aufzuheben und zu überwinden bestimmt war, die mit Hilfe des Funktionsbegriffes all die Wissenschaften revolutionieren und regenerieren sollte, die zu den Begriffen Raum und Zeit in Beziehung standen.“
Wir wissen, was das heißt. Wissen, daß hier wieder die „formae“ des Nicole von Oresme auftauchen, sehen, daß die Franzosen der Welt die Möglichkeit der Abbildung dieser „formae“, der Naturerscheinungen, geschenkt haben, die mit Raum und Zeit in Beziehung standen. In den Franzosen hatte sich eben faustischer Drang mit antikem Formsinn verbunden. Denn nicht nur Descartes, von dem wir ja fortwährend sprechen, da er jener junge adelige Reiteroffizier war, hatte die Koordinatenmethode gefunden. Sein genialer Landsmann Fermat ging bereits ähnliche Wege. Warum also wird stets nur Descartes in den Vordergrund gestellt? Ist das eine historische Ungerechtigkeit? Jeder nur halbwegs mathematisch Gebildete weiß doch, daß noch heute über Fermat, den unheimlich mächtigen Zahlentheoretiker, dicke Bücher geschrieben werden, daß die Fermatschen Probleme heute noch ungelöste Preisaufgaben sind, für deren Lösung gewaltige Preise ausgesetzt wurden, die sich allerdings durch den Weltkrieg vollständig entwertet haben. Um diese historische Frage voll zu verstehen, müssen wir im folgenden das wesentlichste Verdienst des Descartes in aller Schärfe herausarbeiten. Müssen aber vorher noch auf eine andre Tatsache zurückgreifen, die wir als die „Rezeption der griechischen Geometrie“ bezeichnen wollen: eine geistesgeschichtliche Erscheinung, die eigentlich auch heute noch nicht ganz abgeschlossen ist.
Die Geschichte der Rechtswissenschaften - dies zur näheren Erklärung unsres Ausdruckes - weiß zu berichten, daß während und nach der Renaissance plötzlich wie eine unhemmbare Flut das herrlich geschlossene System des altrömischen Rechts die bodenständigen Rechtseinrichtungen des Mittelalters überall in Europa zu überschwemmen begann. Man empfand dieses Erbe nicht so sehr als Recht der Vergangenheit, sondern geradezu als das Recht der Zukunft, wie etwa ein Mensch des sechzehnten Jahrhunderts seine eigene Technik gefühlt hätte, wenn ihm ein technisches Kompendium aus dem neunzehnten Jahrhundert durch Zauber vor die Augen gelegt worden wäre. Man weiß, daß diese „RechtsRezeption“ das ganze bürgerliche Antlitz und auch die Politik des Abendlandes grundstürzend veränderte. Man weiß, daß auch hier die Entwicklung noch nicht am Ende angelangt ist, da sich speziell in unsern Tagen in mehr als einer Beziehung eine teils bewußte, teils unbewußte Abkehr vom römischen Recht zu zeigen beginnt, was vielleicht neben allen andern auch damit erklärt werden kann, daß wir selbst bereits die kulturgeschichtliche Reifestufe zu erreichen beginnen, auf der dieses römische Recht geschaffen wurde. Doch auch darüber können wir uns leider an dieser Stelle nicht naher verbreitern.
Wir wollen also bloß feststellen, daß es auch eine Parallelerscheinung der „Rezeption der althellenischen Mäthematik“ gibt. Ihr interessantestes Bewegungsgesetz ist eine Art von Rück- oder Gegenlaufigkeit, auf die meines Wissens bisher in der mathematikhistorischen Literatur noch nicht mit genügender Deutlichkeit hingewiesen wurde, obgleich gerade die Tatsache dieser Bewegung für das Werden der neuzeitlichen Mathematik und für ihren Charakter ungeheuer aufschlußreich ist, wie wir sofort zeigen werden.
Wir erinnern uns, daß, rein zeitlich betrachtet, zuerst Euklid wirkte, hierauf Archimedes, dann Apollonios und schließlich Diophantos. Wir erwahnten auch nebenbei, daß von diesen vier Geistesheroen auf allerlei Umwegen zuerst Diophantos in das Bewußtsein des Abendlandes eindrang. Bis er schließlich durch Méziriac übersetzt und kommentiert wurde und Fermat als Anregung für zahlreiche zahlentheoretische Untersuchungen diente. Rezipiert im vollsten Sinne des Wortes war also sonderbarerweise der letzte der großen Griechen zuerst. Ihm folgte der zweitletzte, nämlich Apollonios, dessen Werk, wie wir bald sehen werden, zum Sprungbrett und zum Ausgangspunkt für die Koordinatengeometrie des Fermat und Descartes diente. Erst nach Apollonios wurde Archimedes durch die Entdeckung der Infinitesimalgeometrie voll verstanden, und den Abschluß der Rezeptionsreihe bildet Euklid, dessen endgültige geistige Verarbeitung erst unter unsern Augen erfolgte.
Um keine Mißverständnisse und keine billigen Widerlegungen unsrer Feststellung heraufzubeschwören, merken wir an, daß wir durchaus nicht behaupten wollen, Euklid oder Archimedes seien im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit nicht bekannt gewesen. Wir fassen den Begriff der „Rezeption“ viel enger und zugleich tiefer auf. Uns gilt ein geistiger,Kosmos erst dann als rezipiert, wenn er bis zur letzten Konsequenz strukturell aufgenommen oder wirklich äquivalent weiterverarbeitet wurde. In diesem Sinne sind unsre behaupteten Rezeptionen zugleich Ausweitungen des Rezipierten und sogar Emanzipationen von den Vorbildern.
Trotz aller Tiefensehnsucht liegt nämlich ein gewisser leichtsinniger und tollkühner Zug im „Faustischen“, ohne den es nicht bestehen und wirken könnte. So war die erste Aufnahme der griechischen Mathematik, also ihre Bekanntwerdungsphase, nicht viel mehr als eine Reihe von Halb- und Mißverständnissen gewesen, sofern es sich nicht um ganz elementare Dinge drehte. Aber eben im Halbverstandenen lag ein mystischer Antrieb. Man wollte alles durchdringen, schoß oft weit über das Ziel und entdeckte dadurch Neues. Allerdings recht systemlos und sehr unbeschwert von logischen und philosophischen Skrupeln. Als man nun aber zu Beginn des siebzehnten nachchristlichen Jahrhunderts schon eine Fülle von Ergebnissen in der Hand hatte, die manchmal mächtig über die Resultate der Antike hinausragten, wollte man den strengen Geist der alten Hellenen teils ehrfürchtig als Kontrolle für das Erreichte heranziehen, teils wollte man in den althellenischen Forschungen Anfänge und Lücken aufspüren, an die man für weiteren Aufstieg anknüpfen,bzw. die man schließen konnte. Dabei geriet man durch das sich zunehmend vertiefende Verständnis der alten Schriften oft in großes Erstaunen und wurde geneigt, trotz aller eigenen Erfolge das Form- und Wissenschaftsideal der griechischen Werke als Vorbild anzuerkennen, denen man, wenn auch nicht inhaltlich, so doch strukturell und in der Geisteshaltung nachzueifern hätte. Auch dieser Prozeß dauert noch heute an. Denn all das, was sich um die Forderung äußerster „Strenge“ gruppiert, ist nichts andres als ein griechisches, speziell an Euklid orientiertes Streben.
Nun wäre aber, trotz dieser unleugbaren sachlichen und formalen Wiederaufnahme griechischer Denkkategorien, der faustische Geist nicht das gewesen, was er ist, wenn sich nicht auch zum Teil eine sehr revolutionäre Stimmung gegen diesen griechischen Zwang geregt hätte. Hellas mußte also sozusagen zugleich aufgenommen und zertrümmert werden. Und gerade hier liegt auch der tiefe Gegensatz zwischen Fermat und Descartes. Fermat steigt über spezielle Gleichungsprobleme zahlentheoretischer Farbung, die wir in unsrem Diophantos-Kapitel kennengelernt haben, zu einer selbständigen Begründung einer eigenen Zahlentheorie auf. Hier also revolutioniert er und wird, über Diophantos hinaus, zur Epoche. In der Geometrie aber fühlt er sich, trotz seiner Entdeckung wirklicher Koordinaten, bloß als Sachwalter des Griechentums und „rezipiert“ im engeren Sinne des Wortes, indem er die Geometrie als die unverrückbare Achse der Mathematik anerkennt und daher nichts andres zu tun beabsichtigt, als Geometrie durch Arithmetik und Algebra zu unterstützen und zu bereichern.
Die Haltung des Descartes ist eine weit andere. Für ihn gehen nicht nur die Arithmetik und Algebra rein logisch der Geometrie voran, sondern sie sind ihr außerdem noch sachlich übergeordnet, indem sie die weit allgemeinere Größenlehre darstellen, die „unter anderem“ auch auf die Geometrie angewendet werden kann. Dieses „unter anderem“ ist der springende Punkt. Denn durch eine solche Auffassung ist der griechischen Wertung der Todesstoß versetzt. Die Geometrie ist als Königin der Mathematik endgültig gestürzt, und an die Stelle der geometrisierten tritt die algebraisierte Mathematik.
Da nun unsre letzte Behauptung sicherlich verblüffend wirkt und da es sich dabei auch um nicht ganz einfache Probleme handelt, müssen wir ein wenig bei der eigentlichsten Auffassung des Gartesius verweilen: dies um so mehr, als ja sein Werk merkwürdigerweise „Geometrie“ heißt.
Wir wollen ihn also sofort selbst sprechen lassen und zitieren nach der neuesten Auflage der Schlesingersehen Übersetzung vom Jahre 1922. Descartes sagt zu Beginn des ersten Buches seiner „Geometrie“ (1637):
„Alle Probleme der Geometrie können leicht auf einen solchen Ausdruck gebracht werden, daß es nachher nur der Kenntnis gewisser gerader Linien bedarf, um diese Probleme zu konstruieren. Und gleichwie sich die gesamte Arithmetik nur aus vier oder fünf Operationen zusammensetzt, nämlich aus den Operationen der Addition, der Subtraktion, der Multiplikation, der Division und des Ausziehens von Wurzeln, das ja auch als eine Art von Division angesehen werden kann: so hat man auch in der Geometrie, um die gesuchten Linien so umzuformen, daß sie auf Bekanntes führen, nichts andres zu tun, als andre Linien ihnen hinzuzufügen oder von ihnen abzuziehen; oder aber, wenn eine solche gegeben ist, die ich, um sie mit den Zahlen in nähere Beziehung zu bringen, die Einheit nennen werde und die gewöhnlich ganz nach Belieben angenommen werden kann, und man noch zwei andre hat, eine vierte Linie zu finden, die sich zu einer dieser beiden verhält wie die andre zur Einheit, was dasselbe ist wie die Multiplikation; oder aber eine vierte Linie zu finden, die sich zu einer der beiden verhält wie die Einheit zur anderen, was dasselbe ist wie die Division. Oder endlich eine oder zwei oder mehrere mittlere Proportionalen zu finden zwischen der Einheit und irgendwelchen andern Linien, was dasselbe ist wie das Ausziehen der Quadrat- oder Kubikwurzel usw. - Und ich werde mich nicht scheuen, diese der Arithmetik entnommenen Ausdrücke in die Geometrie einzuführen, um mich dadurch verständlicher zu machen...“
„Hierbei ist zu bemerken, daß ich unter oder oder dergleichen gewöhnlich nur einfache Linien verstehe, und daß ich nur, um mich der in der Algebra gebrauchten Bezeichnungen zu bedienen, dieselben als Quadrate, Kuben usw. benenne.“
Wir wollen jetzt diese gleich am Beginn der Descartesschen „Geometrie“ stehenden Sätze ein wenig näher prüfen. Ihr Inhalt ist revolutionärer, als es auf den ersten Blick erscheint. Denn hier schon ist das wichtigste Koordinierungsprinzip ausgesprochen: das Prinzip der Zuordnung einer Länge zu jeder Zahl, gleichviel, wie diese Zahl entstanden ist. Die Quantität ist als eine Länge darstellbar, die Summe oder die Diffeerenz , gleichfalls aber auch das Produkt oder der Quotient . Damit aber noch nicht genug.
Auch oder oder oder kann als Länge betrachtet werden und die Wurzelwerte jedes Grades ebenso. Damit ist die Geometrie ihrer algebraischen Aufgabe enthoben. Der Dimensionsbegriff bzw. die Schranke, die die Dimension jeder geometrischen Algebra setzte, ist gefallen und das Prinzip der Homogeneität ist nur mehr fiktiv und formal aufrechterhalten. Jede Art von Größen ist auf dieselbe Dimension gebracht, denn wir arbeiten nur mehr mit Zahlenlinien. Wobei auch alle Potenzen der Unbekannten nichts als Längen oder, vorläufig noch unbestimmte, Punkte der Zahlenlinie bedeuten. Wir empfinden diese algebraische Großtat des Descartes nicht mehr als so erschütternd, weil uns seine „Methode“ in Fleisch und Blut übergegangen ist. Aber es war eine vorerst algebraische Großtat, die die zweite Großtat der eigentlichen Koordinatengeometrie erst ermöglichte. Und wenn Zeuthen sagt, seit Descartes sei die Mathematik aus dem Stadium des Handwerksbetriebes in das Stadium der Großindustrie eingetreten, müssen wir diesem Bilde zustimmen. Dabei sprechen wir vorläufig nur von der „Geometrie“ und nicht vom „Calcul des Monsieur Descartes“. Wir werden auf diese zweite Schrift zurückkommen, in der alles Gesagte noch deutlicher wird.
Descartes selbst hat seine revolutionäre Tat sehr richtig erkannt. Er sagt, einige Seiten später: „... Dies scheinen die Alten nicht bemerkt zu haben, da sie sonst die Mühe gescheut hätten, darüber so viele dicke Bücher zu schreiben, in denen schon allein die Anordnung ihrer Lehrsätze erkennen läßt, daß sie nicht im Besitze der wahren Methode waren, die alle diese Lehrsätze liefert, sondern daß sie nur diejenigen, die ihnen begegnet sind, aufgelesen haben.“ Und an andrer Stelle: „Hier bitte ich auch, beiläufig bemerken zu wollen, daß die Bedenken der Alten gegen den Gebrauch von Bezeichnungen der Arithmetik in der Geometrie (das nur daraus entspringen konnte, daß ihnen der Zusammenhang dieser beiden Disziplinen nicht hinreichend klar geworden war), eine gewisse Dunkelheit und Schwerfalligkeit des Ausdrucks verursachte...“
Die zweite Stelle bezieht sich auf Apollonios bzw. auf Pappos. Auf jeden Fall sind diese Urteile mehr als hart. Und sie schießen auch sicherlich zum Teil weit übers Ziel. Aber wir wollten ja an ihnen nur beweisen, wie sehr sich Descartes über die eigene Tat im klaren befand. Die Griechen, um es zu wiederholen, waren für Descartes nicht im Besitz der „richtigen Methode“. Sie sahen nicht die Identität von Algebra und Geometrie. Sie bauten daher nicht synthetisch aus der Algebra gleichsam eine allgemeine Formenlehre, die man dann, unbeschwert von den rein realen und inhaltlichen Fragen der Dimension, des Raumes usw., so weit zur Höhe türmen konnte, als man nur immer wollte. Hat man aber einmal die Formen oder Quantitäten ganz allgemein durch die Zauberkräfte des Kombinatorischen und Algorithmischen aufgebaut, dann gibt es jederzeit eine Rückkehr zu den tief unter dieser allgemeinsten Algebra liegenden Disziplinen der Arithmetik und der Geometrie. Beide sinken zu Anwendungsgebieten zurück.
Wenn auch Descartes selbst diese Ansichten nicht so scharf formuliert hat, so können wir sie gleichwohl schon aus den Kommentaren seiner nachsten Nachfolger entnehmen. So schreibt etwa der Cartesianer Erasmus Bartholin im Vorwort zur „Geometrie“-Ausgabe im Jahre 1659: „Im Anfang war es nötig und nützlich, unsrer Fähigkeit des reinen Denkens Hilfen zu schaffen; deshalb nahmen die Geometer ihre Zuflucht zu den Figuren, die Arithmetiker zu den Zahlenzeichen, andre zu andern Hilfsmitteln. Aber derartige Verfahren scheinen großer Geister, solcher, die nach dem Namen eines Gelehrten streben, nicht würdig zu sein. Solch großer Geist war Descartes.“ Und in dem schon von uns erwähnten „Calcul“ hat Descartes tatsächlich versucht, eine Algebra aufzustellen, die jeder konkreten Zahl oder jeder Figur ausweicht.
An dieser Stelle müssen wir beifügen, daß Descartes auch rein äußerlich fast genau dieselbe Schreibweise oder „Notation“ anwendet, die sich bis heute erhalten hat. Das ist für seine Taten irgendwie ein Prüfstein. Denn wir werden bei Leibniz sehen, daß das Wissen um mathematische Beziehungen unter Umständen hinter die Wichtigkeit adäquatester Notation zurücktritt. Dies, weil die Mathematik irgendwo doch ein lullischer Gedankenzauber ist, und die Geister nur erscheinen, wenn man sie mit der richtigen Zauberformel beschwört.
Descartes hatte sich also nicht weniger zum Ziel seiner Methode gesetzt, als den vollständigen Neuaufbau der ganzen Mathematik aus einfachsten Voraussetzungen heraus, die zudem nicht wie bei Euklid geometrische, sondern algebraische Voraussetzungen waren. Die Geometrie mußte bei dieser Methode irgendwie und irgendwann als reife Frucht „herausfallen“, wie man heute gerne sagt.
Wir betonen, daß diese Hoffnung, soweit sie universelle Vollständigkeit betraf, übertrieben war. Zum Großteil aber stimmte sie, und es ist uns heute selbstverständlich, jede algebraische Form als Kurve und jede Kurve wieder als algebraische Form deuten zu können.
( Kurve ist hier weitesten Sinne gemeint. Formen mit mehr als zwei Variablen smd selbstverständlich Flächen, Korper oder noch höhere Mannigfaltigkeiten.)
Allerdings ist der Beweis vollster Berechtigung dieser Identität erst seit neuester Zeit, insbesondere seit Hilbert, lückenlos begründet.
Wie will nun Descartes seine Mathematik, in der jede Zahl eine Linie ist, aufbauen? Darüber gibt er uns genaue Auskunft. Er sagt: „Soll nun irgendein Problem gelöst werden, so betrachtet man es zuvörderst als bereits vollendet und führt für alle Linien, die für die Konstruktion nötig erscheinen, sowohl für die unbekannten als auch für die andern, Bezeichnungen ein. Dann hat man, ohne zwischen bekannten und unbekannten Linien irgendeinen Unterschied zu machen, in der Reihenfolge, die die Art der gegenseitigen Abhängigkeit dieser Linien am natürlichsten hervortreten läßt, die Schwierigkeiten der Aufgabe zu durchforschen, bis man ein Mittel gefunden, um eine und dieselbe Größe auf zwei verschiedene Arten darzustellen. Dies gibt dann eine Gleichung, weil die den beiden Darstellungsarten entsprechenden Ausdrücke einander gleich sind. Es sind dann so viele solcher Gleichungen aufzufinden, als unbekannte Linien vorhanden sind; wenn sich aber nicht so viele angeben lassen, obwohl man nichts, was in der Aufgabe enthalten ist, übergangen hat, so ist die Aufgabe nicht vollkommen bestimmt...“
Wichtig an dieser Stelle ist die unzweideutige Forderung, daß man ein Problem als vollendet voraussetzen solle und daß man die Abhängigkeiten zwischen den „Linien“ so lange durchforschen müsse, bis man ein Mittel gefunden hat, eine oder mehrere Gleichungen zu bilden. Beide Forderungen sind Grundforderungen der analytischen Geometrie und der analytischen Methode überhaupt. Ohne schon gewisse Lehrsätze, Abhängigkeiten oder Beziehungen zu kennen, ist man außerstande, sie zu durchschauen und Gleichungen zu bilden. Dies ist gerade das Gegenteil des synthetischen Ideals, das von Descartes in der Algebra vertreten wird. Man muß nämlich beide Methoden handhaben. Und muß sich gleichsam vom Algorithmus synthetisch führen lassen, um eine möglichst lückenlose Formenwelt aufzubauen, die man dann wieder rückschreitend analytisch untersuchen kann.
Setzen wir etwa alle möglichen Gleichungen der Form
an und finden, daß sich daraus die Kurven „dritter Ordnung“ ergeben, dann können wir die allgemeinen und gemeinsamen Eigenschaften dieser Kurven rein algebraisch entdecken, indem wir z. B. fragen, wieviel Schnittpunkte eine derartige Kurve mit einer Geraden der Form
bildet. Denn das erfahren wir durch Betrachtung der beiden als Gleichungen mit zwei unbekannten Größen aufgefaßten Ausdrücke rein algorithmisch und algebraisch. Wollen wir aber umgekehrt die Gleichung einer Kurve feststellen, von der wir etwa bloß die mechanische Konstruktion kennen, dann müssen wir mit Hilfe von allerlei Lehrsatzen, Proportionssätzen, des Pythagoras usw., innerhalb der Kurve Beziehungen finden, denen jeder einzelne Kurvenpunkt entspricht. Und zwar als Gleichheit, als „Gleichung“ zweier ansonst verschiedener Ausdrücke.
Wir stellen dabei fest, daß das Wort „Koordinaten“ bei Descartes noch nicht gefallen ist. Es war vielmehr erst eine in den neunziger Jahren des siebzehnten nachchristlichen Jahrhunderts von Leibniz geprägte Bezeichnung für das, was Descartes „Fundamentallinien“ nennt. Aber auch das rechtwinklige, heute sogenannte „Cartesische“ Achsenkreuz gebraucht Descartes sehr selten. Er arbeitet mit verschiedenen, für unsre Augen noch sehr verkappten allgemeinen schiefwinkligen Koordinaten. Gleichwohl ist bei ihm, wie gesagt, die Zuordnung oder Koordinierung durchaus in unserm heutigen Sinn bereits erfolgt. Dies ersieht man sofort aus dem zweiten Buch seiner „Geometrie“, in dem er die Kurven näher unter die analytische Lupe nimmt und dabei sofort von einer „unendlichen Reihe“ von Kurven stets höherer Ordnungen spricht, wobei sich für ihn die Ordnung der Kurve aus dem höchsten jeweils in ihrer Gleichung enthaltenen Potenzexponenten herleitet. Denn, so sagt er, „...um alle (Kurven), die in der Natur überhaupt vorkommen, zusammenzufassen und sie der Reihe nach in gewisse Gattungen sondern zu können, ist es am besten, wenn man hervorhebt, daß zwischen allen Punkten der als geometrisch zu bezeichnenden Linien, d. h. also derjenigen, die ein genaues und scharfes Maß zulassen, und allen Punkten einer geraden Linie notwendig eine Beziehung bestehen muß, die vollständig durch eine und nur durch eine Gleichung dargestellt werden kann, und daß die krumme Linie der ersten und einfachsten Gattung zuzuzahlen ist, wenn diese Gleichung nur das Rechteck [Das heißt das Produkt!] aus zwei unbestimmten Größen oder das Quadrat einer derselben enthält (zu dieser ersten Gattung gehört nur der Kreis, die Parabel, Hyperbel und Ellipse), daß sie aber der zweiten Gattung angehört, wenn die Gleichung in den beiden Unbestimmten (denn es bedarf deren zwei, um hier die Beziehung eines Punktes zu einem andern darzustellen) oder einer derselben bis zur dritten oder vierten Dimension ansteigt, der dritten, wenn die Gleichung die fünfte oder sechste Dimension enthalt usw. bis ins Unendliche.“
Diese fundamentale Stelle bedarf einiger ergänzender Bemerkungen. Wir haben schon erwähnt, daß Cartesius sich vollständig klar darüber war, die Reihe der zunehmend zusammengesetzten Kurven sei unendlich. „Zusammengesetzt“ ist eine Kurve aber dann, wenn ihre mechanische Erzeugung stets mehr von der Erzeugung durch Lineal und Zirkel entfernt ist. Zur Verdeutlichung dieses Umstandes demonstriert Descartes eine Vorrichtung, die wir nachstehend abbilden.
Im Punkt Y befindet sich ein Drehpunkt, so daß der Schenkel YX im Sinne des Pfeiles aus der Lage YZ herausgedreht werden kann. An den Schenkeln nun gleitet eine beliebige Anzahl von Linealen, die in der Anfangslage derart übereinanderliegen, daß die Punkte B, C, D, E, F, G und H im PunkteA vereinigt waren. Drehen wir nun im Sinne des Pfeiles, dann verschieben sich die Lineale gegenseitig jeweils nach dem ihnen verbleibenden Freiheitsgrad, und die Punkte B, D, F und H beschreiben verschiedene Kurven, deren jede „um einen Grad zusammengesetzter ist als die vorhergehende“. Der Punkt B beschriebe einen Kreis. Wir können auf die weiteren, aus dieser Auffassung sich ergebenden Probleme nicht im einzelnen eingehen, sondern wir stellen nur fest, daß Descartes sich die Kurven dynamisch oder phoronomisch entstanden denkt. Der heute in Vergessenheit geratene Ausdruck Phoronomie bedeutet soviel wie abstrakte Bewegungslehre. Descartes sagt auch an andrer Stelle, daß man die Kurven in die Geometrie einbeziehen müsse, gleichviel, welchen Grades sie seien, „vor-ausgesetzt, daß man sie sich beschrieben denken kann durch eine stetige Bewegung oder durch mehrere aufeinanderfolgende solche Bewegungen, deren jede durch die vorhergegangene vollkommen bestimmt ist; denn auf diese Weise kann man stets eine scharfe Vorstellung von den Maßen einer solchen Linie erhalten.“




