Ethify Yourself - Ethisch leben und wirtschaften: Vermessen
Wohin wachsen?
[Bearbeiten]Zielvorstellungen verleiten dazu, diese in Zahlen zu fassen.
Wir messen die Wirtschaftsleistung einer Nation als Bruttoinlandsprodukt, den persönlichen Energieverbrauch in Megajoule und unseren ökologischen Fussabdruck in einer Anzahl von Erdplaneten. Stetiges Wachstum verhält sich exponentiell, auch wenn seine Bezugsgrösse konstant bleibt. Als Menschen werden wir weiterhin nur 24 Stunden am Tag zur Verfügung haben. Und wir werden uns wohl weiterhin auf die Ressourcen einer Erde beschränken, auf der jede und jeder von uns ein Leben leben darf.
Hier liegt auch schon der Hinweis, wohin wir unser Bemühen um Wachstum wohl umleiten sollten. Wir müssen uns loslösen von einer einfachen Aufsummierung aller geldwerten Umsätze und Verbrauchsindikatoren hin zu einer Bewertung von Qualitäten, die wir erreichen wollen. Und das wird nicht ohne Umorientierungen und wohl auch Reduktion von statten gehen.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als die Summe des Geldwertes aller Waren und Dienstleistungen innerhalb eines gut entwickelten Landes wie Österreich betrug 2008 pro Einwohner 33.810 Euro.[1] Die Politik verspricht gebetsmühlenartig, das BIP zu steigern: In einer Wirtschaftskrise müssen wir es schaffen, erneut zu wachsen, damit der Wirtschaftsmotor wieder rund läuft. Politiker fürchten die Rezession wie der Teufel das Weihwasser. Als im Jahr 2009 die Wirtschaft im Euro-Raum um 4 Prozent schrumpfte[2], wurde massiv entgegengesteuert: Abwrackprämien kurbelten den Autokauf an, faule Kredite wurden in Bad Banks entsorgt und die Bauwirtschaft erhält Aufträge für die Wärmedämmung von Gebäuden und den Strassenbau..
Das BIP wird in Geldeinheiten bemessen. Es nimmt nur zur Kenntnis, was der Mensch durch den Einsatz von Rohstoffen und Energie produziert und bewertet. Es berücksichtigt nur jenen Teil der Arbeit, welcher mit Geld kompensiert wird. Das BIP blendet jene Leistungen aus, die die Natur schafft oder die wir unentgeltlich erbringen, etwa bei der Erziehung von Kindern, der Pflege eines Gartens oder mit der Arbeit als Gemeindevertreterin. Die BIP-Rallye belohnt auch Energiefresser: je mehr wir durch den Schornstein oder den Auspuff verheizen, desto schneller wächst die Wirtschaft, zumindest im Zahlenwerk der Ökonomen. 2009 ist der Stromverbrauch in Österreich um 3% eingebrochen[3] – na und?
Auch eine Naturkatastrophe ist gut für's BIP, denn sie kurbelt die Investitionen für den Wiederaufbau an, genauso Verkehrsunfälle, denn dadurch werden medizinische Leistungen und Reparaturwerkstätten verstärkt in Anspruch genommen. Die jeweils mehr als 200.000 Todesopfer des Tsunami in Asien oder des Erdbebens in Haiti und das Ausmass von Armut und Elend spielen beim BIP keine Rolle. Doch selbst bei Katastrophen steigt das BIP ausserordentlich. Robert F. Kennedy meinte schon 1968, dass das BIP zwar Napalmbomben, Atomsprengköpfe und Kriegsspielzeuge für Kinder misst, aber nicht etwa die Zahl von Heiraten, die Integrität von Beamten, den Einsatzwillen von Pionieren oder die Schönheit der Poesie[4].
Dazu ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, die Wünsche der Politik gehen in Erfüllung und das BIP wächst moderat um 2 Prozent pro Jahr. Nach 50 Jahren hätten wir 270 Prozent erreicht und nach 100 Jahren 700 Prozent. Werden unsere Enkel so viel mehr verbrauchen? Und unsere Urururenkel nach 200 Jahren? Können die dann mit 5200 Prozent endlich - was eigentlich?
Der französische Präsident Sarkozy setzte eine Kommission mit den zum Teil nobelpreisgekrönten Ökonomen Joseph Stiglitz (USA), Amartya Sen (Indien) und Jean-Paul Fitoussi (Frankreich) ein. Im September 2009 stellte sie in ihrem Bericht zwölf konkrete Mittel und Wege vor, wie Wohlstand und Wohlbefinden der Bevölkerung besser zu messen sind[5]. Wichtigstes Ergebnis: An die Stelle des BIP soll ein Nationales Nettoprodukt (NNP) treten und anstelle des viel benutzten Wertes "BIP pro Einwohner" bevorzugt die Kommission das "halbierte Gesamteinkommen", welches in der Mitte zwischen dem fiktiven Betrag, der die ärmere und die reichere Hälfte der Bevölkerung trennt. Dieser Ansatz bleibt jedoch unkonkret, wenn es um die Berücksichtigung ökologischer oder sozialer Aspekte geht.
VideoVideo Joseph Stiglitz einfügen? Geht das?
Nobelpreisträger Joseph Stiglitz über die Probleme des Gross Domestic Product als Messgrösse (Quelle: YouTube, in Englisch, diverse Untertitel verfügbar)
Es gibt auch andere Indikatoren. Der "Measure of Economic Welfare" (MEW) wurde 1972 von Nordhaus und Tobin vorgestellt[6] und zieht die Kosten der Urbanisierung, die Strassenerhaltung oder die Verteidigung ab, aber selbst dann bleibt ein Wachstum bestehen. Der "Index for Sustainable Development" (ISEW[7]) basiert auf dem persönlichen Konsum, zählt öffentliche Ausgaben und Arbeit zu Hause dazu und zieht Umweltverbrauch ab. Das Ergebnis ist wenig verblüffend: für die USA nimmt der ISEW seit den achtziger Jahren ab. Anstatt nur Kosten sprechen zu lassen, wurden weitere Wohlstandsindikatoren entwickelt: etwa der "Social Well Being Factor" oder der "Happy Planet Index". In Bhutan ist ein "Bruttoglücksprodukt" für politische Entscheidungen massgebend. Zu den Parametern des Glücklichseins gehören in Bhutan - das wirtschaftlich sehr schwach entwickelt und etwa auf Lebensmittelhilfslieferungen angewiesen ist - Wohlbefinden, Gesundheit, Bildung, Staatsführung, der Lebensstandard und ökologische Vielfalt. 68 Prozent der Befragten bezeichneten sich in einer Umfrage in diesem Land schon als glücklich,[8] obwohl (oder weil?) 50 Prozent der Bevölkerung 2008 weniger als zwei Dollar am Tag zur Verfügung hatten.
