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Einführung in die Theorien der internationalen Beziehungen/ Neorealismus

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7. Neorealismus in den internationalen Beziehungen

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Eine der wichtigsten Theorien der internationalen Beziehungen ist der Neorealismus. Nicht nur deshalb, weil in vielen Außenministerien der Welt der Neorealismus prägend für das Denken der Akteure war und ist. Sondern auch, weil er für die politische Ideengeschichte in diesem Bereich bedeutend war und als eine der „großen“ Theorien der internationalen Beziehungen gilt.

Der Neorealismus ist eine von Kenneth Waltz vorgenommene Weiterentwicklung des (klassischen) Realismus, unterscheidet sich aber in grundlegenden Punkten von diesem. Er begreift die Ursache für Krieg und Unsicherheit in den internationalen Beziehungen nicht in der „Natur des Menschen“, wie sein Vorgänger, sondern in der Struktur des internationalen Systems, weswegen er auch häufig als struktureller Realismus bezeichnet wird. Diese Struktur ist anarchisch, was nicht bedeutet, dass eine Art „Chaos“ herrscht, sondern lediglich, dass es keine übergeordnete Instanz gibt. Demnach liegt der Fokus der Analyse im Neorealismus – im Gegensatz zu einigen anderen Theorien der internationalen Beziehungen – auf der Struktur des internationalen Systems. Diese zwinge Staaten ein auf Sicherheit und Macht konzentriertes Handeln auf. Außerdem begünstigt es prinzipiell Machtkonstellationen, die Krieg verhindern. Der Neorealismus geht dabei – im Gegensatz zum klassischen Realismus – deduktiv vor und versucht mit wenigen Annahmen möglichst viel zu erklären. Es gibt laut Waltz drei Analysebenen: Die erste ist die Ebene des Individuums, von der ausgehend man aufgrund fester anthropologischer Veranlagungen man Schlüsse auf höhere Ebenen zieht. Der klassische Realismus beispielsweise bedient sich dieser Ebene. Die zweite Ebene ist das politische System. Hier könnte man beispielsweise fragen, ob sich demokratische Staaten nach außen hin anders verhalten als autoritäre Staaten. Die dritte Ebene ist die Ebene des internationalen Systems, welche Waltz als die wichtige und zu analysierende Ebene identifiziert. Andere Theorien würden dieser Ebene seiner Meinung nach zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Theorien, die diese Ebene auslassen, würden aufgrund von Annahmen und Erkenntnissen aus unteren Ebenen aus dem internationalen System nur die Summe der verschiedenen Außenpolitiken machen. Dieses sei aber mehr als das. Theorien, die so vorgehen, nennt er „reduktionistisch“, wozu auch der klassische Realismus gehört. Was Waltz versucht, ist eine Vereinfachung der theoretischen Aussagen und die Identifizierung konkreter „Gesetze“ des internationalen Systems, die aufgrund ihrer Struktur auf die Staaten wirken. Nach Kenneth Waltz besteht das internationale System aus zwei Elementen: den Staaten und der separaten Struktur. Beide müssen getrennt voneinander analysiert werden.

Staaten

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Die innere Beschaffenheit eines Staates stellt eine Art „Black Box“ dar. Für Waltz ist es irrelevant, ob es sich um einen demokratischen, autoritären oder diktatorischen Staat handelt. Staaten werden als einheitliche Akteure verstanden, deren „Innenleben“ ausgeblendet wird. Dies rechtfertigt Waltz damit, dass es ihm nicht darum ginge, eine Theorie zu schaffen, die die Außenpolitik einzelner Staaten herleiten kann, sondern der Neorealismus versucht stattdessen, „systemische Effekte“ zu identifizieren, die für alle Staaten gleichermaßen gelten.

Für den Staat gibt es drei Kernannahmen:

  1. Das zentrale Bedürfnis aller Staaten ist das Überleben bzw. der Erhalt nationaler und geographischer Sicherheit und Integrität. Diese steht in der Präferenzordnung an oberster Stelle.
  2. Die Umsetzung der Präferenzen erfolgt rational durch eine Zweck-Mittel-Rationalität.
  3. Es gibt verschiedene Kapazitäten an Machtmitteln, anhand derer Staaten unterschieden werden können. Obwohl der Begriff „Macht“ stets abstrakt bleibt, sind hiermit wohl in erster Linie Waffen, Technologie, kultureller Einfluss, Reputation sowie natürlich ökonomische wie soziale Ressourcen gemeint.

Übrigens bestreiten Neorealisten nicht die Existenz von nicht-staatlichen Akteuren wie Konzerne und internationale Organisationen, jedoch seien diese vernachlässigbar, da sie keinen Einfluss auf die Struktur und Prozesse des internationalen Systems haben.