Er meint weiter, daß sich die alten Griechen bloß durch einen historischen Zufall von der Betrachtung höherer Kurven hatten abschrecken lassen, da sie zuerst die Spirale und die Quadratrix phoronomisch erzeugten und untersuchten. Diese Kurven aber könnten nur „durch zwei voneinander verschiedene Bewegungen, die in keiner genau meßbaren Beziehung zueinander stehen, beschrieben werden.“ Sie sind, in heutiger Sprache ausgedrückt, durch algebraische Funktionen nicht darstellbar, sind also transzendent. Nun habe man dasselbe von allen den Grad der Kegelschnitte übersteigenden Kurven geglaubt, obgleich es unwahr sei, und habe deshalb die Forschung nicht weitergetrieben.
Nun ware zu der oben zitierten Stelle noch beizufügen, daß Descartes den dritten und vierten, den fünften und sechsten Grad von Kurven usw. deshalb in eine Gattung zusammenfaßt, weil er imstande ist, durch geeignete Umformungen jeweils den vierten in den dritten, den sechsten in den fünften Grad usw. zu reduzieren. Wir Heutigen haben diese Cartesische Gattungsbezeichnung im allgemeinen nicht übernommen und sprechen, wie schon angedeutet, von Graden, die wir nach der jeweils höchsten Potenz der betreffenden Kurvengleichung bezeichnen.
Descartes sagt nun weiters an andrer Stelle, er wähle eine gerade Linie, „um auf ihre Punkte die Punkte einer krummen Linie beziehen zu können“. Ferner wähle er einen Punkt auf dieser Linie, von dem aus als Ausgangspunkt die Rechnung zu beginnen ist. „Ich sage“, fahrt er fort, „daß ich diese beiden wähle, weil es freisteht, sie ganz nach Belieben anzunehmen; denn wenn man auch durch eine geeignete Wahl bewirken kann, daß die Gleichung kürzer und einfacher werde, so ist doch leicht zu beweisen, daß sich immer dieselbe Gattung für die Linie ergibt, wie man auch die Wahl getroffen haben möge.“
Wir haben Descartes so oft und so ausführlich selbst sprechen lassen, damit sich jeder einen Begriff davon machen kann, wie genau er selbst das Wesen seiner Methode durchschaute. Man liest nämlich oft Dinge, die diese Tatbestände entweder ins Positive oder Negative verfälschen. Entweder wird nämlich dem Descartes zugeschrieben, er habe sich nirgends angelehnt, sei aus dem Nichts zu seinen Ideen gekommen, oder es wird behauptet, er habe die analytische Geometrie in unserem Sinne bloß geahnt. Von beiden kann nach seinen eigenen Worten keine Rede sein. Er kennt seine Vorgänger bis zu Apollonios zurück sehr genau, weiß aber ebenso genau, daß er im Zusammenhang mit seiner Philosophie etwas Neues schafft. Er packt auch am Schlusse seiner „Geometrie“ die Analysis rein algorithmisch an und baut zur Unterstützung der Analyse rein synthetisch eine Theorie der Gleichungen auf, die an und für sich sehenswert ist. Dabei ist er sich schon vollkommen klar über die Tatsache, daß der Grad der Gleichung die Anzahl der Lösungen bedingt, die allerdings auch negativ oder „falsch“, wie Descartes dies noch nennt, sein können.
[Der sogenannte „Fundamentalsatz der Algebra“, der erstmalig von Girard im Jahre 1629 behauptet wurde.]
Im Vorübergehen führt er die Ausdrücke „reell“ und „imaginàlr“ ein und entdeckt das Gesetz des Vorzeichenwechsels. Am Schlusse seiner „Geometrie“ bemerkt er, er habe nicht die Absicht, ein dickes Buch zu schreiben, sondern sei im Gegenteil bestrebt gewesen, mit wenigen Worten vieles zu sagen. Man könne, meint er ungefähr, auch alle höheren Probleme der Geometrie nach seiner Methode lösen, wie es ja überhaupt in der Mathematik nicht schwer ist, wenn man erst die zwei oder drei ersten Glieder einer Kette kennt, auch alle übrigen zu finden. „Und ich hoffe“, schließt er, „daß unsre Enkel mir nicht nur für die Dinge Dank wissen werden, die ich hier auseinandergesetzt habe, sondern auch für diejenigen, die ich absichtlich übergangen habe, um ihnen das Vergnügen zu überlassen, sie zu erfinden.“
Dieser letzte Satz hat kaum ein Gegenstück in der Geschichte der Wissenschaften. Denn er ist sicherlich objektiv und subjektiv ehrlich. Descartes war ein souveraner Geist wie wenige, ein Grandseigneur des obersten Wissensreiches. Man fühlt in seinen Werken fast die Unlust eines alten Aristokraten, zuviel zu sprechen. Er weiß die Dinge, ist sich selbst darüber im klaren, und damit genug. Was geht sein Denken andre an? Dieses Denken, das nach seinem Leitsatz „cogito, ergo sum“ gleichsam der Wirklichkeitsbeweis für das Weltall ist. Aber er ist auch Offizier, kennt schwere Pflichten. Noblesse oblige. Er muß sprechen. Und so sagt er das Wichtigste, das Einzigartige, das Unwiederholbare. Aber nur ein einziges Mal, soweit es Mathematik betrifft. Denn die „Geometrie“ ist ja nur ein Anhang einer viel umfassenderen Offenbarung, des „Discours sur la methode“. Er interessiert sich nicht für Entdeckungen oder Resultate, sondern für die Ausbildung der Werkzeuge. Und er schreibt gleich nach Veröffentlichung der „Geometrie“ an Mersenne: „Erwarten Sie in bezug auf Geometrie nichts mehr von mir. Denn Sie wissen, daß ich mich schon lange sträube, mich damit zu befassen.“ Er hat andre Pläne. „Wer auch immer meine Gedanken aufmerksam prüfen wird“, sagt er in den „Regulae“ IV., „der wird bemerken, daß ich eine Wissenschaft im Auge habe, ganz verschieden von der Mathematik. Eher könnte die Mathematik ihre Hülle sein als ein Teil von ihr.“ Dieses letzte Geständnis ist sehr aufschlußreich. Denn damit ist all das bestätigt, was wir bei Descartes als eigentlichste Epoche fühlen, wenn wir ihn dem begrenzt Fachlichen ein wenig entrücken und ihn in eine höhere Sphäre emporheben: Descartes ist der erste seiner Tat voll bewußte Begründer einer Universalmathematik, die man auch als „instrumentale Mathematik“ bezeichnen könnte. Mathematik ist ein Zielweg, eine Methode, eine Umhüllung, ein Instrument. Und diese Maschine muß ausgebaut, verfeinert, poliert, subtilisiert werden, um gleichsam jeder Tourenzahl gewachsen zu sein.
Algorithmus und Schreibweise, Untersuchung der allgemeinsten Form, Verschwisterung von Arithmetik und Geometrie, das sind die Forderungen, die für Descartes den Beginn bedeuten, um weiterschreiten zu können. Die Achse aber, um die sich die Maschine dreht, ist die Koordinatenachse. Denn sie ermöglicht es, durch „punktweise Beziehung“ das Gerade krumm und das Krumme gerade zu machen. Obwohl nun, wie Descartes meint, die Beziehung zwischen krumm und gerade nie ganz aufklärbar sein wird, hat man doch jetzt eine Maschine in der Hand, dem Problem dieser Beziehungen beizukommen. Denn das Gerade wieder liefert die Einheit, wird die Brücke zur Maßzahl und damit zur Zahl an und für sich. Von jetzt an spiegeln sich zwei weltenweit getrennte Sphären ineinander, leihen einander ihre spezifischen Kräfte und Möglichkeiten. Es sind die Sphären des „Denkens“ und des „Ausgedehnten“, um mit dem Philosophen Descartes zu sprechen. Es sind Begriffe und Anschauung, würden wir heute sagen. Und so wird die übergeordnete algebraische Form einmal zur Zahl und das andremal zur Figur. Und es kann ein stets wiederholtes, unterbrochenes, wieder aufgenommenes Überspringen stattfinden vom Algorithmus zur Kurve und von der Kurve zum Algorithmus. Damit aber wird jede „forma“, auch jede Naturerscheinung beschreibbar und rechnerisch faßbar, sofern sie einen Verlauf hat. Und aus der Dynamik kann in die Statik und aus der Ruhe in die Bewegung zurückgegangen werden.
An einer Stelle aber zeigt sich bei Descartes schon wieder ein neuer Keim werdender Welten, den er anscheinend als solchen fühlt. Denn er sagt: „Ich glaube daher alles vorgebracht zu haben, was für die Elemente der krummen Linie vonnöten ist, wenn ich noch allgemein die Methode entwickle, in einem beliebigen Punkt einer Kurve eine gerade Linie zu ziehen, die die Kurve unter rechtem Winkel schneidet. Und ich wage es auszusprechen, daß dies nicht nur das allgemeinste und nützlichste Problem sei, das ich weiß, sondern auch das in der Geometrie zu wissen ich mir je gewünscht habe.“ Damit ist das Problem der Tangenten, Normalen, Subtangenten und Subnormalen in vollster Allgemeinheit aufgerollt, und zwar die analytisch-geometrische Durchdringung dieses Problems. Descartes weiß, daß es sich dabei um keine müßige Spielerei handelt. Denn sein durchdringender Blick muß erkannt haben, daß Tangenten und Normalen gleichsam die Gesetzgeber der Kurven sind. Darum will er auch die Gleichung finden, die die Normale in jedem beliebigen Punkt der Kurve haben muß. Denn damit hat er die Tangente in jedem Punkt und den Neigungswinkel dieser Tangente zu den Koordinaten oder Fundamentallinien. Wieder eine Maschine: es ist jetzt nur mehr nötig, die eine Variable der Tangentengleichung willkürlich zu wählen, um zu wissen, welche Neigung die Tangente im zugeordneten Punkt zur horizontalen Achse hat. So weit aber treibt, wenigstens ausdrücklich, Descartes seine Forschungen noch nicht. Er schafft bloß die Voraussetzungen zu derartigen Überlegungen und bemüht sich dabei, auch rein algorithmisch, alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.
Zum Abschluß wollen wir noch die neue Methode Descartes' von früheren Koordinatendarstellungen abgrenzen. Descartes hat den letzten Schritt auf dem Weg dieser speziellen Entwicklung getan. Er wählt willkürlich seine Fundamentallinien, seine Achsen, bestimmt willkürlich den Koordinatenursprung und bezieht nur punktweise das zu analysierende Gebilde auf diese Koordinatenachsen. Diese Koordinatenachsen sind jedoch nichts andres mehr als unausgesprochene Zahlenlinien, die jede Zahl darstellen dürfen, denn die Zahlen sind nun stets Linien, gleichgültig, aus welcher Rechnungsart die Zahlen entstanden sind. Summen, Differenzen, Potenzen, Wurzeln, all das sind Längen und nichts als Längen. Dadurch aber wird jede beliebige algebraische Gleichung mit zwei Unbekannten ein Beziehungssystem von Längen, kann also innerhalb dieser gewählten Linienkoordinaten jederzeit äquivalent und eindeutig abgebildet werden. Jede Figur oder Kurve aber, so verwickelt sie ihrer Entstehung nach auch sei, so sehr sie sich, rein phoronomisch betrachtet, aus einer Vielfalt von Bewegungen zusammensetzt, kann wieder umgekehrt in eine Gleichung gegossen werden, die das Gesetz der Kurve restlos in sich enthält. Da aber nun Zahl und Form gleichsam auf einen Generalnenner, die Länge, gebracht sind, darf in jedem der beiden an sich weltenweit verschiedenen Reiche ein Weiterbau, eine Zusammensetzung oder Zergliederung nach den eigentümlichen Gesetzen des betreffenden Reiches stattfinden. Mit den Gleichungen darf man nach Methoden der Arithmetik und Algebra rechnen wie mit Gleichungen, die nichts anderes bedeuten als eben Zahlenausdrücke. Mit den Figuren aber darf man konstruktiv nach Regeln der Geometrie umgehen, wie man will. Stets und an jeder Stelle jedoch muß sich trotz voneinander unabhängiger Behandlung der beiden Reiche in irgendeinem beliebigen Stadium wieder Übereinstimmung ergeben, wenn nur die Verschwisterung der Kurve und der Gleichung ursprünglich richtig und vollständig erfolgt ist. Es ist also jetzt ein janusköpfiger Algorithmus entstanden, eine Doppelmaschine mit zwangsläufiger Aneinanderkopplung. Und diese Großtat des Descartes beherrscht als „analytische Geometrie“, wie wir alle wissen, das mathematische Denken bis zum heutigen Tag.
Aber noch mehr: dieser Doppelalgorithmus wurde das Werkzeug, mit dem die abendländische Menschheit durch dessen Anwendung auf Physik, Mechanik und Technik das Antlitz des Planeten Erde verändert hat.