Trotz der Vielzahl an Möglichkeiten, Wohlstand, Zufriedenheit und Umweltqualität zu prüfen, hält die Weltpolitik am BIP fest. In der Lissabon Strategie wurde die Europäische Union explizit zur Wachstumszone erklärt: sie muss zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum werden. In den meisten Parteiprogrammen finden sich ähnliche Formulierungen. Und die deutsche Bundesregierung beschliesst Ende 2009 ein Wirtschaftswachstumsbeschleunigungsgesetz[9]. Schon 1934 warnte der Erfinder des BIP, Simon Kuznet, vor der verkürzten Bedeutung der Höhe des Volkseinkommens. In den 60er Jahren präzisierte er: "Wenn es Ziele für ein höheres Wachstum gibt, sollte auch spezifiziert werden: mehr Wachstum wovon und wofür?"[10]
Es geht doch um mehr als nur Konsum: ja, wir wollen Wohlstand und Fortschritt, aber auch individuelles Glück, Frieden, Gerechtigkeit, sozialen Zusammenhalt, Zukunftsperspektiven und Freiheiten. Und dabei sollen möglichst wenige einmalige Ressourcen und fossile Energien eingesetzt werden. der Frankfurter Ökonom Stefan Bergheim entwickelte 2010 den Fortschrittsindex. Dieser misst Wirtschaft, Umwelt, Bildung und Gesundheit, jedoch nicht die Einkommensverteilung.
Offenbar müssen wir uns von der Geisel der Wachstumsspirale lösen und eine neue Orientierungshilfe schaffen, um unsere Ziele zu vermessen. Wenn wir von Verheissungen geblendet werden oder die Übersicht verlieren, können wir entweder die Augen verschliessen oder eine neue Gestaltung versuchen. Welches Designprinzip könnte uns helfen, eine ehrliche Bewertung relevanter Lebens- und Umweltaspekte zu erreichen und diese auch umzusetzen, wenn Zahlen alleine in eine falsche Richtung drängen?
Intelligente Reduktion ist ein Prozess, der mit gestalterischen Mitteln versucht, nachhaltige Lösungen zu schaffen, die Orientierung, Sinn und Qualität vermitteln, bei gleichzeitiger Reduktion der eingesetzten Ressourcen. Hier können wir von einer immer einflussreicheren „Creative Class“ lernen, die das Leben und die Arbeit der Zukunft schon heute ausprobiert. Diese Avantgarde werden wir noch näher kennenlernen. Sehen wir uns weitere Messgrössen näher an, wie sie uns Ökonomen, Psychologen und Ökologen bereitstellen. Deren Kenntnis soll uns helfen, Optimierungen an den richtigen Stellschrauben vorzunehmen und daraus Übungen abzuleiten, um aktuelle ethische Ziele zu setzen und zu erreichen.
Märkte und Börsen
[Bearbeiten]Nach der Lehrbuchmeinung vieler Marktökonomen bestimmt das Kräftespiel zwischen Angebot und Nachfrage die Preise. Ein gesunkener Preis für ein Gut oder eine Dienstleistung ist ein Indiz dafür, dass ein Markt gesättigt ist. Allerdings gab es immer schon Eingriffe und Regulierungsversuche mit dem Ziel, Marktkräfte zu bändigen, denn ein völlig unkontrollierter Markt wirkt als Förderer der Macht des Stärkeren undemokratisch. Deklarationsvorschriften von Produktinhalten oder die Gewährleistung sind allgemein anerkannte Regulierungen. Auch sind Eingriffe bei der Preisgestaltung manchmal notwendig, wie heute bei der Energie und früher auch bei Grundnahrungsmitteln. Milch war in der Nachkriegszeit essenzieller Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung und deshalb landwirtschaftspolitisches Aktionsgebiet Nummer 1. Die sinkende Nachfrage durch veränderte Trinkgewohnheiten kann durch eine weitere Reduktion des Preises nicht mehr stimuliert werden. Das Entgelt für die Bauern ist auf einem Niveau angelangt, welches die Viehwirtschaft vielerorts unrentabel macht. Selbst wenn eine Landwirtin in einen Laufstall investiert und sich Turbokühe angeschafft hat, zahlt sie für das Kraftfutter mehr als sie für die Milch bekommt. Dies hat Folgen für viele Kulturlandschaften: Almen werden nicht mehr bewirtschaftet und Wiesen versteppen. Anstatt den Bauern Förderung für den Erhalt der Viehwirtschaft zu geben und den Export in Entwicklungsländern zu stützen, müssten wir sie vermehrt schlicht mit Aufgaben der Landschaftspflege betrauen. Damit vermeiden wir auch den Nebeneffekt, dass wir sensible Märkte in Entwicklungsländer kaputtmachen, denn die Geflügelzucht und Milchwirtschaft zahlt sich dort nicht mehr aus, wo wir Geflügelteile (ausser dem Brustfleisch, das essen die Europäer ja selber) und Milchpulver durch Subventionen gestützt verschleudern und lokale Wirtschaftskreisläufe zerstören. Manche Landwirte hierzulande erkennen die Zeichen der Zeit und werden Biobauern oder bewirtschaften den Wald, um als Energiewirt Nahwärme zu liefern. Andere sind von Subventionen so abhängig, dass sie keine Bewegungsspielräume mehr für sich sehen.
Ein weiteres Beispiel für eine Marktsättigung mit weitreichenden Konsequenzen ist die Autoindustrie. Die Begeisterung der Leute für neue Modelle hält sich in Grenzen: technischer Schnickschnack und mehr Leistung sind trotz immenser Marketingaufwände oder einer Verschrottungsprämie kein bestechendes Argument für einen Neukauf mehr. Als Prestigeobjekt hat das Auto bei vielen Menschen längst ausgedient. Ökologisches Bewusstsein oder intakte menschliche Beziehungen vermitteln heute einen besseren Status als Hubraum oder Auspuffsound. Obschon sie von der Autoindustrie als Lösung der Klimaproblematik gepriesen werden, brauchen 4 oder 5-Liter-Autos genauso Treibstoff und Strassenraum. Und Hybrid- oder Elektroautos benötigen Strom, der etwa in Deutschland zu 44 Prozent in Kohlekraftwerken erzeugt wird[11]. Sind wir bereit, unser Mobilitätsverhalten zu ändern, um damit einen Beitrag gegen den Klimawandel zu leisten?