Struktur des internationalen Systems

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Auch für die Bestimmung der Struktur des internationalen Systems werden drei Komponenten herangezogen:

  1. Das Ordnungsprinzip, welches hierarchisch oder anarchisch sein kann. Hierarchisch ist es, wenn es eine übergeordnete Instanz gibt, die den Schutz der Einheiten garantiert. Anarchisch ist es, wenn es eine solche Instanz nicht gibt und die Akteure auf sich selbst gestellt sind. Das internationale System ist laut dem Neorealismus anarchisch.
  2. Die Funktionsspezifizierung bzw. die funktionale Differenzierung der Einheiten, die dann vorliegt, wenn es zwischen den Staaten eine „Arbeitsteilung“ gibt. Der Neorealismus sagt, dass aufgrund der anarchischen Grundstruktur, ein Staat dem anderen nicht vertraut und es deswegen keine längerfristige Arbeitsteilung gibt.
  3. Die Machtrelation der Staaten zueinander. Das System kann hierbei unipolar (ein Hegemon), bipolar (zwei ähnlich starke Staaten) oder multipolar (mehr als zwei besonders mächtige Staaten) strukturiert sein.

Krieg und Kooperation

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Aus all diesen Grundannahmen leitet Waltz den für alle Staaten geltenden Imperativ ab: „Wenn du überleben willst, so gleiche Machtungleichgewichte aus!“. Die Tendenz zum Machtgleichgewicht ist nicht zwingend, jedoch sehr wahrscheinlich. Machtverschiebungen zugunsten eines anderen Staates werden tendenziell durch eigene Aufrüstung oder Bildung von neuen Bündnissen kompensiert. Mit Letzterem seien die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Staaten jedoch weitgehend erschöpft. Der Neorealismus sagt, dass die Kriegsgefahr in einer multipolaren Welt am größten ist, da hier Machtungleichheiten eher und häufiger entstehen. Staaten haben in dieser Konstellation sehr viel weniger Wissen über die Kapazitäten der anderen Staaten und neigen dazu, ihre Position im Weltsystem quasi „zu testen“, beispielsweise durch Machtdemonstrationen oder Provokationen. Auch geschehe es schneller, dass ein Staat in dem (Irr)Glauben, davon zu profitieren, einen anderen Staat überfällt. Genauso seien Präventivkriege wahrscheinlicher, um die Erlangung eines Machtvorteils beim anderen (vielleicht auch aus einer bloßen Fehleinschätzung heraus) zu verhindern. In einem bipolaren System sind solche Fehleinschätzungen sehr viel unwahrscheinlicher. Nach neorealistischen Annahmen müsste unser heutiges internationales System – welches zunehmend multipolar wird und vom Machtzuwachs „neuer“ Akteure gekennzeichnet ist – durchaus anfälliger für politische Krisen und Kriege sein. Der Kalte Krieg wiederum war das Musterbeispiel eines stabilen, bipolaren Systems.

Sollten Staaten willens sein, sich einer höheren internationalen Instanz zu beugen, würde im Übrigen der Neorealismus obsolet werden. Denn dieser kann seine Analysen nur auf Basis eines anarchischen Systems machen. Die Europäische Union beispielsweise – welche der Neorealismus im Übrigen nicht erklären kann – könnte [so die Ansicht des Autors dieses Wiki-Artikels] ein Beispiel dafür sein, wie Staaten sich selbst aus dem „anarchischen Dilemma“ befreien. Kooperation ist laut Waltz jedoch nur auf Basis eines Balancing-Prozesses durch Allianzen möglich. Aufgrund der Gefahr einer potentiellen Abhängigkeit werden Staaten keine tiefergehende Kooperation eingehen, da sie stets mit dem Vertragsbruch des Partners rechnen müssen. Letzteres ist ein Grundproblem, das auch nicht von internationalen Organisationen gelöst wird. Lediglich wenn einer der beiden Partner ein Hegemon ist, also deutlich mächtiger als der andere, sei dieser bereit, Arbeitsteilung – Funktionsspezifizierung – bis zu einem gewissen Grad zu dulden, um den Wohlstand (vor allem für sich) zu steigern. Umgekehrt biete er dem kleineren Partner beispielsweise Schutz.

Auf Basis der bis hierhin zusammengefassten Grundannahmen lassen sich verschiedene Methoden der Analyse entwickeln, wie zum Beispiel die neorealistische Variante der Konstellationsanalyse, die von der sog. Münchner Schule erarbeitet wurde, jedoch von Waltz’ Überzeugungen punktuell abweicht, wenn sie beispielsweise durchaus Aspekte der inneren Verfasstheit eines Staates analysiert. Allgemein kann gesagt werden, dass viele Vertreter des Neorealismus heute es nicht immer genau nehmen mit den auferlegten „Grenzen“ der Theorie nach Waltz. Vor allem die innere Verfasstheit des Staates wird auch in neorealistischen Schriften häufig miteinbezogen.