12[Bearbeiten]

Zwölftes Kapitel
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GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ
Mathematik als Kosmos
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Wenn wir für dieses Kapitel den Raum eines Buches zur Verfügung hätten, würden wir ihn, ohne zu ermüden, ausfüllen können. Denn der geradezu rasende Vorwärtssturm, der in der Mathematik im siebzehnten Jahrhundert trotz umwälzendster politischer Ereignisse vordrängte, hat kaum ihresgleichen in der Wissenschaftsgeschichte. Wenn wir politische Ereignisse hervorheben, denken wir nicht allein an den Dreißigjährigen Krieg. Denn auch die Raubkriege Ludwigs des Vierzehnten und der riesige Kampf, den England und Holland um die Seeherrschaft auf allen Meeren ausfochten, erfüllten dieses Jahrhundert und zogen Hauptakteure des mathematischen Geschehens, wie etwa einen Jan de Witt, in persönlichste Mitleidenschaft. Oder einen Hudde, der seine patriotischen Pflichten als Bürgermeister von Amsterdam für wichtiger hielt als sein algebraisches Genie und daher freiwillig aus dem Reigen der großen Mathematiker schied. Vor solchen Entscheidungen aber standen auch Leibniz und Newton, und die Türkeneinfälle zu Ende des Jahrhunderts machten es überhaupt fraglich, ob die Flut aus dem Osten nicht das ganze eben zur Dachgleiche gedeihende Gebäude abendländischer Mathematik wieder fortspülen und für Jahrhunderte verschlammen würde.
Gleichwohl - und das könnte als „heroisches Gesetz“ bezeichnet werden - stimmt der Satz: „inter arma silent Musae“ nur sehr bedingt. Daß die Musen im Waffenlärm schweigen, gilt nicht einmal für die Lyrik, nicht einmal für die Schilderung von Idyllen. Am allerwenigsten gilt dieser Satz, soweit uns bisher die Wissenschaftsgeschichte unterrichtet, von geistigen Bereichen, die von wirklichen Männern verwaltet werden. Und dazu gehören wohl in erster Linie die mathematischen Wissenschaften. Kulturgeschichtlich könnte man fast leichter den Satz beweisen, daß die Resonanz großen geschichtlichen Geschehens sich in die Seelen der geistigen Schöpfer fortpflanzt und dort befeuernd mitschwingt. Und wie die echtesten Frauen in Zeiten der größten Not sich nicht aus ihrer naturgegebenen Berufung zurückziehen und der Menschheit freudig neue Menschen schenken wollen, damit das Allgeschehen nicht ende, so werden eben in solchen Zeiten die Männer für Familie und Volk, jeder auf seinem Platze, die letzten, untersten Kräfte anspannen, um zur siegreichen Behauptung ihrer eigensten Welt beizutragen.
Daß wir solche Gedanken gerade im Zusammenhang mit Leibniz aussprechen, hat seine triftigen Gründe, Denn mit ihm trat wieder einmal ein Mann auf den Plan, der bewußt ausgezogen war, seinem zertretenen Volk zu neuem Aufstieg zu verhelfen. Und wieder zeigt es sich an Leibniz, wie am Beginne unserer Wissenschaft bei Pythagoras, daß brennendstes Nationalgefühl zugleich umfassendste und allgemeinste Weltgeltung in sich schließen kann, ja, in sich schließen muß; da ja nur ein Mensch, der schrankenlos dem Gesetze seiner Persönlichkeit folgt, der alle -Kräfte seines Wesens konzentriert, jenen Geist ausstrahlen kann, der, wie Goethe von Schiller sagt, früher oder später den Widerstand der dumpfen Welt bezwingt.
Doch wir wollen nicht vorgreifen, da bei Leibniz, mehr als bei irgendeinem anderen Mathematiker, die allgemeine Problemlage Voraussetzung für ein auch nur angenähertes Verständnis seiner Leistung und Bedeutung ist. Dies um so mehr, als, von Leibnizens Zeitgenossen beginnend, zwei folgende Jahrhunderte aus allerlei sehr durchsichtigen Motiven bestrebt waren, seine Gestalt und seine Leistung zu verdunkeln. Doch auch darüber können wir uns hier nicht ausführlich verbreiten. Wir müssen uns vielmehr sehr stark beschränken und wollen vorerst die allgemeine geistige Situation des siebzehnten nachchristlichen Jahrhunderts auf mathematischem Gebiet dadurch verdeutlichen, daß wir daran erinnern, wie radikal der große Descartes die „dicken Bücher“ der alten griechischen Geomet-er ironisierte und den Alten vorwarf, sie hätten ihre Ergebnisse nicht systematisch errungen, sondern gleichsam bloß unterwegs aufgelesen. Weniger als ein Menschenalter später hören wir von Leibniz, er habe gezeigt, wie beschränkt die Geometrie des Herrn Descartes sei, die wichtigsten Probleme hingen auch nicht von Gleichungen der Art ab wie die, auf die sich die ganze Geometrie des Herrn Descartes reduziere, und so fort. Schon die Ausdrucksweise „Herr Descartes“ zeigt uns die Kürze des verflossenen Entwicklungszeitraumes. Leibniz polemisiert, obwohl Descartes schon tot ist, gleichsam mit einem noch Lebendigen. Und er stößt sogar schließlich so weit vor, daß er sagt: „Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten, als ich sah, daß er (nämlich der Gartesianer Malebranche) die Algebra für die größte und erhabenste aller Wissenschaften hält“
Wie weit Descartes und Leibniz mit ihren Urteilen übers Ziel schossen, soll hier nicht erörtert werden. Es wird sich von selbst durch unsre folgenden Betrachtungen herausstellen. Wir wollten aber zeigen, wie diese beiden Bahnbrecher subjektiv das Tempo der fortschreitenden Entwicklung empfanden. Und wir sehen, daß wir es ohne alle Übertreibung als „rasendes Werden“ bezeichnen dürfen. Sonst ware es vollends unverständlich, daß der eine alle vorhergegangenen Leistungen bespöttelt und der andere kaum vierzig Jahre später über diese geistige Revolution lacht.
Wir werden uns also bemühen müssen, sowohl das Neue als auch das Verbindende dieses Entdeckungszeitraumes, dieser wahrscheinlich fruchtbarsten aller bisherigen Epochen der Mathematik, genau zu verdeutlichen. Dazu aber müssen wir sehr weit ausholen. Allerdings nur, soweit unsere Erörterungen über Leibniz die Mathematik des Unendlichen, die sogenannte Infinitesimalrechnung, betreffen. Sonst wäre es uns weder möglich, diese Rechnungsart selbst zu begreifen, noch könnten wir die weltbewegenden Folgen der Leibnizschen Taten in das richtige Licht stellen.
Wir wissen aus unserem Archimedes-Kapitel, daß die Beschäftigung mit Unendlichkeitsproblemen auch auf hellenischem Boden durchaus keine Seltenheit war und daß sie durch Archimedes selbst einen geradezu staunenswerten Aufschwung erlebte. Dieser Aufschwung führte allerdings nicht zu einer allgemeinen Methode, sondern blieb gleichsam in Einzelproblemen stecken und erweiterte sich nicht mehr wesentlich, wenn auch in nachchristlicher antiker Zeit Pappos in seinem fünften Buch bis zu den isoperimetrischen Problemen vordrang, die in gewisser Hinsicht unseren Aufgaben über maximale und minimale Werte einer Funktion verwandt sind.
Wir sprachen bereits von der „Rezeption“ der klassischen Mathematik des Altertums. Und behaupteten, sie habe sich gleichsam in zeitlich umgekehrter Reihenfolge vollzogen. Diese Behauptung stimmt, wenn man erst Leibniz und Newton als Vollrezeptoren des Archimedes oder als seine neuzeitlichen Entsprechungen ansieht. Allerdings hatte diese Vollrezeption eine nicht unbedeutende Vorgeschichte, in die wir jetzt eingehen wollen. Wir werden dabei auch die Gründe erfahren, die es uns unmöglich machen, diese Vorläufer mit Archimedes auf eine Ebene zu stellen, da wir sie viel eher mit Demokrit oder äußerstenfalls mit den Vorläufern des Eudoxos, als kultursynchron im Sinne Spenglers, vergleichen dürfen.
Wir nennen an erster Stelle Galilei und seine Schüler. An zweiter Stelle Johannes Kepler, mit dem wir gleichwohl beginnen werden. Zuerst wollen wir darauf hinweisen, daß Astronomie und Physik sicherlich bei der Entdeckung der neueren Infinitesimalrechnung Pate standen. Allerdings nur bei einer ganz bestimmten Spielart dieses Kalküls, die man eher als die phoronomisch-dynamische Betrachtung der Unendlichkeitsprobleme bezeichnen könnte und die in Isaac Newton ihre weithin leuchtende Spitze fand. Es ist jene Seite des faustischen Geistes, der wir bereits bei Nicole von Oresme, Bradwardinus und Cusanus begegnet sind, jene Darstellung der „Formen“ und jene Analyse der Bewegungen, die irgendwie stets an die Paradoxien der auch im neuen Abendland sehr wohlbekannten Philosophie Zenons stoßen mußte. Bei Kepler, diesem eigentümlichen, wandernden Genius, war es ein rein äußerlicher Anlaß, der hier, beinahe im wörtlichsten Sinne, dem Faß den Boden ausschlug. Es gab nämlich in Linz in Oberösterreich, wo Kepler damals eben weilte, im Jahre 1612 eine ganz ausnehmend gute Weinernte, die übrigens das ganze österreichische Donautal und dessen benachbarte Weingelände betraf. Als nun Kepler von dieser „Konjunktur“, wie wir heute sagen würden, persönlich Nutzen zog und einige Fässer Weins erstand, die in Linz von donauaufwärts geschleppten Schiffen ausgeladen und geradezu verschleudert wurden, da war er sehr verwundert, als der Verkäufer zur Berechnung des Faßinhaltes einfach eine Meßrute in das Spundloch steckte und aus der Entfernung dieses Spundloches von der gegenüberliegenden Daubenwand den Inhalt des Fasses berechnete. Kepler wußte nämlich, daß man am Rheine entweder den Faßinhalt krugweise bestimmte, oder aber,wenn man schon Maßstäbe anwandte, zahlreiche Messungen durchführte, bis man daraus endlich den Faßinhalt ableitete. Er grübelte drei Tage über das Problem der Kubatur von Weinfässern, die er als Umdrehungskörper auffaßte, und löste die Aufgabe. Dabei soll so geht eine Art von Legende - auch eine andere Erwägung maßgebend gewesen sein. Man wußte nämlich infolge der Überfülle des Weines kaum, wie man ihn unterbringen sollte. Und Kepler habe gehofft, eine Faßform ausfindig zu machen, die bei gleicher Oberfläche, also gleichem Materialverbrauch, größeren Kubikinhalt besitze als die tatsächlich verwendeten Fässer, was natürlich wirtschaftlich von großem Vorteil gewesen wäre, da ja sowohl das Faßholz als die Faßbinderarbeit sehr teuer waren und noch heute teuer sind. Er überzeugte sich jedoch, daß die „dolia Austriaca“, also die österreichischen Fässer, eine fast maximal gute und zweckmäßige Form hatten, eine viel bessere jedenfalls als die rheinischen, was ihn zum Ausspruch veranlaßte: „Quis neget, naturam instinctu solo, sine etiam ratiocinatione docere geometriam?“ Wer also könne leugnen, daß die menschliche Natur allein, auch ohne jede grüblerisch rationale Überlegung, die Grundwahrheiten der Geometrie lehre? So müßten wir frei diese merkwürdige Stelle übersetzen, der Kepler noch irgendwo hinzufügt, daß die Menschen dabei einzig und allein durch ihre Augen (Augenmaß) und durch die Schönheit des Gegenstandes angeleitet würden. Also Intuition und ästhetischer Proportionen- und Formensinn sind gleichsam Naturvoraussetzung geometrischen Erfindergeistes. Doppelt merkwürdig dieser Ausspruch für einen Kepler, den die Nachwelt stets gerne hätte zum kühlen, trockenen Rechner und steinernen Rationalisten umbiegen wollen. Wir wollen es an dieser Stelle auch nicht unterlassen zu bemerken, daß man Überraschungen auf Schritt und Tritt erlebt, wenn man sich aller mehr oder weniger befugten Geschichtsvermittler entledigt und in geistesgeschichtlichen Dingen die Quellen selbst betrachtet. Es ist ja begreiflich, daß der Parteien Haß und Gunst die Charakterbilder verwirrt und die Geschichte schwankend macht. Aber solch eine schwankende Geschichte kann schließlich ein ganzes Volk um seine Zukunftslinie bringen, insbesondere, wenn sie aus dem dämonischen Kepler einen trockenen Rationalisten und aus dem faustischen Tatmenschen Leibniz einen verschrullten Bücherwurm oder gar den Anführer der liberalistischen Aufklärung macht. Große Geister müssen stets komplexe Naturen sein, ja geradezu irrationale, da sie sonst die ebenfalls komplexe, irrationale Struktur der Welt nicht umfassen könnten. Daher findet man in ihren Werken leicht „Belegstellen“ für allerlei Hypothesen. Gleichwohl gibt es für den historischen Psychologen auch eine andere, sozusagen ausgezeichnete oder bevorzugte Art von Belegstellen. Das sind Ausrufe, die mit einem Schlag blitzartig die dunklen Hintergründe der Weltansicht des Mannes enthüllen und an denen nicht weiter gedeutelt werden kann, weil sie eben eindeutig sind. Ein verbohrter Intellektualist kann niemals, gleich Kepler, behaupten, die Natur selbst lehre uns eine Aufgabe der Maximumrechnung lösen. So etwas könnte höchstens als überintuitionistisch oder metalogisch schärfstens bekämpft werden.
Wir müssen aber auch hier unsere methodologische Polemik abbrechen, so interessant ihre Fortsetzung wäre. Wir stellen also fest, daß Kepler vom Problem der Weinfasser nicht mehr loskam und schließlich im Jahre 1615 in Linz sein epochales Werk „Nova Stereometria Doliorum Vinariorium. accesit Steriometriae Archimedae supplementum“ drucken ließ, nachdem ein überweiser Verleger in Augsburg die Herausgabe des Werkes abgelehnt hatte, da ein solcher, sozusagen kompromittierender Gegenstand auch von einem hochberühmten Mann nicht zu wissenschaftlichem Rang erhoben werden könne. Diese „neue Stereometrie der Weinfässer“, die zugleich, wie der Titel sagt, eine Ergänzung der archimedischen Stereometrie darstellen sollte, ist in der abgekürzten Bezeichnung „Doliometrie“ oder „Fassermessung“ trotz des Verlegerurteils in die klassische Ewigkeit eingegangen. Sie ist unter anderem auch in deutscher Übersetzung erst in jüngerer Zeit in „Ostwalds Klassikern“ neu herausgegeben worden. Ihr Inhalt ist ein großartiger. Nicht weniger als 92 neue Kubaturen von Umdrehungskörpern leistet Kepler über Archimedes hinaus, denen er nach ihrer Gestalt die Namen der „apfelförmigen“, „zitronenförmigen“, „olivenförmigen“ und so weiter gibt. Im weiteren Verlauf des Werkes befaßt er sich dann mit den Weinfassern und kommt durch die Natur seines Problems zwangsläufig zu Maximumaufgaben, wie wir schon andeuteten, wobei er sich bereits scharfer noch als Nicole von Oresme der Tatsache bewußt wird, daß die Veranderungen einer Funktion dicht beim Maximumswert zu verschwinden beginnen.
Nun dürfen wir leider auch hier nicht lä,nger verweilen, sondern wir müssen uns einer andern markanten Gestalt dieser Zeit, dem Jesuiten Bonaventura Cavalieri, zuwenden, der als Professor in Bologna seine berühmte „Geometria indivisibilibus continuorum nova quadam ratione promota“ im Jahre 1635 veröffentlichte. Cavalieri war Schüler Galileis und seine „Geometrie der Indivisiblen“ erregte großes Aufsehen. Allerdings behaupteten schon die Zeitgenossen, das Werk müßte mit dem Preis der Dunkelheit ausgezeichnet werden, wenn ein solcher zur Vergebung gelangte. Wir haben schon einmal die Mitwelt den Titel der „Dunkelheit“ verleihen gesehen. Es ereignete sich dies bei Heraklit. Und es erfolgte merkwürdigerweise fast im gleichen Zusammenhang, nämlich gelegentlich der dynamischen Konstituierung des Stetigen oder des Kontinuums. Wir müssen allerdings auch heute, da wir nach der Arbeit zweier Jahrhunderte tief in die Abgründe der Infinitesimalbetrachtung hineinschauen, sagen, daß Cavalieri tatsächlich kein Musterbeispiel von Klarheit war; Dies geht so weit, daß er seinen Hauptbegriff, seine „unteilbaren Elemente“, oder wie man die „Indivisiblen“ übersetzen soll, nirgends definiert und dadurch seinen ganzen, äußerst kühnen Aufbau gleichsam vollständig in Schwebe hält. Warum er dies tat, ist bis heute ein Geheimnis und es sind darüber allerlei Vermutungen aufgetaucht, um so berechtigtere, als Cavalieris Ergebnisse, im Gegensatz zu der von ihm erläuterten Methode, sehr richtige und eindeutige sind. Manche Geschichtsforscher glauben daher annehmen zu müssen, Cavalieri, der ja Ordensgeistlicher war, habe sich, insbesondere nach den Ereignissen um Galilei, gescheut, eine Theorie allzu deutlich preiszugeben, die vielleicht als revolutionär hätte angesehen werden können. Wir wollen uns aber nicht in so komplizierte spezialgeschichtliche Fragen einlassen, sondern berichten, daß im Gegenstande selbst für die damalige Zeit ungeheure Schwierigkeiten lagen. Und daß es weiters seit der Renaissance üblich geworden war, der Erfindungskraft mehr Wert zuzusprechen als der logischen Strenge. Dies stimmt auch genau mit all dem zusammen, was wir über die „Rezeption“ der Griechen behaupteten. Der faustische Weg ähnelte viel eher dem prometheischen und dionysischen als dem euklidischen und apollinischen.