Mag sein, dass sich durch Verhaltensänderungen einige Märkte verschieben, die Ökonomen nennen dies dann qualitativen Wachstum. Doch der Absatz lässt sich in vielen Bereichen nicht mehr steigern, weil wir Konsumenten längst von einer Konsumkrise erfasst sind. Wir leben in den entwickelten Ländern in einer Überflussgesellschaft und viele Leute sind nicht mehr bereit, deswegen Überstunden zu machen, um sich noch mehr Kosmetika oder Spielzeug zu leisten. Wer hatte nicht schon mal eine Krise vor dem Shampoo-Regal im Drogeriemarkt, wissend, dass ohnehin überall dieselbe Mischung drin ist, mal etwas dickflüssiger, mal etwas bunter oder statt mit Lavendel mit Rosmarin parfümiert. Viele Konsumenten wissen das, und daher gibt es in Supermärkten auch preiswerte Eigenmarken. Doch vor dem Jogurtregal könnte man total kapitulieren, die überwältigende Auswahl und die leeren Versprechungen für ein Wohlgefühl mit patentierten Bakterien bewogen die Famile Alton zu einem radikalen Schritt: das Joghurt selber machen. Nachdem ohnehin die Kuh- und Ziegenmilch in der Kanne vom Bauern geholt wird, ist ein Eimer gleich vollgefüllt, geimpft und in Styropor warmgestellt, sodass am nächsten morgen köstlicher, weisser Joghurt daraus gelöffelt werden kann, oder bunt mit einem Löffel selbstgemachter Marmelade drin. Fruchtzwerge gibt’s nur mehr zu besonderen Anlässen.
Viele weitere Beispiele liessen sich noch finden, um zu zeigen, was wir auch ausrechnen können und was wir schon eingangs erkannt haben. Das Bruttosozialprodukt verdoppelt sich bei einem anhaltenden Wirtschaftswachstum von drei Prozent alle 23 Jahre. Wer braucht schon zwei Waschmaschinen, drei Tiefkühltruhen oder ein Privatflugzeug? Selbst wenn man zum Trost unterstellt, dass nur ein Teil dieses Wachstums tatsächlich in mehr Konsumwaren und der verbleibende Teil in bessere Schulen, Universitäten, Pflegeangeboten, Wohnungen für Ältere, Umwelttechniken und erneuerbare Energieträger fliesst – also in qualitatives Wachstum statt in quantitatives -, handelt es sich doch um einen rasanten Zuwachs. Geradezu bedrohlich werden solche Rechnungen, wenn man die ganze Welt einbezieht.“[12] schreibt Wolfgang Kessler, der Herausgeber der Zeitschrift publik:forum. Entwickelte Märkte haben in vielen Sektoren eine Sättigung erreicht, die auch mit immensem Marketingaufwand nicht mehr ausbaubar sind. Aufgrund ethischer Konsumentscheidungen verringert sich auch die Nachfrage etwa nach exotischen Früchten, bestimmten Fischsorten oder Fernreisen.
Die Millionenfrage lautet also, wie lässt sich ein Wirtschaftssystem, das auf Wachstum setzt, umbauen? Können Unternehmen auch handeln und planen, ohne stets monetären Profit schaffen zu müssen? Die Frage müsste also heissen: soll ein Betrieb lediglich kostendeckend arbeiten, dafür sichtbaren gesellschaftlichen Mehrwert schaffen, den wir auch belohnen? Ja, solche Betriebe gibt es schon jetzt zahlreich, das sind viele Ein-Personen Unternehmerinnen, Kleinbetriebe oder gemeinnützige Genossenschaften oder auch Vereine. Als passendes Bewertungsmodell lernen wir im Kapitel "Ethify Your Business" noch die Gemeinwohlbilanz kennen. Der Wirtschaftethiker Ulrich Thielemann wäre schon damit zufrieden, das Unternehmensziel der Gewinnmaximierung aus den Lehrbüchern zu verbannen. Gewinne machen ist ok, sofern sie für nachhaltige Investitionen eingesetzt werden und nicht der Bereicherung der Eigentümer dienen, die hohe Renditen fordern.
In anderen Regionen könnten bessere Märkte mehr Lebensqualität bieten, etwa durch leistbare Lebensmittel aus der Region. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt von weniger als 2,50 US-Dollar pro Tag[13]. Doch auch diese Märkte stagnieren oder schrumpfen sogar. Denn dort gilt eine Grundannahme der Ideologen des freien Markts schon gar nicht: dass der ökonomische Tausch stets freiwillig und daher machtfrei sei. Christian Felber analysiert diese Situationen folgendermassen:
„Machtgefälle resultieren einerseits aus den unterschiedlichen Teilnahmevoraussetzungen am Markt. Manche Menschen starten mit einer grossen Erbschaft und zahlreichen Talenten, andere mit chronischen Gesundheitsproblemen und ohne Erbteil. Marios Vater ist Grossgrundbesitzer, Marias allein erziehende Mutter landlose Erntehelferin. Ihre Tauscherfolge werden höchst unterschiedlich ausfallen, weil ihre Tauschvoraussetzungen höchst unterschiedlich sind.
Machtgefälle resultieren zweitens daraus, dass der Grad der Freiwilligkeit an der Teilnahme an ökonomischen Tauschbeziehungen unterschiedlich ist. Viele Menschen haben nicht die Freiheit, auf einen Tausch zu verzichten, sie stehen unter Kaufzwang oder Verkaufszwang. Ich kann es mir beispielsweise nicht leisten, keine Wohnung zu kaufen oder zu mieten.“[14]
Die liberale Wirtschaftsmoral kennt keinen Genierer davor, dass derjenige, der am längeren Ast sitzt, dies auch ausnützen soll. Gewinnstreben zum eigenen Vorteil gilt als rational und vernünftig. Oft schlägt der Profit jede Ethik und versucht zudem, in Steueroasen zu flüchten, gesetzliche Regelungen zu umgehen oder ihre Entstehung zu beeinflussen. Denn längst geht es beim Profitstreben nicht mehr nur um das Ziel der Versorgung von Grundbedürfnissen oder den Erhalt von Arbeitsplätzen, sondern darum, den Rahm mit allen Mitteln von unbeackerten Märkten abzuschöpfen. Wer diese Kunst am besten beherrscht, wird mit Reichtum oder mit Kursgewinnen belohnt und investiert diese am liebsten in Finanzprodukte, weil sich dann das Geld dort von selbst vermehrt. Klar, wer sich für eine Sache einsetzt, Arbeitsplätze schafft, Risiken eingeht oder eine zeitlang überdurchschnittlich viel leistet, dem soll auch eine Belohnung zustehen. Doch die Verhältnisse sind völlig aus den Fugen geraten, wenn es Leute gibt, die das hundertfache vom Durchschnittseinkommen in einer Region verdienen. Und bei Investmentbankern sind Bonuszahlungen in Millionenhöhe auch nach der Finanzkrise üblich: Geld, das aus Geld produziert worden ist und wofür die anderen 99 Prozent Leistungen und Verzicht erbringen.