Interne Fragen und Entwicklungen

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Vor allem zwei Fragen stehen zur Diskussion:

  1. Ist die „Balance of Power“ Ausnahme oder Regel?
  2. Streben Staaten vor allem nach Macht oder nach Sicherheit?

Es stellt sich natürlich die Frage, ob Staaten tatsächlich stets das System so ändern, dass eine „Balance of Power“ im Sinne einer Balancierung gegenüber dem Mächtigsten stattfindet, oder aber, ob Bündnisse und Aufrüstungen eher gegenüber dem Bedrohlichsten gebildet werden? Denn der Bedrohlichste muss nicht immer automatisch der Mächtigste sein.

An der zweiten Frage teilten sich die Neorealisten in „defensive“ (defense) und „offensive“ (offense) Neorealisten, wobei die „defensiven“ Neorealisten das Sicherheitsbedürfnis sehr viel mehr Bedeutung beimessen, als – wie es die „offensiven“ Neorealisten sagen – dem Machtbedürfnis, welches auch über Sicherheit hinaus weiter zunehmen kann und zu Expansion zwingt. Staaten würden so lange nach Macht streben, bis die einen hegemonialen Status in der Region erworben haben. Wenn dieser erreicht ist, hört das Streben auf. Beide Weiterentwicklungen stellen keine Alternativen, sondern Ergänzungen zu Waltz dar.

Kritik

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Der Neorealismus gilt als verzweigt und uneinheitlich. Unter anderem auch deshalb sieht er sich seit seiner Entstehung immerwährender Kritik ausgesetzt. Prägend waren hier die Debatten zwischen den Neorealisten und den Neoinstitutionalisten sowie die Kritik des Konstruktivismus vor allem am neorealistischen Anarchie-Verständnis.

Neoinstitutionalistische Kritik

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Die neoinstitutionalistische (NI) Kritik basiert vor allem darauf, das pessimistische Weltbild des Neorealismus zu widerlegen. Laut dem NI ist es durchaus auch bei einem anarchischem Grundsystem möglich für Staaten, aus Kooperation Nutzen zu ziehen. Das Problem des Betruges sei durch eine entsprechende Gestaltung der internationalen Regime in den Griff zu bekommen. Wenn – wie der Neorealismus sagt – Kooperation nur dann möglich ist, wenn damit ein Machtzuwachs (oder Machtabnahme des anderen zugunsten eines Machtgleichgewichts) verbunden ist (relativer Gewinn ggü. dem anderen), dann wäre Kooperation selbst unter befreundeten Staaten kaum möglich und extrem selten. Denn einer müsse ja immer verlieren. Keohane argumentiert in seiner institutionalistischen Regime-Theorie, dass Staaten sehr wohl auch bei absolutem Gewinn kooperieren können (welcher im Übrigen einen relativen Gewinn ggü. jenen sein kann, die nicht kooperieren). Regime seien so strukturiert, dass eine Kooperation vereinfacht wird, gegenseitige Kontrolle automatisiert und den Gewinn beider sogar steigert. NI sagen, dass ein Staat so lange kooperiere, solange er einen absoluten Nutzen ziehe und kein Verlust mache.

Konstruktivistische Kritik

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Alexander Wendt leitete die konstruktivistische Kritik 1992 durch einen Artikel ein, in dem er formulierte: „Anarchy is what the states make of it“. Hier schlussfolgerte er, dass es nicht zwingend sei, dass aus einem anarchischen System Machtpolitik und Selbsthilfe dominieren müssten. Das Verständnis von „Struktur“ ist in diesen Theorien völlig entgegengesetzt. Während Neorealisten glauben, dass die Struktur etwas Vorgegebenes ist, sagen Konstruktivisten, dass die Struktur ein soziales Element sei und durch Interaktionsprozesse gebildet und reproduziert wird. Struktur und Akteure bedingen und erschaffen sich gegenseitig. So prägt die Struktur die Akteure, diese wiederum können aber auch die Struktur ändern. Gerade weil sich Staaten egoistisch verhalten und Entsprechendes vom Anderen erwarten, werden Handlungszwänge aufgebaut. Diese seien aber nicht universell gegeben, sondern können geändert werden.

Literatur

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  • Masala, C. / Sauer, F. / Wilhelm, A. (Hrsg.): Handbuch der internationalen Politik. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Schieder, S. / Spindler. M. (Hrsg.): Theorien der internationalen Beziehungen. 3. Auflage, Regensburg: Barbara Budrich Verlag.
  • Waltz, Kenneth (1979): Theory of International Politics. Reading, Mass.: Addison Wesley.
  • Waltz, Kenneth (2008): Realism and International Politics. New York: Routledge.