Cavalieri nun stellte sich alle geometrischen Gebilde als Gesamtheiten von Linien oder von Ebenen vor, je nachdem es sich um ebene oder räumliche Gebilde handelte. Diese „Summa omnium. . .“ entsteht durch ein „Fließen“, indem eine Parallellinie in die andere, eine Parallelebene in die andere übergeht. In einem späteren Werk vergleicht Cavalieri bildhaft die Flächen mit Geweben und die Körper mit Büchern. Auf jeden Fall aber fordert er im ersten Satz des siebenten Buches seiner Indivisibiliengeometrie, daß Gebilde der Ebene wie des Raumes nur dann inhaltlich gleich sind, wenn in gleicher Höhe die beiden geführten Schnitte gleiche Strecken bzw. gleiche Flächen ergeben. Das ist der berühmte grundlegende Satz von Cavalieri, den wir auf der Schule lernen und der aller Raummessung zugrunde liegt. Aber eigentlich auch aller Flächenmessung. Wir haben durch die Tatsache seines Jahrhunderte währenden Gebrauches fast vollkommen das Gefühl dafür verloren, daß es sich bei diesem Prinzip nicht bloß um eine rein infinitesimale Überlegung handelt, sondern daß diese Überlegung darüber hinaus auch nach allen Richtungen logisch bedroht und in sich paradox ist. Das sehen wir gleich an einem Angriff Guldins auf Gavalieri, jenes Guldin, nach dem die „Guldinsche Regel“*) benannt ist, obwohl sie durchaus nicht von ihm, sondern bereits im hellenischen Altertum entdeckt wurde.
[„Der Rauminhalt eines Umdrehungskörpers ist gleich dem Produkt aus erzeugender Fläche und Weg des Schwerpunktes dieser Fläche.“]
Guldin also hält Cavalieri vor, daß, wenn man in einem beliebigen Dreieck ABC die Höhe BD fälle, diese das Dreieck in zwei im allgemeinen höchst ungleiche rechtwinklige Dreiecke zerlege. Wenn man weiters Parallele zur Grundlinie ziehe und von den Schnittpunkten dieser Parallelen mit den Dreiecksseiten AB und BC Lote zur Grundlinie AC konstruiere, dann müßten diese Lote als Parallele zwischen Parallelen paarweise gleich sein. Dies könne man nun durch unendlich viele Parallelenziehungen unendlich oft wiederholen und finde hierdurch schließlich, daß sich das Dreieck ABD aus denselben Bestandteilen, aus ebendenselben Indivisibilien zusammensetze wie das ganz ungleich große Dreieck BCD, womit jeder Schluß von der Indivisibilienzusammensetzung auf die Endgröße der „Summa omnium linearum“, also der Summe unendlich vieler Geraden (Strecken) in sich zusammenbreche. Cavalieri antwortet im Jahre 1647 in den „Exercitationes geometricae sex“ auf diesen und auf andere Einwürfe und stellt bezüglich des von uns ausführlicher gebrachten Angriffs fest, daß er ausdrücklich gefordert habe, die Indivisibilien müßten sich paarweise in gleichem Abstand befinden, um Inhaltsgleichheit zu erzeugen. Gleichwohl ist diese Auseinandersetzung ein erschreckendes Fanal in der Nacht der Unendlichkeitsbetrachtungen. Denn so richtig die Ent gegnung Cavalieris ist, so unwiderleglich ist der Einwurf Guldins. Wir bewegen uns bei der Annahme aktualer Unendlichkeit sofort in lauter Gegengesetzlichkeiten (Antinomien), und auch die Mengenlehre, die zur Überbrückung solcher Antinomien geschaffen wurde, hat uns erst in jüngster Zeit durch die Forschungen Zermelos, Hausdorffs und anderer in noch ärgere Paradoxien gestürzt.
Wir sind aus Raumgründen und infolge des Wesens unserer Epochengeschichte leider nicht imstande, eine nur halbwegs vollständige Entwicklungsgeschichte der Infinitesimalmathematik zu geben. Wir müssen uns deshalb mit dem Hinweis begnügen, daß nach Kepler und Cavalieri das Problem durchaus nicht aus dem Gesichtsfeld der Mathematiker entschwand.
Im Gegenteil: eine fast ununterbrochene Kette von Einzelleistungen schließt sich den von uns erwahnten Anfangen an, und die Namen Fermat, Pascal, James Gregory, Wallis stehen mit diesen Problemgruppen im Zusammenhang, wobei besonders hervorzuheben ist, daß dem Engländer Wallis der Ruhm gebührt, das Problem des „Grenzüberganges“, d. h. also das Problem des Überganges vom Endlichen zum Unendlichen und umgekehrt, in voller Breite durchschaut und aufgerollt zu haben.
Wir müssen aber anderseits - und dies ist einer der Hauptgründe, warum wir auf diese Einzelleistungen nicht näher eingehen -, wir müssen also feststellen, daß es sich dabei meistens tatsachlich bloß um Einzelleistungen handelt, die außerdem nur die eine Seite der Unendlichkeitsrechnung, nämlich die Integralrechnung, also die Aufgaben der Quadraturen, Kubaturen und Rektifikationen von Kurven betrafen. Es heißt also auch nicht mehr, wenn gesagt wird, daß sowohl Newton als Leibniz eigentlich die Unendlichkeitsrechnung nicht zu entdecken gehabt hatten, denn sie sei bereits vorgelegen. Gewiß, der Gedanke der Integration lag vor. Das ist um so weniger zweifelhaft, als er ja schon bei Archimedes vorlag. Es ist aber doch etwas mehr als ein oberflächlicher Unterschied, wenn man bis auf Newton und Leibniz ganze Bände brauchte, um einige wenige bestimmte Fälle von Integrationen zu berechnen, oder wenn man in wenigen Worten eine vollständig allgemeine Methode aufstellt, die es uns gestattet, jedes beliebige derartige Problem in Angriff zu nehmen. Wir stehen eben wieder vor einem Wesensunterschied, der etwa dem Unterschied zwischen den „Koordinaten“ des Apollonios und des Descartes entspricht.
Wir haben einige Male „Newton und Leibniz“ gesagt, als ob es sich um eine gemeinsame Entdeckung handelte. Mit diesem „und“ aber berühren wir einen der verwickeltsten Prioritätsprozesse, die die Wissenschaftsgeschichte aufzuweisen hat. Noch in jüngster Zeit fanden sich ansonst ernst zu nehmende Mathematikhistoriker wie Eneström, die an eine Entscheidung des Prioritätsstreites nicht glauben und das üble Licht, das zwei Jahrhunderte über Leibniz lag, gerne weiterbestehen ließen. Wir werden also in diesem Kapitel doppelt vorsichtig und genau zu Werke gehen müssen, um das wirklich Wesentliche herauszustellen und auch das eigentlich Widersinnige des Prioritätsstreites zu beleuchten. Dazu aber genügt nicht allein die objektive Problemlage, sondern wir müssen die persönlichsten Komponenten Leibnizens zu durchdringen versuchen.
Leibniz wurde im Jahre 1646, also zwei Jahre vor dem Westfälischen Frieden, der dem Dreißigjährigen Krieg ein Ende setzte, zu Leipzig als Sohn eines angesehenen Universitätsprofessors geboren. Schon in frühester Jugend zeigte er unwahrscheinliche geistige Fähigkeiten, die allerdings in seiner Vaterstadt nicht anerkannt wurden, weshalb er in Nürnberg, das ihn freundlich aufnahm, zum Doktor der Rechte promovierte. Dort auch lernte er den Staatsmann Baron Boineburg kennen, was für ihn schicksalhaft wurde. Er trat zuerst in dessen persönliche Dienste, dann in den Dienst des Kurfürsten von Mainz, des Landesherrn Boineburgs, und ging in kurmainzischer diplomatischer Mission im März 1672 nach Paris. Dort geriet er rasch in den Brennpunkt des geistigen Lebens, wurde mit dem Physiker und Mathematiker Huygens, den Schriften Pascals und Descartes” bekannt und lernte auch gelegentlich einer Reise nach England berühmte englische Mathematiker kennen. So sehr nun auch diese äußeren Umstände auf sein geistiges Schaffen einwirkten, ist es nach unserer Ansicht doch viel mehr seine innere Strukturierung gewesen, die das Wunder seiner Entdeckungen veranlaßte. Die Zeit war reif geworden, den letzten algorithmischen Ansturm zu wagen, insbesondere für einen Leibniz, der schon als Jüngling von einer „allgemeinen Charakteristik“, von einem Logikkalkül geträumt hatte, welcher uns als allgemeine Denkmaschine in den Stand setzen sollte, auf alle Fragen eine gleichsam automatisch erzeugte Antwort zu erhalten. Eine „Cabbala vera“, eine „lullische Kunst“ sollte uns führen, eine „ars inveniendi“ und „ars combinatoria“. Also eine spezifische Entdeckungskunst und eine Kombinationskunst. Wir sehen hier zum ersten Male das algorithmische Ideal in vollster Allgemeinheit und vollster Bewußtheit aufgerichtet. Und dazu mit einer zähen Planmäßigkeit, die sich in kurzer Zeit in mehr als einer Tat bewies.
Also noch einmal und so deutlich als möglich: der kaum der Kindheit entwachsene Leibniz ging durchaus nicht darauf aus, ein Mathematiker zu werden. Er war vielmehr von universellstem Wissensdurst verzehrt und von einem auch rein äußerlichen Tatendrang, der ihm in die politischen Geschicke Polens einzugreifen gebot und ihm den Mut gab, zugunsten der deutschen Sicherheit dem Sonnenkönig Ludwig XIV. eine Expedition nach Agypten vorzuschlagen. Leibniz war zu dieser Zeit fast ausschließlich Philosoph und Jurist, vielleicht noch Historiker, Chemiker, Physiker und Theologe. Die ungeheure Vielfalt des Wissens, die Durchdringung gewordener Wissenschaft aber genügte ihm nicht. Er wollte mehr, viel mehr. Und wie Goethes Faust des „Nostradamus altes Buch“ aufschlägt, wie er seine Wißbegier mit Zauberei verschwistert, suchte der junge Leibniz, der faustischeste aller Geister, nach der wahren Kabbala. Geschult und erfahren durch antike und scholastische Literatur, beschwor er den Geist des Raimundus Lullus herauf, bei dem er eine deutliche Andeutung des einzuschlagenden Weges gefunden zu haben glaubte. Es mußte - das war Leibnizens Überzeugung - möglich sein, in umfassendster Art durch Kombination aller einfachen Dinge die zusammengesetzteren zu gewinnen, wobei man noch den Vorteil hatte, daß einem auf diesem synthetischen, zusammenfügenden Entdeckungswege nichts entschlüpfen konnte.
Es ist klar, daß Leibniz, auch bevor er nach Paris kam, elementare Kenntnisse der Mathematik besaß. Aber, auch das ist bezeugt, tatsächlich nur höchst elementare. Daher ist es mehr als verständlich, daß ihn in Paris ein geistiger Rausch überkam, als er sah, wie viel an bereits Geschaffenem seinem Vorhaben willig entgegenströmte. Die tiefere Mathematik, insbesondere die Gartesische Algebra, die Logarithmen, die Analytik, die Bemühungen um Reihenentwicklungen, Cavalieris Indivisibilien, die Imaginarzahlen, all das mußte ihm wie Offenbarungen erscheinen. Und er berichtet selbst über die Entdeckungs-Schauer, die ihn überliefen, als er fand, daß
sei.
Gut, er erzählt uns die Anekdote, wie er dieses Resultat Huygens zeigte und dieser darüber sehr erstaunt war, in klaren, schlichten Worten. Aber hinter diesen Worten fühlt man die Erregung zittern, die ein solches Ergebnis in Leibniz aufwühlen mußte. Denn hier lag eine ungeheure Bestätigung seines eigentlichsten Lebenszieles vor seinen Augen. Der Algorithmus, die Denkmaschine hatte es zustande gebracht, daß die Summe zweier Wurzeln aus „komplexen Zahlen“, wie wir heute sagen, also die Summe zweier durchaus unverständlicher und unvorstellbarer Ausdrücke, ein zwar noch irrationales, gleichwohl jedoch unleugbar greifbares Resultat lieferte.
Wie gesagt, dürfen wir bei Einzelheiten leider nicht verweilen. Wir wollen nur anmerken, daß Leibniz in dreifacher Art den Algorithmus als solchen ausbaute. Zuerst durch die Erfindung der Rechenmaschine, deren Konstruktion in den wesentlichsten Einzelheiten auch noch den heutigen Maschinen zugrunde liegt. Er war allerdings nicht der erste Ideenbringer auf diesem Gebiet, sondern setzte zum Teil die Gedanken Pascals fort. Jedoch war seine Maschine sicherlich weit vollkommener als die funktionsunfahige Konstruktion Pascals. Wir sehen hier vom praktischen Nutzen der Rechenmaschine ganz ab. Wir betonen nur, daß sie gleichsam das Stahl und Zahnrad gewordene Sinnbild Leibnizscher Algorithmussehnsucht war. Auch bei der Maschine leistete ja eine verborgen bleibende kombinatorische Kunst die Rechnung, schnurrten Räder ab, die man ein für alle Male konstruiert hatte. Zwischen Frage und Lösung lag der selbsttatige Mechanismus, lag die Brücke des Algorithmus. Dieser erste große Triumph, der sichtbar bestätigte, was Leibniz anstrebte, befeuerte ihn zu neuen Taten. Er versuchte sich in einem zweiten, weit verwickelteren Mechanismus, der es endlich ermöglichen sollte, das arithmetische Gegenstück zu den Exhaustionsversuchen der Alten zu bilden. Dieses Anpürschen an die irrationalen und transzendenten Zahlen, denen man ja schon durch Dezimalbruchentwicklungen hatte zu Leibe rücken wollen, konnte nur durch Reihen erfolgen. Und es liegt daher ganz auf der Linie Leibnizscher Gedankengänge, wenn er den Algorithmus der Reihen ausbildete, wo er auf derartige Probleme stieß. Und es ist bekannt, obgleich auch hierin andere Prioritatsansprüche erhoben wurden, daß Leibniz wahrend seines Pariser Aufenthaltes die auch heute noch nach ihm benannte unendliche Reihe entdeckte. Diese sogenannte „Leibniz-Reihe“, die aus einer Reihenentwicklung der Arcustangensfunktion sich herleitet,
gibt bei für
den Wert
Allerdings eignet sich diese Reihe nicht besonders zur tatsächlichen Berechnung von az, was nichts daran ändert, daß sie tiefe theoretische Einblicke in den Bau dieser Funktionen vermittelt.
Wir haben schon einige Male das Wort „Funktion“ ausgesprochen. Dieser Begriff nun war die dritte Aufgabe, auf die sich die algorithmische Bemühung Leibnizens in seiner Pariser Zeit in vollster Allgemeinheit richtete. Der verdienstvolle Leibniz-Forscher Dietrich Mahnke sagt in seiner Arbeit „Zur Keimesgeschichte der Leibnizschen Differentialrechnung“, daß Leibniz schon im Jahre 1673 so weit gelangt war, daß er in seiner großen Abhandlung: „Methodus tangentium inversa seu de functionibus“ die Gleichwertigkeit der inversen Tangentenprobleme mit Quadraturen und Rektifikationen erkannte und sie gemeinsam, als infinitesimale Summationen, den gewöhnlichen Tangentenproblemen gegenüberstellte, die mit infinitesimalen Differenzenbildungen gleichbedeutend sind; hier führte er auch schon den Ausdruck „functionem faciens“ oder verkürzt „functio“ für gesetzmaßig veranderliche Größen ein, z. B. für Tangenten, Normalen, Subtangenten und andere Strecken, die an einer Kurve eine „Funktion“ oder „Verrichtung“ ausüben. Z. B. sie berühren, auf ihr senkrecht stehen usw., und nun, wahrend sie mit der Kurve fortschreiten, in variabler Größenrelation zur Abszisse oder Ordinate der Kurve stehen . . . So weit Mahnke. Wir wollen nun in möglichst gemeinverständlicher Art diese aufschlußreiche Stelle erörtern.
Leibniz hat also bereits 1673 gewußt, daß sich der Unendlichkeitskalkül aus zwei voneinander getrennten Problemgruppen zusammensetzen müsse. Aus der „umgekehrten“ und der „gewöhnlichen“ Tangentenaufgabe. Die inverse Tangentenaufgabe sei gleichwertig mit Quadraturen und Rektifikationen, die normale mit Differenzenbildungen unendlich kleiner Größen. Was heißt das? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir an die Entdeckung, besser die Erfindung der Koordinaten erinnern. Innerhalb eines solchen Bezugssystems drückt sich die Kurve durch eine Gleichung aus, und es kann nun in zweierlei Art gefragt werden, wenn man, wie es Roberval schon tat, sich die Kurve aus der Tangente entstanden denkt. Man kann nämlich einmal fragen, welchem durchgängigen Richtungsgesetz eine Tangente entsprechen muß, damit sie an jeder Stelle, gleichsam in jedem Punkt der Kurve, also bei jedem willkürlichen Wert der Abszisse, bei jedem x, aus einer Formel eruierbar ist, die allgemein für jeden Punkt der Kurve gilt. Das ist das normale Tangentenproblem, das, wie Leibniz sagt, arithmetisch auf Bildung infinitesimaler Differenzen hinausläuft, da wir ja, um die Formel zu gewinnen, einen Punkt der Kurve mit dem vorhergehenden oder nachfolgenden Punkt differentiell vergleichen müssen. Setzen wir weiters, und das ist unerlaßliche Vorbedingung, den stetigen und gesetzmäßigen Verlauf der Kurve voraus, dann muß der Vergleich benachbarter Punkte das Gesetz der Richtungsänderung als das Gesetz der an der Kurve gleichsam abrollenden Tangente offenbaren. Wenn wir weiters, und das ist jetzt das „inverse“ oder umgekehrte Tangentenproblem, uns vorstellen, wir wüßten bereits diese Formel, nach der die jeweilige Tangente bzw. deren Neigungsänderung gewonnen werden kann, dann wird es uns durch ein geeignetes Rechnungsverfahren möglich sein, aus der Tangentenformel wieder die uns noch unbekannte Kurvengleichung zu gewinnen, die wir heute als primitive oder Stammfunktion bezeichnen. Daß diese Rechnungsoperation allerdings gleichwertig ist mit Quadratur und Kurvenlangenmessung oder Rektifikation der Kurve, war ein Genieblitz Leibnizens, der aus der Problemstellung allein noch nicht hervorgeht.
Nun hat aber Leibniz trotz dieser deutlichen Erkenntnisse noch mehrere Jahre gebraucht, um die Idee in die Tat umzusetzen. Die Tat hieß aber auch hier wieder nichts andres als Erfindung oder Aufstellung eines geeigneten Algorithmus oder zumindest einer entsprechenden Notation. Dabei erhielt er noch eine Erleuchtung durch eine weitere Entdeckung. Er war nämlich infolge seiner mathematischen Fähigkeiten von den Freunden des bereits verstorbenen Pascal gebeten worden, den Nachlaß dieses Genies zu sichten und herauszugeben. Hierbei fiel ihm eine Zeichnung in die Hand, die das Verhalten der Sinusfunktion im ersten Quadranten darstellte. Diese Zeichnung verallgemeinerte sich aber im entdeckungsbereiten Geist Leibnizens zur Erkenntnis des sogenannten „charakteristischen Dreiecks“, dessen Abbildung wir in der Figur wiedergeben.