Widmen wir uns jenen Märkten, die riesige Geldmengen rund um den Erdball verschieben, um mit Spekulationen Gewinne zu erzielen. 2007 war das Volumen der Finanztransaktionen 74 mal so hoch wie die Weltproduktion[15]. Es ist die unglaubliche Summe von etwa 10 Billionen US Dollar, mit denen Wetten auf fallende oder steigende Werte von Firmen, Devisen oder Rohstoffen an einem durchschnittlichen Handelstag abgeschlossen werden. Allein über die Börsen- und Maklergebühren verdienen die Finanzplätze New York, London oder Frankfurt täglich Milliarden. Wenn weltweit die Börsenkurse inklusive der Derivate um ein Prozent steigen, gewinnen alle Mitspieler 10 Milliarden US Dollar pro Tag. Unsere Banken und Pensionsfonds versprechen, dass das Geld „für Sie arbeitet“, doch es vermehrt sich natürlich nicht von selbst - „ein Geldschein hat noch nie eine Schaufel oder ein anderes Werkzeug in die Hand genommen.“[16] Jemand anders vermehrt das geborgte Geld und muss dafür arbeiten, und zwar in der realen Wirtschaft. Denn das Geld will ja auch wieder eingelöst werden, für die Pensionisten mit der dritten Säule der Ausflug in die Cinque Terre oder für die Kreuzfahrt und für die Banker in Immobilien, Sportwägen, Catering und Yachten.
Weshalb steigen die Renditen unermesslich, auch wenn der Bedarf an Krediten gering und die Kapitalmenge gross ist, die angelegt werden will? Entsprechend dem Gesetz von Angebot und Nachfrage gibt es im herkömmlichen Kreditwesen nichts mehr zu holen. Christian Felber beschreibt fünf Strategien, die die Finanz- und Vermögensverwaltungsindustrie geschaffen hat, um ihren Heisshunger trotzdem zu stillen: Erstens, Renditen werden global gesucht, man investiert in den so genannten Emerging Markets, also in Lateinamerika, Indien oder Asien, zieht aber auch schnell wieder Kapital ab, wenn es die ersten Anzeichen einer Unsicherheit gibt (und löste damit 1994 die Mexikokrise und 1998 die Asienkrise aus). Zweitens wurden Grundversorgungsbereiche privatisiert, um Geld in leere Kassen der Kommunen zu bringen. Gesundheitsbetriebe oder die Wasserversorgung sind stabile Umsatzbringer und daher für Anleger interessant. Auch Banken waren früher staatlich oder genossenschaftlich organisiert und hatten vor allem den Auftrag, der lokalen Wirtschaft günstige Investitionskredite zu verschaffen. Heute werden sie selbst an der Börse gehandelt und können somit Angriffsflächen von Spekulationen werden. Drittens presst das Shareholder-Value-Prinzip aus jedem Betrieb das letzte heraus, was an Optimierung und Performance möglich ist, sehr oft auf Kosten der MitarbeiterInnen. Die Ankündigung von Jobabbau beflügelt den Unternehmenskurs. Viertens wird mit Finanzderivaten gezaubert. Hedgefonds ermöglichen grosse Umsätze an der Börse durch eine kleine Hebelwirkung und mit geringer Kapitaldeckung. Kredite werden in „Collateral Dept Obligations“ zusammengefasst, weiterverkauft und mit „Credit Default Swaps“ abgesichert, ohne dass sich jemand die Kredite genauer angesehen hat. Als viele Hausbesitzer in den USA ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten, lösten die faulen Pakete die Sub-Prime Krise 2008 aus. Fünftens hat der Finanzsektor Demokratien unterwandert. „Die immer stärkere Finanzindustrie hat die Politik erfolgreich dazu gedrängt, alle hemmenden Regulierungen zu schleifen und neue Kapitalmarkt- und Investmentgesetze zugunsten der Reichen zu erlassen.“[17] In den letzten 10 Jahren hat der Finanzsektor in den USA mehr als 5 Milliarden Dollar für Lobbyisten ausgegeben,[18] womit zum Beispiel die Regulierung von Finanzderivaten 1998 erfolgreich verhindert wurde. Nicht selten wechseln Politiker nach ihrer Amtszeit in die Finanzwirtschaft und können dort die Früchte dann geniessen. Eine weitere Strategie der wundersamen Geldvermehrung war es, Steuerlücken zu nutzen, die fette Leasinggeschäfte über die Grenze begünstigten.[19]
Wir haben es also mit einer grossen Blase zu tun, die immer dann platzen muss, wenn die reale Wirtschaftsleistung sie nicht weiter füttern kann. Unser dereguliertes Geldsystem ist fehleranfällig und erschüttert regelmässig einzelne Länder, Kontinente und 2008 die ganze Welt mit teilweise massiven Entwertungen. In den letzten 10 Jahren gab es 27 Finanzkrisen, die meisten davon waren koordinierte Spekulationen gegen eine bestimmte Währung. So erleben wir auch die Schuldenkrise 2011: Ratingagenturen setzen gezielt Staaten unter Druck und stufen sie ab - dreist oder zugegebenermassen irrtümlich. Damit bringen sie den Finanzmarkt immer wieder zum Schwingen, womit Spekulationen mit Hebelwirkung hoch profitabel bleiben, ohne echte Werte zu schaffen.
Gewinner sind Leute und Länder, die schon reich sind, und es verlieren jene, die viel arbeiten und davon kaum leben können. Die Redewendung, dass der Teufel immer auf den grösseren Haufen scheisst, wird auch als „Matthäus-Effekt“ gepredigt: "Denn jene, die haben, denen wird gegeben werden; jenen, die nichts haben, wird sogar das noch genommen werden."[20] Das ist unchristlich, unethisch und unsozial. Erleben kann man das etwa auf dem 4er-Sessellift im Schigebiet St. Anton am Arlberg, wenn sich Londoner Börsenspekulanten unverfroren über ihre unerhofften Profite unterhalten und in luftigen Höhen den Kauf der Villa in Spanien samt Sportwagen planen.