Der Gedankengang Leibnizens ist hierbei folgender:
eine Tangente, die im Punkt A die Kurve berührt, steht in den Punkten B und C naturgemäß schon ein beträchtliches Stück von der Kurve ab. Wenn wir nun B und C als Endpunkte der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks betrachten, dessen Katheten zu den Koordinatenachsen parallel sind, dann ist dieses Dreieck einem andren Dreieck ähnlich, das aus der Tangentennormale, einem Stück der Abszissenachse und einer Parallelen zur Ordinatenachse gebildet wird. In unserer Fig. 7 ist dieses zweite Dreieck, dessen Scheitel im Punkt A liegt, durch dickere Linien hervorgehoben. Also, kurz gesagt, das schraffierte Dreieck ist ahnlich dem dickgeränderten Dreieck. Nun stellen wir uns weiter vor, daß sich die Punkte B und C in der Richtung der Pfeile stets mehr auf A zu bewegten. Dadurch wird das geschraffte Dreieck kleiner und kleiner werden, ohne jedoch seine Gestalt zu andern. Das heißt, es wird stets dem dickgeranderten Dreieck ahnlich bleiben. Diese Schrumpfung aber hat keine Grenzen. Man kann sie durch Zusammenrücken von B und C so weit treiben, wie man will, und es ist der Augenblick nicht anzugeben, wann es dadurch den Blicken gleichsam entschwindet, daß B, A und C in einen einzigen Punkt zusammenfallen. Hat jetzt, so fragt sich Leibniz, das geschraffte Dreieck zu existieren aufgehört? Man kann diese Frage mit Ja beantworten, da ein Dreieck begrifflich nicht mehr bestehen kann, wenn die Eckpunkte übereinanderliegen, also keine Möglichkeit mehr besteht, die Dreieckseiten zu ziehen. Man kann sich aber wieder nicht recht vorstellen, daß dieses Verschwinden mit einem Schlag eintritt, da ja Stetigkeit (Kontinuierlichkeit) der Linie vorausgesetzt ist. Ware es da, von einem andern Gesichtswinkel aus, nicht logischer, anzunehmen, daß das Dreieck zwar unseren Blicken irgendwann entschwunden ist, daß seine Eigenschaften aber erhalten geblieben sind? Wir wissen ja seit den alten Griechen, speziell seit Euklid, daß Proportionen mit der absoluten Größe nichts zu tun haben. Nun hat aber das geschraffte Dreieck stets die Proportionen des dickgeranderten gehabt, so weit wir es auch schrumpfen ließen, da es mit ihm ahnlich war. Wir dürfen also - und dies die Krönung der Leibnizschen Erkenntnis _ annehmen, daß zwar das geschraffte Dreieck verschwunden ist, seine Proportionen jedoch im dickgeränderten „charakteristischen“ Dreieck weiter, riesengroß und meßbar, vor unseren Augen stehen bleiben. Man kann also jetzt das Gesetz der Tangente für jeden Punkt durch ein Seitenverhältnis des charakteristischen Dreiecks oder, was dasselbe ist, durch eine Winkelfunktion des Neigungswinkels der Tangente ausdrücken. Wie aber findet man diese Funktion allgemein, wie vor allem bringt man diese Funktion mit der Kurvengleichung in Beziehung? Leibniz, das wissen wir schon, beschreitet hierzu den Weg der Differenzenrechnung, die er durch Grenzübergang zur Differentialrechnung ausbildet. Und zwar genügt als Fundament der ganzen Differentialrechnung eine einzige Formel, die als sogenannte „Leibniz-Formel“ in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist.