Geld ist trotz Säkularisierung untrennbar verbunden mit dem religiösen Ursprung der Schuld, diese findet sich in Bezeichnungen wie Credit, Exekution oder Money, angeleitet von Juno Moneta, der höchsten Göttin Roms, die Schuldverhältnisse sanktionierte[21]. Wir müssen Wege finden, uns von dieser Schuld zu befreien. Doch das wird im bestehenden Geldsystem schwierig werden. Immerhin betrug 2009 der Schuldenstand der Bundesrepublik Deutschland 1523 Milliarden Euro[22], davon entfallen etwa 61 Prozent auf den Bund und knapp 33 Prozent auf die Länder – der Rest auf die Kommunen und Sozialversicherungs-Träger und damit 18.568 Euro pro Kopf. Die Bewertung der Staatsverschuldung ist in den Wirtschaftswissenschaften kontrovers: Während David Ricardo sie als „eine der schrecklichsten Geisseln, die jemals zur Plage einer Nation erfunden wurden“ bezeichnete, lässt sich aus keynesianischer Sicht eine verstärkte Verschuldung temporär zur „Ankurbelung“ des Wirtschaftswachstums rechtfertigen. Staatsschulden in eigener Währung können theoretisch in unbegrenzter Höhe aufgenommen werden. Allerdings gestaltet sich die Emission von Staatsschuldtiteln für einen bereits hochverschuldeten Staat in der Regel äusserst schwierig, da die Finanzmärkte eine Rückzahlung aufgrund der mangelnden Bonität der aufgenommenen Schulden für sehr fragwürdig erachten und dem Staat somit liquide Mittel entweder gar nicht mehr oder nur noch zu sehr hohen Zinsen anbieten. Der verschuldete Staat rutscht so in den Teufelskreis einer Haushaltsnotlage aus immer höheren finanziellen Verpflichtungen mit Zinsen und Tilgung bereits bestehender Schulden und einem immer begrenzteren Zugang zum Finanzmarkt. Diese Spirale kann mit dem Verlust der Kreditwürdigkeit oder gar mit der Zahlungsunfähigkeit des Staates, also einem Staatsbankrott, enden.[23]
Kritiker einer Verschuldungspolitik argumentieren, dass durch die Staatsverschuldung die jetzige Generation auf Kosten zukünftiger Generationen lebe. Der deutsche Staat ist zu etwa 60 Prozent bei inländischen Gläubigern verschuldet, der Rest sind Auslandsschulden. Die 60 Prozent der inländischen Schulden werden zu etwa zwei Dritteln von inländischen Kreditinstituten und zu einem Drittel von Nichtbanken (Versicherungen, Unternehmen, aber auch Privatpersonen) bereitgestellt. Durch die hohe Nachfrage des Staates nach Geld steigen die Zinsen und damit die Finanzierungskosten der Unternehmen. Für sie werden Kredite teurer, Investitionen unterbleiben. Und der Zinsendienst bedeutet letztlich eine Umverteilung von unten nach oben. Mit Umsatz- und Einkommenssteuer dienen wir den Geldverleihern, die in ihrer Unersättlichkeit versuchen, über verschiedene Hebel an der Börse mit dem Zinsgewinn noch mehr Profit zu machen.
In einem primitiven politischen System wird Macht durch Kriege ausgeübt, in entwickelten Ländern durch Geld. Insbesondere in den USA wurde das Geld zum Glaubensbekenntnis: Was gut war für die Wall Street, war gut für's Land.[24] Und ein saftiges Budgetdefizit sichert den weltweiten Einflussbereich, weil die Abhängigkeiten steigen. Alleine in 2008 haben die USA 673 Milliarden USD an neuen Schulden im Ausland aufgenommen. Mit mehr als 13.000 Milliarden USD betrug 2010 die Schuldenquote der USA 95% des BIP, die Hauptgläubiger sind die Volksrepublik China, Japan, Grossbritannien und karibische Banken-Länder. Russland ist übrigens mit insgesamt nur 384 Milliarden USD Staatsverschuldung beinahe schuldenfrei, aber eigenartiger Weise weniger kreditwürdig.
Geld wurde selbst zur Ware und ein Medium zur Machterhaltung, anstatt nur Schmiermittel für die Wirtschaft zu sein. Felber fordert konsequenterweise, gewinnorientierte Banken gänzlich zu verbieten.[25] Tatsächlich gibt es im deutschsprachigen Raum noch ein flächendeckendes Netz von Genossenschaftsbanken und regionalen Sparkassen, die wieder stärker demokratisch ausgerichtet werden könnten. Sie würden der lokalen Wirtschaft und den Sparern dienen, die freilich nicht mehr so hohe Renditen erwarten dürften.
Auch im Jahr nach der Finanzkrise 2008 ist der Finanzsektor weiterhin nicht stärker reguliert als vorher, erst 2010 ringen sich einige Staaten durch, eine Bankensteuer einzuheben. Versuche, Gehälter und Bonuszahlungen von Finanzmanagern einzuschränken gelang manchmal dort, wo durch Finanzspritzen eine Mitsprachemöglichkeit durch den Staat erwirkt worden ist. Eine Krise jagt die andere, und manche Autoren fürchten, dass die nächsten viel schlimmer als bisher ausfallen könnten. Wir können einerseits versuchen, die Politik weiterhin zu bewegen, einschneidende Regulierungen auch umzusetzen. Andererseits gilt es, Netzwerke aufzubauen oder zu stärken, die auch ohne Geld eine Versorgung der Grundbedürfnisse ermöglicht. Dazu gehören Tauschkreise oder Zeitbanken, aber auch die Formierung von Kooperationsgruppen von 15 bis 25 Personen, die in essenziellen materiellen Dingen zusammenarbeiten.[26] Diese bereiten sich nicht nur auf Krisenszenarien vor, die in den nächsten Jahren eintreten können, also kein Benzin und Gas, Stromausfälle, leere Supermarktregale, Geldnot oder Arbeitslosigkeit, sondern üben auch ein Zusammenleben nach ethischen Gesichtspunkten. Im Krisenfall gilt es auch, wachsam gegenüber politischen Führerfiguren zu sein, die Allheilmittel versprechen und Ausgrenzung und Verhetzung betreiben. Sonst wiederholt sich möglicherweise die Geschichte der 1930er Jahre in abgewandelter Form doch noch irgendwann.