Wenn wir uns nämlich vorstellen, daß das x, also der Abszissenwert, gewachsen ist, dann wird auch das y, also die Ordinate, irgendwie gewachsen sein, falls es sich um eine steigende Kurve handelt. Bei einer fallenden müßte die Überlegung ein wenig anders vorgenommen werden, es würde sich aber im Wesen an der Untersuchung nichts ändern. Also wir stellten fest, daß, wenn wir das um eine noch vorläufig endliche Zuwachsgröße vermehren, auch das um eine Größe gewachsen ist. Hierzu zeichnen wir uns wieder eine Figur, die mit dem charakteristischen Dreieck eng verwandt ist. Wir ersehen aus ihr, daß wir hier bei endlichem Zuwachs bloß den Neigungswinkel der durch P und R gezogenen Sekante als Winkel gewinnen können, wenn wir etwa die Tangensfunktion aus dem Verhältnis von zu bilden.
Nun ist aber nichts andres als der Funktionswert von , vermindert um den Funktionswert von , da ja die Funktion sich nach Zuwachs in verändert.
Wir dürfen also sagen, der Tangens des Winkels oder, was dasselbe ist,


sei gleich


oder: die Differenz aus der um den Zuwachs vermehrten Funktion und der gegebenen Funktion, dividiert durch den Zuwachs von , kennzeichne die trigonometrische Tangente des Neigungswinkels der Sekante, die durch P und R geht.
Da wir aber nicht die Sekante, sondern die Tangente im Punkte P kennenlernen wollen, müssen wir einen unendlich kleinen Zuwachs annehmen. Wir suchen also jetzt nicht mehr den Winkel , sondern den Winkel , den wir aber, genau wie bei den endlichen Differenzen, gewinnen können. Denn auch in diesem Falle kann der Winkel nichts andres sein als der durch die Tangensfunktion ausgedrückte Neigungswinkel der Tangente mit der als durchwegs positiv betrachteten Abszissenachse.
Der Tangens von aber ist , und ergibt sich, rein algorithmisch, aus den beiden Gleichungen
und
mit
,
also als
und



[Die Winkelfunktion Tangens (tan) wird in alter Schreibweise tg geschrieben.]
Wir haben ein wenig vorgegriffen, da Leibniz selbst in seiner Bezeichnungsweise nicht sofort so schrieb, wie wir es taten. Aber im Wesen haben wir den Tatbestand der ersten Entdeckung richtig wiedergegeben, wenn wir uns auch einer etwas späteren Schreibweise bedienten. Wie gesagt, war mit dieser Leibniz-Formel der Algorithmus der „gewöhnlichen“ Tangentenaufgabe geschaffen, und es waren bloß mehr die Einzelregeln zu gewinnen, diese Formel richtig zu handhaben. Wir werden dies an einem einfachen Beispiel erläutern. Gegeben wäre etwa die Parabel und gesucht das Gesetz der Tangente oder der „Differentialquotient“ dieser Parabel für jeden Punkt.
Nach der Leibniz-Formel ist
und nach der Klammerauflösung


Nun muß der sogenannte Grenzübergang erfolgen, d. h. die Überlegung, welche der unendlich kleinen Größen für die Rechnung von Belang sind. Denn den obigen Ausdruck hätten wir ebensogut auch als Differenzenquotienten bei endlichen Zuwächsen erhalten, und wir gewännen dabei als
schließlich als Tangenswert der Sekanten.
Wir können jetzt diesen Grenzübergang in zweierlei Art bewerkstelligen. Entweder rechnen wir überhaupt zuerst mit dem Differenzenquotienten und erklären dann, daß bei einem Schwinden des zu , also zu einem unendlich kleinen Zuwachs, einfach zu wird, da Addition einer unendlich kleinen Größe eine endliche Größe unverändert läßt.
Somit ist .
Oder aber wir rechnen von Anfang an mit Differentialen und erklären in der Formel
das als „Kleinheit zweiter Ordnung“, die sich zu so verhält wie zu .
Wir dürfen also diese „Kleinheit zweiter Ordnung“ einfach weglassen und gewinnen aus
jetzt , also wieder dieselben als Differentialquotienten von .
Leibniz hat diese Kleinheit höherer Ordnung einmal dadurch plastisch zu machen versucht, daß er sagte, das Firmament verhielte sich zur Erde wie die Erde zu einem Staubkorn und die Erde wieder verhielte sich zum Staubkorn wie das Staubkorn zu einem magnetischen Teilchen, das durch Glas dringt. (Wir würden heute das „magnetische Teilchen“, das Leibniz prophetisch erwähnt, als Elektron bezeichnen. Das aber nur nebenbei.) Leibniz meint, daß das Firmament etwa das sei. Das wäre dann die Erde, das das Staubkorn und das das „magnetische Teilchen“.
Sicherlich genügt es, wenn man neben dem Firmament (Weltall) noch das Nichts Erde berücksichtigt. Das Staubkorn oder gar das „magnetische Teilchen“ zu berücksichtigen, ware um so sinnloser, als wir ja schon die Erde, also das , relativ zum Weltall als unendlich klein annehmen.
Wir müssen aber jetzt die Erörterung des speziellen Algorithmus abbrechen. Wir stellen also nur fest, daß Leibniz nicht bloß in kurzer Zeit die Differentiation der einfacheren Funktionen und ihrer Verknüpfung beherrschte, sondern sogar noch in Paris bereits höhere Differentialquotienten, also Differentialquotienten von Differentialquotienten, berechnete, die physikalisch sehr aufschlußreich sind, da der erste Differentialquotient die Geschwindigkeit und der zweite die Geschwindigkeitsveränderung oder Beschleunigung ausdrückt. Die höheren Differentialquotienten sind aber auch als Kriterium für Maxima und Minima, nämlich für die Frage, ob der berechnete Wert ein Maximum oder Minimum darstellt, unentbehrlich.
Für die Entdeckungsgeschichte ist es ein Glück, daß Leibniz die Gewohnheit besaß, wichtige Stationen seiner Forschungen zu notieren und diese Notizblatter mit genauem Datum zu versehen. Daher wissen wir, daß er noch in Paris am 29. Oktober 1675 zu vollster und allgemeinster Bewußtheit über seinen Kalkül gelangt war.
Er schrieb nämlich unter diesem Datum:
„Es wird nützlich sein, statt der Gesamtheiten des Oavalieri, also statt Summe aller von nun an zu schreiben. Hier zeigt sich endlich die neue Gattung des Calcüls, die neue Rechenoperation, die der Addition und Multiplikation entspricht.
Ist dagegen gegeben, so bietet sich sogleich das zweite auflösende Calcül, das aus wieder macht. Wie nämlich das Zeichen die Dimension vermehrt, so vermindert sie das . Das Zeichen aber bedeutet eine Summe, eine Differenz.“
Mit dieser Erkenntnis war der Algorithmus der Infinitesimalanalysis aufgestellt, der sich bald die Welt erobern sollte und der auch bis heute im Besitz der Weltherrschaft geblieben ist. Auf welchem Gebiet Leibniz am genialsten war, ist sehr schwer zu entscheiden. Daß er aber ein Spezialgenie der richtigen und adäquaten Schreibweise, der mathematischen Notation war, unterliegt nicht dem allergeringsten Zweifel. Über der Einführung von neuen Begriffen und neuen Zeichen liegt ein tiefes, wahrscheinlich unergründliches Geheimnis. Nur wenige dieser Begriffe oder Zeichen sind so „richtig“, so überdeckend, daß sie in allgemeinen Gebrauch kommen. Wenn sie aber einmal im Gebrauch sind, dann beweisen sie ein Beharrungsvermögen, als ob es sich um naturgewordene Gegenstände und nicht um bloße Konventionen handelte. Ein kleiner Teil des Geheimnisses ist vielleicht durchschaubar, soweit es sich um neue „Zeichen“ handelt. Sie müssen sich nämlich irgendwie in die Tradition einfügen, müssen gleichsam gestaltlich und rein ästhetisch in den mathematischen Kosmos passen. Man kann einem lebendig gewordenen Organismus, wie es dieser „mathematische Gegenstand“ ist, nicht einfach willkürlich irgendwelche künstlichen Organe aufpfropfen oder gar verlangen, daß irgendein „Befehl“ bloß durch ein Pünktchen erschöpfend gegeben sei, wenn man zur Ausführung schwierige und noch ungewohnte Operationen durchführen muß. Ein Befehl wie ist sehr durchsichtig. Er erinnert sofort an und zeigt durch die Hochstellung der Drei an, daß gleichsam etwas „Höheres“ gemeint ist als oder . Es ist eben damit gemeint. Wie nun sollte sich ein Mensch des siebzehnten Jahrhunderts vorstellen, daß Newtons eine so komplizierte Angelegenheit, wie die Bildung des Differentialquotienten, bedeute? Und gar erst das Integral über . Selbst in den heutigen Tages mit allem Raffinement gedruckten Büchern, in denen Newtons Schreibweise als historisches Kuriosum dargestellt ist, läßt der Punkt oberhalb des x oft aus, erscheint dem nicht vollständig Eingeweihten wie eine Druck-Unregelmaßigkeit, ein Papierfehler u. dgl. Aber es ist da noch viel mehr zu bemängeln. Die Struktur der Rechnung tritt bei Newton überhaupt nicht hervor, es entsteht nicht der geringste Einblick in das Zahnräderwerk des Algorithmus. Bei Leibniz dagegen überall.
Es sei uns deshalb gestattet, diese Notation in einer etwas vereinfachenden und vom strengen Standpunkte anfechtbaren Art zu beleuchten. Was wir dabei sündigen, werden wir später sofort wieder korrigieren. Aber - und dieses „Aber“ ist sehr entscheidend - wir behaupten, daß eben die populäre Vorstellung des Unendlichkleinen jener Anschauungsrest ist, der das rein Begriffliche, an sich jedoch Undurchschaubare des Algorithmus, zu sehr leichter Verständlichkeit hebt. Wir sprechen also nicht mehr bloß vom Verhaltnis der unendlichkleinen Größen, sondern vergrößern sie durch ein Zaubermikroskop einzeln und benennen sie „Differentiale“.
Für uns ist eine Länge, ebenfalls eine solche, und das Integralzeichen, das nichts andres ist als ein in die Länge gezogenes, zusammengedrücktes S (Summe), deutet an, daß es sich bei der Integration um eine stetige, ineinanderfließende infinitesimale Summe handelt. Hierdurch erhalten wir sofort einen klaren Überblick über den Mechanismus des Kalküls.
Hätten wir etwa die Gleichung gegeben, bei der wir noch gar nicht wissen müssen, daß sie den Differentialquotienten oder die „Derivierte“ der Funktion bedeutet, dann können wir, rein nach den Regeln der Gleichungen, auch schreiben oder . Nun wissen wir weiter, daß eine Gleichung sich nicht ändert, wenn wir auf beiden Seiten dieselbe Operation vornehmen. Fordern wir also kühn, daß wir, Oavalieris Spuren folgend, auf beiden Seiten die „Summa omnium linearum“ bilden wollen.
Da Leibniz es für „nützlich“ hält, werden wir nicht: „Omnia dy = Omnia f'(x)dx“ schreiben, sondern einfach .
Die Summe aller ist aber nichts andres als die Summe aller Zuwächse von 0 bis , also die Ordinate des Endpunktes des vorgelegten „Bereiches“.
Daher ist .
Nun ist aber weiters oder die ursprüngliche Funktion.
Daher ist oder, das Integral über dem Differentialquotienten ist gleich der Stammfunktion, aus der dieser Differentialquotient gewonnen ist. Dabei spielt das dx, das das Integral gleichsam abschließt, eine merkwürdige Rolle. Denn es ist nichts als der distributiv zuzuteilende Faktor, der aus jedem Wert des Differentialquotienten, also aus jedem , erst das die Fläche zusammensetzende Rechteck macht. Das ist also gleichsam die Schrittgröße oder der Abstand zwischen den Ordinaten. Wir haben bisher absichtlich verschwiegen, daß der Differentialquotient selbst ja nichts andres ist als das Verhältnis der unendlichkleinen Katheten des zusammengeschrumpften „schraffierten“ Dreiecks unsrer oben geschilderten Figur 7. Die Hypotenuse dieses Infinitesimaldreiecks ist jenes Stück, in dem die Kurve und die Tangente ein und dasselbe werden. Also das Geradbiegungs- oder Rektifikationsstück der Kurve. Wir wollen es mit bezeichnen und können nach dem Pythagoras-Satz behaupten, daß .
Da nun , so ist die Summe aller wieder und ist gleichbedeutend mit der Kurvenlänge. Daher ist weiters wegen die Kurvenlänge , woran sich allerdings allerlei weitere Erwägungen schließen müssen.
So also sieht der Zusammenhang des Kalküls der Differential- und der Integralrechnung aus, wenn man vom Differentialquotienten ausgeht. Wenn man dagegen, wie es Leibniz in seiner weltbewegenden Notiz getan hat, vom Integral ausgeht, und als gegeben betrachtet, dann findet man, daß , d. h. der Differentialquotient des Integralresultats, wieder zu y, also zu dem zurückführt, was unter dem Integral steht.
Wir haben nicht die Aufgabe und nicht den Willen, ein Lehrbuch der Infinitesimalrechnung zu geben. Wir wollten nur darstellen, wie einfach und zwanglos sich die Notation Leibnizens in die schon vorhandenen Algorithmen einbauen ließ und wie durchsichtig sie dabei war. Das „Differential“ konnte nirgends entschlüpfen. Es stand, mikroskopisch vergrößert, fortwährend in der Rechnung und blieb dabei unter Kontrolle. Und es ist Leibniz kaum je passiert, falsch zu rechnen, was sich bei höheren Differentialquotienten, die Newton , usw. schrieb, eben bei Newton selbst häufig ereignete, da er die Maschine trotz all seiner persönlichen Virtuosität nicht mehr meistern konnte.


Newtons Unendlichkeitsrechnung verhält sich zu der Leibnizens wie die Wortalgebra zur algorithmisch geschriebenen Algebra!