Das Ratingkarussell
[Bearbeiten]Ein grosser Teil der weltweiten Investoren und Gläubiger ist - mangels eigener Analysen - darauf angewiesen, dass die Kreditwürdigkeit (Bonität) ihrer Schuldner regelmässig von Dritten untersucht wird, um das Rückzahlungsrisiko ihrer Forderungen einschätzen zu können. Ratingagenturen sind private und gewinnorientierte Unternehmen, die gewerbsmässig die Bonität von Unternehmen aller Branchen, Staaten und deren untergeordneten Gebietskörperschaften durch eine Buchstabenkombination bewerten. Der Ratingcode reicht in der Regel von AAA (beste Qualität) bis D (zahlungsunfähig).[27] Als Bewertungsbasis dienen Bilanzkennzahlen und Unternehmensinterna, dies sind etwa genaue Angaben über die zehn grössten Kunden und Lieferanten, über Finanzpläne und Informationen über die wichtigsten Wettbewerber, genaue Kosten- und Ertragsstrukturen sowie Planungen. Die Analyse der quantitativen und qualitativen Faktoren, die durch Interviews mit den Finanzvorständen der Schuldner ergänzt werden kann. Die Ratingempfehlung der Analysten wird einem Rating-Komitee vorgelegt. Im Falle einer Unternehmensbewertung wird die Entscheidung zunächst dem Auftraggeber vorgelegt und nach dessen Genehmigung veröffentlicht. Auch über jedes Rating-update, das mindestens einmal jährlich stattfindet, entscheidet das Rating-Komitee autonom, dann aber ohne Abstimmung mit dem Schuldner. Ratings galten lange Zeit als allgemein anerkannte und zuverlässige Richtwerte. In der jüngeren Vergangenheit hat sich jedoch immer wieder herausgestellt, dass die Agenturen bei ihren Ratingeinstufungen in Einzelfällen krass von der Realität mancher Schuldner entfernt waren. Kurz vor der Pleite der Lehmann Bank hatte Standard & Poor's diese noch mit AAA benotet. Eric Kolchinsky, ehemaliger Abteilungsleiter für strukturierte Kreditpapiere bei Moody's, wurde gekündigt, weil er in seitenlangen Memos Interessenskonflikte aufzeigte.[28] Wenn der Kunde für die Bewertung viel zahlt, darf sie nicht schlecht ausfallen. Und die Ratingagenturen sollen natürlich ihre eigenen Shareholder, das sind zahlreiche Banken, nicht schädigen, sondern den Markt verunsichern, damit fleissig spekuliert werden kann.
Grössere Kreditverträge beinhalten Anpassungs- und Kündigungsklauseln, die mit den Ratings einer Agentur verknüpft sind. Und wer einen Kredit benötigt, muss Eigenkapital nachweisen, und zwar umso weniger, je besser das Rating ausfällt. Fällt das Rating, so löst das Downgrading einen weiteren Kapitalbedarf aus. Ein solches Trigger-Event kann für eine Bank, ein Unternehmen oder einen Staat rasch zu einer rasanten Talfahrt werden, auf die wiederum an den Börsen Wetten abgeschlossen werden, sobald das Downgrading publik ist. Dieser Teufelskreis für die Betroffenen und der Geldsegen für die Spekulanten ist nichts anderes als eine selbst-erfüllende Prophezeiung, welche die Ratingagenturen steuern. Dieser Effekt war eine der Hauptursachen für die Insolvenz des Orange-County oder von Enron. Ratings gehören in den USA und in vielen anderen Staaten zur konstitutionell geschützten Meinungsfreiheit, sodass aus möglicherweise falschen oder unliebsamen Ratings keine legale Sanktionen abgeleitet werden können. Es verbleibt lediglich der öffentliche Druck durch Medien oder wie im Falle Enron die Einberufung eines Untersuchungsausschusses. Der mangelnde Sanktionsdruck wird durch eine national oder international fehlende einheitliche Aufsicht über die Agenturen noch begünstigt. Und die Lobbyarbeit des Rating-Oligopols hat gewirkt: die drei grossen Rating – Agenturen, die sich den Weltmarkt zu 95 % aufteilen, werden auch nach ihren Fehleinschätzungen in der sub-prime Krise 2008 nicht kontrolliert. 2011 setzen sie das Spiel fort: Griechenland wird auf CCC gestuft. Die Politik kann nur reagieren: Milliardenzuschüsse, um letztlich die Bankenwelt vor einem Kollaps zu bewahren und deren Gewinnerwartungen mit Steuermitteln abzusichern, die wir alle über die Inflation in den nächsten Jahrzehnten bezahlen werden.
Umwelt und Ressourcen
[Bearbeiten]Unsere Lebensweise in Mitteleuropa benötigt vier Planeten mit der Qualität der Erde, wenn alle Menschen auf der Welt so lebten wie wir. Wir verbrauchen zu viel Energie und zu viel Rohstoffe. Selbst wenn wir unseren Energiebedarf komplett auf erneuerbare Träger umstellen könnten, müssten wir diese aus anderen Regionen importieren. Hier ein Rechenbeispiel: Unser Energieverbrauch pro Kopf beträgt in Österreich 48 MWh pro Jahr[29], direkt durch Heizung, Treibstoff und indirekt durch konsumierte Waren und benutzte Infrastrukturen. Dies entspricht einer Menge von 30 Kubikmeter Buchenholz, das auf einer Fläche von vier Fussballfeldern nachhaltig wächst. Nur ein Viertel der Österreicher könnten ihren Energiebedarf mit heimischem Wald decken, wenn wir annehmen, alle Flächen sind wertvolle Buche und könnten regelmässig geerntet werden. Eine Autarkie von fossiler Energie bleibt also illusorisch, wenn wir nicht den Verbrauch drastisch reduzieren.
Auch der Klimaschutz fordert massive Einschränkungen. Wenn bis 2050 die Erderwärmung um 2 Grad Celsius beschränkt werden soll, müssen wir den CO2-Ausstoss um etwa 80 bis 90 Prozent im Vergleich zu 2005 reduzieren[30]. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur globalen Erwärmung wird durch das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, im Deutschen oft als „Weltklimarat“ bezeichnet) diskutiert und zusammengefasst.[31] Durch Verbrennen fossiler Brennstoffe und durch die weltumfassende Entwaldung wird das Treibhausgas Kohlendioxid in der Atmosphäre angereichert. Extensive Land- und Viehwirtschaft sind eine zusätzliche Ursache. Die Treibhausgase Wasserdampf, Kohlendioxid, Methan und Lachgas sind natürliche Bestandteile der Atmosphäre, daher wird die von ihnen verursachte Temperaturerhöhung als natürlicher Treibhauseffekt bezeichnet. Ohne sie läge die längerfristig und global gemittelte bodennahe Lufttemperatur der Erde bei etwa -18 °C und damit um ungefähr 33 °C unter dem heutigen Mittelwert von etwa +15 °C. Die Erde wäre damit für die meisten Lebewesen unbewohnbar. Die Hauptbestandteile der Erdatmosphäre, Stickstoff, Sauerstoff und Argon mit zusammen über 99,9 Prozent Masseanteil entfalten so gut wie keine Treibhauswirkung. Lediglich die geringen Konzentrationen der Treibhausgase ermöglichen, zusammen mit Wasserdampf, durch ihre wärmende Wirkung Leben auf der Erde. Im Jahr 2000 machten Kohlendioxidemissionen 78 Prozent der anthropogenen (vom Menschen verursachten) Treibhausgasemissionen aus, Methan 14 Prozent und Lachgas 7 Prozent. In der Klimatologie ist es Konsens, dass diese gestiegene Konzentration der vom Menschen in die Erdatmosphäre freigesetzten Treibhausgase die wichtigste Ursache der globalen Erwärmung ist, da ohne sie die gemessenen Temperaturen nicht zu erklären sind. Das IPCC schätzt den Grad des wissenschaftlichen Verständnisses über die Wirkung von Treibhausgasen als „hoch" ein.
Mit der Ausnahme weniger Regionen ist seit 1979 weltweit eine Erwärmung zu verzeichnen. Die Luft über Landflächen erwärmt sich allgemein stärker als über Wasserflächen. Folglich stiegen die Temperaturen auf der Nordhalbkugel, auf der sich der Grossteil der Landflächen befindet, in den vergangenen 100 Jahren stärker an als auf der Südhalbkugel. Die Nacht- und Wintertemperaturen stiegen etwas stärker an als die Tages- und Sommertemperaturen. Aufgeteilt nach Jahreszeiten wurde die grösste Erwärmung während der Wintermonate gemessen, und dabei besonders stark über dem westlichen Nordamerika, Skandinavien und Sibirien. Im Frühling steigen die Temperaturen am stärksten in Europa sowie in Nord- und Ostasien an. Im Sommer sind Europa und Nordafrika am stärksten betroffen, und im Herbst entfällt die grösste Steigerung auf den Norden Nordamerikas, Grönland und Ostasien. Besonders markant fällt die Erwärmung in der Arktis aus, wo sie im jährlichen Mittel etwa doppelt so hoch ist wie im globalen Durchschnitt.
Für die verschiedenen Luftschichten der Erdatmosphäre wird theoretisch eine unterschiedliche Erwärmung erwartet und faktisch auch gemessen. Während sich die Erdoberfläche und die niedrige bis mittlere Troposphäre erwärmen sollten, lassen Modelle für die höher gelegene Stratosphäre eine Abkühlung vermuten. Tatsächlich wurde genau dieses Muster in Messungen gefunden. Die Satellitendaten zeigen eine Abnahme der Temperatur der unteren Stratosphäre von 0,314 °C pro Jahrzehnt während der letzten 30 Jahre. Diese Abkühlung wird zum einen durch den verstärkten Treibhauseffekt und zum anderen durch Ozonschwund durch FCKWs in der Stratosphäre verursacht. Wäre verstärkte Sonnenaktivität die massgebliche Ursache, hätten sich alle Schichten gleichermassen erwärmen müssen.[32] Nach dem gegenwärtigen Verständnis heisst dies, dass der überwiegende Teil der beobachteten Erwärmung durch menschliche Aktivitäten verursacht sein muss. Das Klimaschutzabkommen von Kyoto schuf dafür ein weltweites Bewusstsein und die Klimagipfel in Kopenhagen ound Durban gelten als Wendepunkte. Können wir die dort formulierten Ziele auch erreichen?
Heute beansprucht der Baubereich - von der Herstellung der Baustoffe bis zur Beheizung und Kühlung der Gebäude - rund die Hälfte der gesamten nicht erneuerbaren Energie. Der Schweizer MINERGIE®-Standard ist ein freiwilliger Baustandard, der den rationellen Energieeinsatz und die breite Nutzung erneuerbarer Energien bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensqualität und Senkung der Umweltbelastung ermöglicht. 2009 sind etwa 13 Prozent der Neubauten und 2 Prozent der Sanierungen in der Schweiz nach Minergie zertifiziert, zum Beispiel die Studentensiedlung Bülachhof in Zürich.[33] Mit dem Label wurden für den Laien klare Standards im Bereich des Gebäudeheizenergieverbrauchs geschaffen. Nebst dem ökologischen Effekt führt die vorgeschriebene Isolation zu höheren Oberflächentemperaturen und zusammen mit der Lüftung zu angenehmerem Komfortempfinden und besserem Schutz gegen Aussenlärm und Feuchteschäden. Der zuverlässige Schutz gegen Schimmelpilz beinhaltet einen wichtigen Gesundheitsaspekt. Die Energieeinsparungen sind beträchtlich, benötigt ein solches Passivhaus doch weniger als ein Drittel eines durchschnittlichen Gebäudes. Der Standard sagt allerdings nichts darüber aus, wie viel Gesamtenergie pro Person benötigt wird, da es keine Einschränkung der Nutzfläche gibt.
Die uns zum Leben zur Verfügung stehenden Flächen werden auch knapper, wenn wir Materialien und Produkte, die aus fossilen Stoffen hergestellt werden, auf erneuerbare Grundstoffe umstellen wollen. Aus Erdöl kann fast jedes chemische Erzeugnis produziert werden: Farben und Lacke, Arzneimittel, Wasch- und Reinigungsmittel, Verpackungsmaterial oder Spielzeug. Etwa 13% des weltweiten Erdöl- und Gasverbrauchs wird verwendet, um chemische Grundprodukte herzustellen[34]. Gibt es kein Erdöl mehr, müssen diese Grundchemikalien über komplizierte und kostenintensive Verfahren mit hohem Energieverbrauch hergestellt werden. Wenn wir Kunststoff-Fasern ersetzen wollen, wäre der zusätzliche Flächenbedarf beachtlich. Derzeit wird etwa die Hälfte aller Textilfasern aus Baumwolle hergestellt. Deren Anbau verbraucht schon heute ein Viertel sämtlicher Agrochemikalien und Pestizide, die wiederum aus Erdöl hergestellt werden, und ist zudem sehr bewässerungsintensiv. Die Anbauregionen für Baumwolle sind vom Klimawandel besonders stark betroffen, also wird man dort noch mehr Energie aufwenden müssen, um mehr Natur-Fasern herstellen zu können. Anstatt also alles zu verpacken und jede Mode mitzumachen, müssen wir mit den Materialien sorgsamer umgehen und Mehrwegverpackungen einsetzen, daran führt kein Weg vorbei.