Das kann durch die Jahrhunderte nicht oft genug wiederholt werden, um den tiefsten Sinn oder Unsinn des Prioritätskampfes zwischen Leibniz und Newton deutlich hervortreten zu lassen. Ganz abgesehen davon, daß außer diesem Unterschied noch andere wesentliche Verschiedenheiten zwischen der Newtonschen und Leibnizschen Auffassung bestanden.
Wir wollen an dieser Stelle, bevor wir den eigentlichen Überblick über den mathematischen Kosmos Leibnizens zu gewinnen trachten, rein historisch berichten, daß Leibniz im Jahre 1684 in der durch ihn gegründeten Zeitschrift „Acta Eruditorum“ den Kalkül der Differentialrechnung in seiner Anwendung auf Maxima und Minima veröffentlichte. In dieser Arbeit wird auch der Doppelpunkt endgültig als Divisionszeichen eingeführt. Leibniz hatte sich erst neun Jahre nach der Entdeckung seiner Methode zur Veröffentlichung entschlossen, da sein Freund, der etwas abenteuerlich-genialische Walter Ehrenfried Graf von Tschirnhaus, bereits begann, Leibnizens ihm anvertraute Entdeckungen als eigene Erkenntnisse zu publizieren, wobei er sich allerdings gewöhnlich verrannte. Tschirnhaus war kein gewöhnlicher Mensch. Er war, wie gesagt, nur ein etwas stürmischer und diffuser Charakter. Es gelang ihm auch eine der besten Lösungsmethoden der kubischen Gleichungen. Doch dies nur nebenbei.
Nun war durch die Veröffentlichung der LeibnizMethode das Geheimnis der Unendlichkeitsanalysis ein für allemal aufgedeckt. Geniale Mitarbeiter, wie Johann und Jakob Bernoulli, Varignon, der Marquis de l'Hospital und andre, eigneten sich den Kalkül an und bauten ihn in wenigen Jahren so weit aus, daßäwir heute noch über diese Genieleistungen von einem Erstaunen ins andre geraten. Alle Wege bis zur infinitesimalen Variationsrechnung, einem der höchsten Zweige der Unendlichkeitsanalysis, wurden beschritten, obwohl die Grundlagen kaum noch festgefügt waren. Und wir begreifen kaum, wie die Bernoullis imstande waren, die kompliziertesten Integrale auszuwerten. Die Variationsrechnung - dies nur nebenbei - stellt als Problem, die Maximal- und Minimaleigenschaften nicht von einzelnen Kurvenpunkten, sondern von Funktionen an und für sich zu ergründen. So ist die sogenannte „Brachistochrone“ ein derartiges Problem. Man solle, so verlangt die von Johann Bernoulli den Mathematikern vorgelegte Frage, die Kurve finden, auf der sich ein nur der Schwere unterworfener Massenpunkt in einer senkrechten Ebene von einem höheren Punkt dieser Ebene zu einem tieferen, nicht lotrecht unter ihm befindlichen, in der kürzesten Zeit bewegt. Bei der Lösung, die durch Leibniz, de l'Hospital, Newton und die beiden Bernoullis gemeistert wurde, stellte es sich übereinstimmend heraus, daß diese Kurve eine Radlinie oder Zykloide sei. Und Jakob Bernoulli entdeckte hierbei noch das grundlegende Gesetz, daß diese„Brachistochrone“ nur dann als Ganze der gestellten Bedingung entsprechen könne, wenn die Bedingung auf jedes infinitesimale Stück der Kurve zutrafe. Also müsse auch jedes „Kurvenelement“ vom Punkte in kürzester Zeit durchlaufen werden.
Es war nicht zu verwundern, daß sich sofort heftige Gegner der neuen Methode zum Wort meldeten, obwohl der Kalkül Leibnizens mehr als einmal, nicht zuletzt bei der „Florentiner Aufgabe“, seine Richtigkeit augenfällig bestätigt hatte. Der Galileischüler Viviani hatte nämlich Leibniz herausgefordert, eine Aufgabe zu leisten, die er selbst nach archimedischen Prinzipien behandelt hatte. Leibniz gelangte durch seinen neuen Kalkül sofort zur gleichen Lösung und Jakob Bernoulli bewies zudem noch, daß unendlich viele Lösungen möglich wären. Die Aufgabe betraf den Schnitt einer Kuppel durch einen Zylinder, wobei vier Fenster in der Kuppel entstanden. Dabei sollte die Flache der übrigbleibenden Kuppel rational quadrierbar sein. Bei den oben erwahnten Angriffen, die auch durch solche Taten, wie sie die Lösung der Florentiner Aufgabe war, nicht zum Schweigen gebracht wurden, spielte viel absichtliches und unabsichtliches Mißverständnis eine Rolle, das dann noch durch den Prioritatsstreit mit Newton zur Überlebensgröße hinaufgetrieben wurde. Leibniz war in den Augen der Zeitgenossen fast ein Schwindler, ein geistiger Dieb und Charlatan. Einer jener Goldmacher, Hofintriganten und Abenteurer, wie man sie etwa in Hofrat Becher erlebt hatte. Weil es in der Barockzeit einige solche Figuren gab, nutzten dem großen Genius Leibniz alle Titel, Auszeichnungen und Ehrungen nichts. Man sagte „Unendlichkeitsparadoxien“ und meinte die nationale Gegensätzlichkeit Deutschland-England oder die Parteifehde zwischen Whigs und Tories. Wobei anerkannt werden muß, daß die Romanen unbedingt zu Leibniz standen und ihm früher sein Recht verschafften als die eigenen Landsleute. Nur der Tod hatte Leibniz gehindert, den Rest seines Lebens als Emigrant in Wien oder noch wahrscheinlicher in Paris zu beschließen, ein Plan, der die schlagendste Antwort auf das Verhalten der einzelnen Nationen gewesen wäre, wenn er hätte ausgeführt werden können.
Wie mehrfach erwähnt, ist es nicht unsere Aufgabe, die Prinzipien der Infinitesimalrechnung erschöpfend auseinanderzusetzen. Wir mußten aber anderseits beispielsweise einige grundlegende Prinzipien dieser Rechnung demonstrieren, da wir sonst das Verdienst Leibnizens gerade auf diesem Gebiet nicht hätten ins rechte Licht stellen können. Wir fügen an Einzelheiten noch bei, daß Leibniz zwar das Operationssymbol des Integrierens einführte, daß der Name „Integral“ jedoch von Jakob Bernoulli stammt. Die beiden mathematischen Großmächte Leibniz und Bernoulli einigten sich nämlich dahin, daß in Hinkunft das Zeichen Leibnizens, dagegen der durch Bernoulli geprägte Ausdruck Integral in der Mathematik angewendet werden solle. Ein Vertrag, der tatsächlich bis heute für die ganze Welt rechtswirksam geblieben ist.
Bevor wir weitere Verdienste Leibnizens um die Entwicklung der Mathematik erwähnen, die eigentlich erst das zum vollen Wirken brachten, was wir unter „Mathematik als Kosmos“ verstehen, müssen wir einem Irrglauben entgegentreten, der auch heute noch sehr verbreitet ist: daß nämlich Leibniz gleichsam in philosophischer Naivität oder auf Grund seiner berühmten Monadenlehre, die übrigens auch sehr gerne verdreht oder mißverstanden wird, frisch und fröhlich mit „Differentialen“ darauf losgewirtschaftet habe, die etwa die Rolle mathematischer Atome spielten. Daß er also in gröbste Fehler und Gegengesetzlichkeiten des Unendlichkeitsbegriffes ahnungslos hineingeschlittert sei, die nicht einmal den Angriffen Zenons aus Elea standgehalten hätten.
Wir behaupten nicht, sondern wir treten den Beweis an, daß das Gegenteil der Fall war. Gewiß, Leibniz hat, um seine allzuneuen Begriffe (auch für philosophisch minderbegabte Mathematiker) zu popularisieren, manchmal sehr beiläufig gesprochen. Diese Sprache war jedoch keine wissenschaftliche Erörterung, sondern eine pädagogischwissenschaftspolitische Angelegenheit. Als ihn der schon erwähnte Physiker und Mathematiker Varignon, der als erster den Satz des Kräfteparallelogramms allgemein formuliert hatte, in freundschaftlicher Weise auf die Bedenken und Angriffe aufmerksam machte, die sich bezüglich einiger Äußerungen Leibnizens in Frankreich erhoben, erwidert Leibniz unter dem Datum des 2. Februar 1702 folgende unmißverständlichen Worte: „Ich bin Ihnen, mein Herr, und den Gelehrten Ihres Landes sehr verbunden, daß Sie mir die Ehre erweisen, Betrachtungen über einen Brief anzustellen, den ich gelegentlich von Einwänden, die im ,Journal de Trevoux“ gegen den Differential- und Summenkalkül erhoben wurden, an einen Freund gerichtet hatte. Ich erinnere mich nicht mehr genau der Ausdrücke, die ich gebraucht haben mag, meine Absicht war jedoch, zu zeigen, daß man die mathematische Analysis von metaphysischen Streitigkeiten nicht abhängig zu machen braucht, also nicht zu behaupten braucht, daß es in der Natur Linien gibt, die, relativ zu unseren gewöhnlichen, in aller Strenge unendlich klein sind, noch auch solche, die unendlichmal größer als die gewöhnlichen sind. Um daher diese subtilen Streitfragen zu vermeiden, begnügte ich mich, da ich meine Erwägungen allgemein verständlich machen wollte, das Unendliche durch das Unvergleichbare zu erklären, d. h. Größen anzunehmen, die unvergleichlich größer oder kleiner als die unsrigen sind. Auf diese Weise nämlich erhält man viele Grade unvergleichlicher Größen, sofern ein unvergleichlich viel kleineres Element, wenn es sich um die Feststellung eines unvergleichlich viel größeren handelt, bei der Rechnung außer acht bleiben kann. So ist etwa ein Teilchen der magnetischen Materie, die das Glas durchdringt, einem Sandkorn, dieses wiederum der Erdkugel, die Erdkugel schließlich dem Firmament nicht vergleichbar. Daher habe ich früher in den „Acta Eruditorum“ einige Hilfssätze mit den Unvergleichbaren aufgestellt, die man sowohl auf das Unendliche im strengen Sinne, wie auch auf Größen anwenden kann, die, am anderen gemessen, nur nicht in Betracht kommen.
Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen - fährt Leibniz in diesem Briefe weiter fort -, daß die unvergleichlich kleinen Größen, selbst in ihrem populären Sinne genommen, keineswegs konstant und bestimmt sind, da sie vielmehr, weil man sie so klein annehmen kann, als man nur will, in geometrischen Erwägungen dieselbe Rolle wie die Unendlichkleinen im strengen Sinne spielen. Will nämlich ein Gegner unsren Sätzen die Richtigkeit absprechen, so zeigt unser Kalkül, daß der Irrtum geringer ist als irgendeine angebbare Größe, da es in unsrer Macht steht, das Unvergleichbarkleine - das man ja immer so klein, als man nur will, annehmen kann - zu diesem Zwecke hinlänglich zu verringern. Dies dürfte es wohl sein, was Sie mit dem Unerschöpflichen meinen, und zweifellos liegt darin der strenge Beweis unsrer Infinitesimalrechnung. Ihr Vorzug liegt darin, daß sie unmittelbar und augenscheinlich und in einer Art, die den eigentlichen Quell der Entdeckung freilegt, dasjenige gibt, was die Alten, so z. B. Archimedes, auf Umwegen vermittels des indirekten Beweises erreichten. Sie konnten indes mangels eines solchen Kalküls in verwickelten Fällen nicht zur richtigen Lösung gelangen, wenngleich die Grundlagen der Entdeckung ihnen bekannt waren. Man kann somit die unendlichen und unendlichkleinen Linien - auch wenn man sie nicht in metaphysischer Strenge und als reelle Dinge zugibt - doch unbedenklich als ideale Begriffe brauchen, durch welche die Rechnung abgekürzt wird, ähnlich den sogenannten imagiären Wurzeln in der gewöhnlichen Analysis, wie z. B. .
Mag man diese auch als imaginär bezeichnen, so sind sie dennoch nützlich und bisweilen sogar unentbehrlich, um auf analytische Weise reelle Größen auszudrücken. So ist es z. B. unmöglich, ohne ihre Hilfe den analytischen Ausdruck einer Geraden zu geben, die einen gegebenen Winkel in drei gleiche Teile teilt. Ebenso könnte man unsren Kalkül der transzendenten Kurven nicht aufstellen, ohne von Differenzen zu sprechen, die im Begriffe sind, zu verschwinden, wobei man ein für allemal den Begriff des Unvergleichbarkleinen einführen kann, statt stets von Größen zu reden, die unbegrenzter Verminderung fähig sind. In derselben Weise denkt man sich mehr als drei Dimensionen und selbst Potenzen, deren Exponenten nicht gewöhnliche Zahlen sind: alles, um damit Begriffe zu bezeichnen und aufzustellen, die zur Abkürzung der Rechnung dienen, und die in Realitäten ihre Grundlage haben.
Man darf jedoch nicht glauben - fährt Leibniz fort -, daß durch diese Erklärung die Wissenschaft des Unendlichen herabgewürdigt und auf Fiktionen zurückgeführt wird, denn es bleibt - um mich schulmäßig auszudrücken - immer ein synkategorematisch Unendliches (d. h. dasselbe wie das „Potentiell-Unendliche", das durch unbegrenztes Fortschreiten entsteht) bestehen; so bleibt es z. B. immer richtig, daß 2 gleich ist
,
d. h. gleich einer unendlichen Reihe, die alle Brüche in sich begreift, deren Zähler 1 sind und deren Nenner in geometrischer Progression fortschreiten. Trotzdem kommen in dieser Reihe immer nur gewöhnliche Zahlen zur Anwendung und es tritt niemals ein unendlich kleiner Bruch, dessen Nenner eine unendliche Zahl wäre, auf... “
Wir haben einen so überwiegenden Teil dieses Briefes zitiertz), weil er nicht bloß zu unsrer Frage sehr klar Stellung nimmt, sondern darüber hinaus die ganze philosophisch-mathematische Grundansicht Leibnizens deutlich charakterisiert. Nach solchen Worten kann nur mehr böser Wille eine Naivität oder philosophische Leichtfertigkeit Leibnizens behaupten.
Natürlich ließen sich ähnliche „Belegstellen“ ins Ungemessene vermehren. Wir greifen aber gleichwohl nur noch eine mindestens ebenso deutliche Ablehnung des aktual, also abgeschlossenen Unendlichen durch Leibniz heraus. Sie wurde durch Gerhardt als Anhang zur Leibnizschen Schrift über die Geschichte und den Ursprung der Differentialkalküls veröffentlicht und lautet: „Das Unendlichkleine oder Unendlichgroße kann man immer als das beliebig Kleine oder beliebig Große ansehen, so daß der Ausdruck stets nur einen bestimmten Inbegriff oder eine Gesamtgattung, nicht aber ein einzelnes ‚letztes‘ Glied innerhalb dieser Gattung bezeichnet.“
Nun zur Frage des Integrierens, von dem wir bisher kaum gesprochen haben. Wir deuteten bloß an, daß es diese zweite Kunst der Unendlichkeitsrechnung eigentlich nicht zu erfinden gab, da sie schon in irgendeiner Form von den alten Hellenen geübt wurde. Allerdings, wie stets wieder betont werden muß, bloß in Einzelfällen. Eine allgemeine Methode der Summation unendlich kleiner Teile oder beliebig kleiner Größen oder von Indivisibilien oder Differentialen, oder wie man sagen will, gab es nicht, noch weniger einen Algorithmus dieser Rechnungsart. Desto heißer war daher das Bemühen, diesen Algorithmus zu finden. Leider - und davon mußten sich die ersten Bahnbrecher bald überzeugen - stößt die Aufstellung eines solchen Algorithmus auf kaum überbrückbare Schwierigkeiten. Die lytische oder auflösende Operation der Subtraktion ist eindeutig, die der Division erfordert bereits ein gewisses Maß von Probieren, noch mehr die lytische Operation des Wurzelziehens, die für höhere Wurzelexponenten als 3 überhaupt nur durch allerlei sehr komplizierte Kunstgriffe geleistet werden kann. Beim Logarithmieren, das die Lysis der Exponentialfunktion ist, empfinden wir die auch dort vorliegenden sehr großen Schwierigkeiten nicht, da uns die Logarithmen tabelliert zur Verfügung stehen. Aber auf der nächsten Stufe beginnt ein wahres Kreuz, die nächsthöhere lytische Operation wäre nämlich die Differentialrechnung, die an und für sich zwar kompliziert ausfallen kann, wenn es sich um verwickeltere Funktionen handelt, jedoch keine eigentlichen prinzipiellen Hindernisse bietet. Das wäre ja sehr angenehm. Um so mehr, als auch alle thetischen Operationen (Addition, Multiplikation, Potenzierung, Exponentialfunktion) leicht zu behandelnde „Denkmaschinen“ sind. Um so enttauschter war man, als man entdeckte, daß die Integration, die ihrem Wesen nach ja thetisch ist, diese Eigenschaft aufbauender Operationen durchaus nicht teilt, vielmehr, rein algorithmisch betrachtet, sich als Lysis darstellt, und zwar als Lysis besonderer Undurchsichtigkeit. Lautet doch die Frage oder die Bedingung für die Auflösbarkeit oder Auswertbarkeit eines Integrals dahin, man solle finden, von welcher ursprünglichen Funktion die unter dem Integral stehende Funktion der Differentialquotient sei. Grob ausgedrückt, ist das eine Frage, wie etwa die Zumutung, man solle angeben, wovon 729 der Quotient oder das Produkt sei. Manchmal hat man Anhaltspunkte, diese Frage zu beantworten, manchmal wieder nicht. Manchmal muß man Kunstgriffe anwenden und allerlei Umwege einschlagen. Auf keinen Fall aber darf man die Integration rein algorithmisch als stets verwendbare Maschine ansehen. Nun ist es einleuchtend, daß es trotzdem Wege gibt, das Problem irgendwie einzuengen. So etwa weiß man von vornherein, daß , abgesehen von der willkürlich jedem Integral anzufügenden Integrationskonstanten, stets die Funktion
als Stammfunktion oder Auflösung haben muß.
Da aber weiters
gleich ist ,
so ist es klar, daß ein auch kompliziertes Integral stets dann leicht ausgewertet werden kann, wenn es gelingt, den unter dem Integral stehenden Ausdruck in eine Potenzreihe zu verwandeln. Zumindest erhält man bei einer derartigen Potenzreihe, selbst wenn sie unendlich ist, unter der Voraussetzung ihrer Konvergenz, eine beliebige Näherungslösung. Koeffizienten der Variablen spielen dabei keine Rolle, da sie als Konstante stets vor das Integral gesetzt werden dürfen.
Etwa wäre
Es stellte sich aber, schon seit Michael Stifel, heraus, daß bei allen Reihenentwicklungen die Kombinatorik eine ungeheure Rolle spielt, da etwa die Reihenentwicklung der Potenz eines Binoms ja nichts andres ist als eine vielfache Multiplikation und hierbei die einzelnen Summanden der Potenzen in kombinatorischer Art miteinander multipliziert werden müssen.
Auf jeden Fall war es, im Hinblick auf all diese Zusammenhänge, eine bahnbrechende Tat Sir Isaac Newtons, als er 1776 erkannte, daß es eine Binomial-Reihenentwicklung für alle Arten von Exponenten gab, daß also jeder Ausdruck der Form in eine Reihe entwickelt werden konnte. Im Hinblick auf die epochale Wichtigkeit dieser Entdeckung wollen wir kurz andeuten, wie sich die Binomialentwicklung auf gebrochene Exponenten, also auf Wurzeln, auswirkt. Hätten wir etwa ein Binom , wobei einen echten Bruch bedeutet, dann können wir dieses Binom weiter unformen. Wir nehmen an, daß größer sei als , was wir dürfen, da wir im umgekehrten Fall eben herausheben würden.
Wir dividieren also durch das größere Glied des Binoms, bei uns durch , und erhalten
oder
Dieses , das jetzt ebenfalls ein echter Bruch ist, da ja , nennen wir der Einfachheit halber und kümmern uns weiter nicht um . Wenigstens vorläufig. Wir stehen also jetzt vor der Aufgabe, das Binom in eine Reihe zu entwickeln. Da Newton selbst über seine Methoden gewöhnlich Dunkelheit ließ und hauptsächlich die Ergebnisse oder die Schlußformeln bekanntgab, schreiben wir alles Weitere in moderner Form. Wenn nun, so folgern wir weiter, der binomische Satz auch auf negative oder Bruchpotenzen ausgedehnt werden kann, dann muß in unserm Falle gleich sein wobei wir die Obergrenze der Summe vorläufig vorsichtshalber offen lassen.
Damit aber unser Beginnen noch durchsichtiger wird, ersetzen wir jetzt , das ja einen echten Bruch bedeuten soll, einfach durch den Bruch .
Wir haben also, da von 0, 1, 2, 3 bis zu irgendeiner noch unbestimmten natürlichen Zahl wandern soll, nur festzustellen, wie die Koeffizienten dieser , , , usw. aussehen.
Dabei ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, daß wir Binomialkoeffizienten der Form , , , usw. zu bilden haben, die an sich sinnlos sind.
Denn das tiefste Wesen der Kombinatorik ist die Ganzzahligkeit und ist das Kombinationssymbol oder der Kombinationsoperator, bei dem die Anzahl der zu kombinierenden Elemente und die Größe der Kombinationsklasse bedeutet.
So wäre etwa die Anzahl der aus fünf Elementen gebildeten Ternen oder Dreiergruppen und ergäbe Kombinationen.
Es gilt sonach hier wieder, den Algorithmus einfach zu erweitern und auf an und für sich unvorstellbare Operationen auszudehnen. Diese Arbeit kann vielleicht in der Form von Kunstgriffen erfolgen, die uns über das zweifelhafte Gebiet in einwandfreier Art hinübertragen. Wir werden es also mit Newton versuchen, diese Schwierigkeit zu überbrücken.
Gehen wir schrittweise vor.
Wir wissen, daß konventionell denselben Wert wie , also 1 hat.
aber ist einfach .
Wir haben somit schon zwei Binomialkoeffizienten gewonnen und schreiben, da und , sofort an:



Nun müssen wir allgemein finden, wie sich darstellen läßt.
Hierzu verwenden wir die Formel, daß
Es ist also
oder nach Multiplikation jedes im Zähler stehenden Gliedes mit :
.


Schon aus dieser Formel erkennen wir, daß wir nach voller Ausrechnung eine unendliche Reihe erhalten werden, denn die Faktoren im Zähler , , , werden ihrem absoluten Wert nach stets Wachsen und nicht, wie beim binomischen Satz ganzzahliger Exponenten, endlich verschwinden, wenn die Null ergibt.
Die sind nämlich ganze Zahlen. Wir sehen diese Entwicklung noch deutlicher, wenn wir weiter umformen und die Glieder des Zählers dadurch positiv machen, daß wir herausheben, was nichts andres bedeutet, als daß wir jeden Faktor des Zählers mit multiplizieren.
Wir erhalten:
, wobei niemals Null werden kann, sondern im Gegenteil stets größer werden muß, da ja das gleichsam die Nummer des letzten behandelten Reihengliedes ist, also die natürliche Zahl, die die Anzahl der entwickelten Reihenglieder angibt.
Man kann noch weiter umformen, etwa


und erhält als Schlußformel für die Binomialreihe bei gebrochenen Exponenten, wobei kleiner sein muß als 1
[Da die Reihe sonst nicht gegen 0 strebt!],
den Ausdruck



Das sieht nun schrecklich kompliziert aus, erfordert aber zur praktischen Handhabung nicht mehr als scharfe Aufmerksamkeit.
So wäre etwa


und


Wie man sieht, sind die Reihen alternierend, d. h. sie wechseln, vom zweiten Glied an, in Plus- und Minusgliedern, ab.
Leibniz nun bildete den binomischen Lehrsatz im Wege der Kombinatorik noch weiter und gelangte zum polynomischen Lehrsatz, der eine Potenzierung von Mehrgliederausdrücken gestattet, deren Gliederanzahl 2 übersteigt. Doch darauf können wir nicht näher eingehen. Wir wollten bloß zeigen, wie sich alle Gebiete der Mathematik in der Hand der Heroen des siebzehnten Jahrhunderts zum Kosmos zu schließen und zugleich zum Kosmos auszudehnen beginnen. Die analytische Geometrie ergab die Verschwisterung von Geometrie und Algebra. Aus ihr wuchs das Tangentenproblem und da mit die Differential- und Integralrechnung mit dem Begriff der Funktion und all den anderen Zweigen, die mit der Unendlichkeitsanalysis in Verbindung standen, wie etwa die Bestimmung der Maxima und Minima, der Flächeninhalte, Volumen, Kurvenlängen und der Kurven mit bestimmten Maximal- und Minimaleigenschaften. Auf Umwegen trat aber wieder das Integral durch die Reihenentwicklungen, speziell durch die binomische Reihe, mit der Kombinatorik in Verbindung, eine Beziehung, die sich stets enger gestalten sollte und sogleich auch auf höhere Differentialquotienten übergriff. Zur selben Zeit legte das Genie Leibnizens durch eine gelegentliche Andeutung in einem Brief an Marquis de l'Hospital den Grundsockel zu einer ungeheuren Entdeckung, der Determinanten, die als rein kombinatorische Denkkategorie später zu einem der mächtigsten Instrumente der Mathematik ausgebildet werden sollten. Wir merken hier nur an, daß Leibniz ihr erster Entdecker war, da wir sie in andrem Zusammenhange genau durchleuchten werden. Damit aber noch nicht genug. Der eben erst entdeckte Logarithmus brach an unerwartetster Stelle in die Unendlichkeitsanalysis ein und konstituierte sich, wie schon erwähnt, zur Achse der höheren Mathematik.


Man stieß nämlich durch die einfache Integrationsformel
sehr rasch auf eine rätselhafte Lücke.
Während der Algorithmus für jedes positive, negative oder gebrochene n einen genauen und selbst für irrationale n einen Näherungswert lieferte, da etwa
,
,
,
usw., ergab sich für


,


oder, was dasselbe ist, für , der vollständig unmögliche Werte
, also unendlich.


Das konnte nicht stimmen. Hier versagte plötzlich der Algorithmus. Um so sicherer war man seiner Sache, als man ja die Integralfläche der Funktion vor sich sehen konnte, wenn man sie zeichnete. Es war die Fläche einer Hyperbel. Und man erkannte bald, daß es nicht nur eine Hyperbel war, sondern daß die Stammfunktion zu dieser Funktion die Funktion (Kurve) des natürlichen Logarithmus bildete, so daß man jetzt als gleich mit setzen durfte.
Der Differentialquotient von war damit als oder entlarvt. Wieder eine geradezu ungeheuer wichtige Entdeckung und ein neuer Zusammenhang zwischen entferntesten Weltteilen des mathematischen Kosmos.
Diese wenigen Beispiele sollen nur die Bewegung andeuten, die in und um Leibniz kreiste und die in wenigen Jahrzehnten all das begründete, was seither das ganze Leben der abendländisch-faustischen Welt umgestaltet hat. Wir können uns von der geistigen Trunkenheit dieser Zeit keinen Begriff machen. In den lockeren Gesellschaftszirkeln des Spätbarock und Rokoko wurde die Mathematik zum Tagesgespräch, und nicht nur der edle Marquis de l'Hospital beschäftigte sich mit Unendlichkeitsanalysis. Hospital wurde vielleicht ihr stärkster Propagator, da sein ebenso durchsichtiges wie umfassendes Lehrbuch fast ein Jahrhundert die Grundlage des Studiums dieser Rechnungsart bildete. Aber überall sprach man von der Lösung des Problems der Kettenlinie, einer Leibnizschen Tat, die endlich die Formel für eine freihängende Kette, bzw. für die durch eine solche Kette erzeugte Kurve zutage förderte. Oder von der Brachistochrone, der Florentiner Aufgabe, die wir schon erwähnt haben, oder von der Traktrixkurve, die dadurch entsteht, daß man etwa eine Uhr mit Kette auf den Tisch legt und nun das Ende der ausgespannten Kette einer Geraden entlang führt. Der Mittelpunkt der Uhr wird sich dieser „Leitgeraden“ stets mehr nähern, ohne sie zu erreichen. Diese ebenfalls durch Leibniz analysierte „Traktrix“ werden wir später bei den nichteuklidischen Geometrien des Gauß-Bolyai-Lobatschewskijschen Typus wiederfinden.
Wir können nur andeuten. Können auch nur flüchtig erwähnen, daß Leibniz bereits die „Geometrie der Lage“ durchschaute und in leuchtend klaren Worten von der Maßgeometrie abgrenzte, können nur noch einmal betonen, daß er in allem, was Schreibweise (Notation) betraf, vorbildlich wirkte. So hat er als erster das Wesen der Indices durchschaut, von denen er stets wiederholte, sie seien durchaus nicht als Zahlen aufzufassen. Ein Gedanke, der für die Kombinatorik und damit für die Determinanten bahnbrechend geworden ist, was wir später ausführen werden.
Überhaupt wird Leibnizens Schatten über der Entwicklung der folgenden Jahrhunderte liegen, und wir wissen heute noch nicht ganz genau, ob in seinem bisher noch leider zum großen Teil unveröffentlichten Nachlaß nicht irgendwelche Dinge verhüllt oder unverhüllt enthalten sind, die erst einer ferneren Zukunft die Wege weisen werden. Aber auch darüber, daß wir heute mitten in einem wogenden Chaos von erst halb entwickelten mathematischen Entdeckungen stehen, werden wir später sprechen.
Jetzt, zum Schluß dieses Kapitels, nur noch ein kleines Streiflicht auf den unseligen Prioritätsstreit zwischen Newton und Leibniz, der der Wissenschaft nur geschadet hat, indem er Leibniz unnötig Kraft kostete und den etwas schrulligen Newton aus Zorn so weit trieb, die Unendlichkeitsanalysis überhaupt zu verdammen.
Es ist, so wissen wir heute, unleugbar, daß Newton und Leibniz, unabhängig voneinander, denselben mathematischen Tatbestand entdeckten und ihn richtig handhabten. Newton faßt die Angelegenheit rein phoronomisch und dynamisch auf und verwendete seine Rechnungsart für die Physik. Er nannte sie Fluxionen und Fluenten und notierte die Fluxion durch und die Fluente durch . Weiters steht es fest, daß Newton, rein zeitlich, früher um die Infinitesimalrechnung Bescheid wußte als Leibniz, und zwar wahrscheinlich bereits im Jahre 1665. Leibniz dagegen kam auf ganz anderen Wegen, logisch und kombinatorisch und aus der Untersuchung endlicher Differenzen, zu seinem Kalkül. Er erstrebte auch nicht bloß eine persönliche Beherrschung des mathematischen Tatbestandes, sondern eine durchsichtige Algorithmisierung, also einen wirklichen Kalkül. Dieser wurde durch ihn im Wesen am 28. Oktober 1675 entdeckt und 1684 veröffentlicht, zu welcher Zeit Newton mit seiner Entdeckung noch nicht in die Offentlichkeit getreten war.
Mehr wollen wir über den Streit nicht sagen. Denn die Tatsache, daß heute die ganze Welt, einschließlich der Angelsachsen, nur und ohne Ausnahme die Schreibweise Leibnizens verwendet, hat, rein objektiv, den Kampf entschieden. Es handelte sich eben bei dieser Entdeckung gar nicht um den Gegenstand selbst. Dieser Gegenstand war zum großen Teil bekannt, als die beiden Rivalen auf den Plan traten. Es handelte sich aber sehr wesentlich oder fast einzig und allein darum, aus dem Problem und seinen Teillösungen einen auch für Durchschnittsmenschen erlernbaren und durchsichtigen Algorithmus zu schaffen, der außerdem noch in sich jede weitere Entwicklungsmöglichkeit enthielt. Diese Großtat hat von den beiden Heroen des siebzehnten Jahrhunderts auf diesem Gebiet nur Leibniz vollbracht, während der große Newton, neben seinen physikalischen Ewigkeitsleistungen, als Mathematiker eher in der Behandlung der Reihen, des Wahrscheinlichkeitskalküls und in anderen Belangen epochebildend auftrat.
Wir können die Gesamterscheinung Leibnizens in ihrer

erschütternden Größe überhaupt nicht fassen. Er war Bahnbrecher als Jurist, Theologe, Historiker, Erfinder, Physiker, Naturforscher, Geologe, Chemiker, Politiker, Sprachforscher und „daneben“ als Mathematiker. Vom Philosophen Leibniz, vom Lyriker Leibniz sprechen wir nicht, da es allzu bekannt ist, daß er „in erster Linie“ Philosoph war. Was also war er wirklich in erster Linie? Jede Geschichte fast jeder Spezialwissenschaft behauptet, man erkenne erst langsam, daß er eben auf diesem Spezialgebiet am bedeutendstenwar und als Bahnbrecher wirkte.

Wir wollen hier durchaus nicht entscheiden. Sondern nur feststellen, daß eine solche Einschätzung die Vermutung nahelegt, in seiner Person habe sich der abendländische Geist zu einem Universalgenie in des Wortes strengster Bedeutung verdichtet, wie es die Welt weder vorher noch nachher sah. Nur aus diesem vereinigten Wissen aber konnte die Konstituierung der Mathematik als Kosmos hervorgehen. Keine Fachbrille trübte seinen Blick, keine persönliche Beziehung behinderte sein Denken und Streben, das einzig das hohe Bild reiner Wissenschaft als Dogma seiner Haltung vor sich sah, und dazu ein unerschütterlicher Glaube an Gott; und ein Optimismus, der sich aus den Tiefen der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges erhob und seinen Träger zum Freund und Berater Prinz Eugens, Peters des Großen, Ludwigs des Vierzehnten, der preußischen Könige und Königinnen, der deutschen Kaiser Leopold I. und Karl VI. und nicht zuletzt der Welfenherzoge machte.
Aber noch eine Tat sei hier erwähnt: Leibniz war es erst, der der Mathematik in seiner Heimat den Boden bereitete und ihr die gleiche Geltung verschaffte, die diese Königin der Wissenschaften in anderen Ländern seit langem schon besaß.
Wenn das strahlende Erbe dieses Leibnizschen Lebenswerkes in seiner engeren und weiteren Heimat die herrlichsten Früchte tragen konnte, wenn Genies wie Euler, Riemann, Weierstraß, Graßmann, vor allem aber der „Princeps Mathematicorum“, der Fürst aller Mathematiker, Carl Friedrich Gauß, der in seiner universalen mathematischen Größe nur mit Archimedes verglichen werden kann, den Wunderbau ihrer Gedanken aufrichten konnten, so verdanken sie dies irgendwie auch dem Genie Leibniz.


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