Ein viel versprechendes und altbewährtes Material ist Hanf, der auch in unseren Breiten wächst und sich vorzüglich eignet, um Gewebe für Bekleidung oder Verpackungen herzustellen. Es werden keinerlei Herbizide benötigt, weil die Pflanzen bereits nach wenigen Tagen den Boden vollständig beschatten, sodass kein Unkraut mehr Licht findet. Ausserdem ist er äusserst schädlingsresistent und pflegeleicht. Hanf produziert mehr Biomasse als jede andere heimische Nutzpflanze. In der Wirtschaft ist Hanf äusserst vielseitig einsetzbar und wird wegen seiner hohen Haltbarkeit, Umweltverträglichkeit und niedrigen Energiebilanz geschätzt.[35] Die Hanffaser ist der Baumwollfaser in vielerlei Hinsicht überlegen und auch für die Herstellung bestimmter Papiere geeignet. 14 Nutzhanf-Sorten sind in der EU zum Anbau erlaubt, doch liegt die Produktion in Europa weit hinter der Nachfrage zurück.
Wir werden eine Konkurrenz der Flächen erleben, die wir zum Leben, zur Erholung, für Lebensmittel, für den Anbau von Materialien oder für solare Energieträger benötigen. Der Bedarf muss auf jeden Fall sinken, wenn wir nicht weiterhin auf Kosten anderer Regionen leben wollen, die uns ihre Flächen zur Verfügung stellen. Wenn wir den Einsatz von Pestiziden und Düngermitteln reduzieren, müssen wir vielleicht kurzfristig mit Ertragseinbussen rechnen und auf eine nachhaltige Dreifelderwirtschaft zurückgehen: ein Jahr Sommergetreide, ein Jahr Wintergetreide und ein Jahr Brache, die den Boden regeneriert. Bei den Fintan Biobetrieben am Schweizer Rhein hat sich eine elfjährige Fruchtfolge bewährt, damit der Boden jedes Jahr besser wird.
Wo es Wald gibt, kann Holz die erneuerbare Energie liefern. Güssing im Burgenland macht es vor, nachdem der Gemeinderat 1990 beschloss, dass die Stadt unabhängig von fossiler Energieversorgung werden muss. Die Stadt Dornbirn errichtete 2009 ein Nahwärmekraftwerk, um kommunale Bauten mit Wärme zu versorgen. Dort versorgt bereits seit 2007 der Landwirt Ilg den Stadtteil Hatlerdorf mit Wärme aus heimischen Wäldern und wurde so zum Energiewirt.
Jeder Österreicher verbraucht im Jahr 48 MWh oder rund um die Uhr 5500 Watt Energie, das entspricht einer Stromrechnung von 7000 Euro im Jahr oder 5000 Liter Diesel. Viele Schweizer Kantone und Städte haben sich zum Ziel gesetzt, dass ihre Bewohner nicht mehr als 2000 Watt Dauerleistung verbrauchen. Sie versprechen, dass wir dabei auf lieb gewonnen Komfort nicht verzichten müssen. Der Journalist Hanspeter Guggenbühl hat auf www.ecospeed.ch mal schnell nachgerechnet: „Selbst wer in einem Minergie-Passivhaus lebt, kein Auto besitzt, nie fliegt und die effizientesten Geräte benutzt beansprucht in einem kinderlosen Zwei-Personen-Haushalt rund 4000 Watt. Diese energetisch effiziente Person kann ihren Bedarf nur dann noch wesentlich vermindern, wenn sie ihren Konsum an Gütern und Wohnraum sowie ihr Einkommen weit unter den Durchschnitt senkt.“[36] Die „2000-Watt-Gesellschaft“ darf nicht zum Marketingspruch von Metropolen verkommen, wenn sie einerseits energieeffizientes Bauen unterstützt, jedoch andere Aspekte unseres Konsumverhaltens nicht in die Berechnungen mit einbezieht. Energiesparen bedeutet nicht zwingend, nicht mehr mobil zu sein oder im Winter zu frieren. Doch wir müssen uns wohl damit auseinandersetzen, welchen Lebensstandard wir erreichen oder halten wollen beziehungsweise was für uns Lebensqualität eigentlich bedeutet. Viel zu konsumieren wirkt sich überproportional stark auf unseren Energieverbrauch aus, weil wir mit dem Konsum energieaufwändige Kreisläufe der Ver- und Entsorgung aktivieren.
Auch mit Rohstoffen müssen wir sorgsamer umgehen. Ein Durchschnittsamerikaner hatte im Jahr 1999 238 kg Kupfer aktuell in Verwendung, für Kabel, Transformatoren, Rohre, Dächer, Armaturen oder Besteck. Wenn man 2070 alle abbaubaren Kupferreserven auf 9 Milliarden Menschen aufteilen wollte, blieben für jeden 178 kg.[37] Kupfer werden sich aber auch künftig nur die reichen Länder leisten können, denn schon jetzt kostet eine Tonne mehr als 5000 Euro. In Ghana und Nigeria trifft man Kinder vor offenem Feuer, die versuchen, ein paar Gramm Kupfer aus Elektronikschrott zu schmelzen. Oder sie probieren, mit Säuren Edelmetalle wie Gold oder Platin herauszuätzen. Dabei lösen sich aber auch Blei, Kadmium, Quecksilber und bromierte Flammschutzmittel, die Grundwasser und Boden nachhaltig verseuchen. Allein in Europa fallen jährlich 8,7 Millionen Tonnen Elektroschrott an. Davon wird nur ein Viertel gesammelt, der Rest lagert zu Hause, wild auf Deponien, kommt in den Restmüll oder ins ferne Ausland. Ein Recycling der mehr als 30 in Verwendung befindlicher Metalle wäre eine gute Sache, wenn ökologische und soziale Bedingungen eingehalten würden.
Netbooks, Smartphones, Flatscreen-Monitore und Spielkonsolen erleben einen ungebrochenen Boom und haben viel Durst nach Lötzinn. Indonesien ist der zweitgrösste Zinnproduzent, dort wird auf den Inseln Bangka und Belitung händisch mit Schüsseln Zinnsand gewonnen. Der Abbau erfordert die Rodung von Wäldern und hinterlässt für Menschen, Tiere und sogar Pflanzen unbewohnbare Kraterlandschaften. Die Elektronikindustrie muss künftig mehr tun, als anzukündigen, Strom zu sparen. Sie muss uns Konsumenten glaubhaft machen, dass sie sich um Fairness beim Abbau und bei der Herstellung kümmert und das Recycling selbst in die Hand nimmt. „Für uns Verbraucher heisst das vor allem, genau zu überlegen, ob wirklich ein neues Produkt notwendig ist und insgesamt mehr Druck auf die Hersteller auszuüben, damit sie ökologisch und sozial akzeptable Geräte herstellen. Kampagnen von Greenpeace oder makeITfair zeigen, dass sich etwas bewegen lässt“ schreibt Cornelia Heydenreich, die sich für Standards in der Zulieferkette von IT-Produkten engagiert.[38] Obwohl wir die Arbeitsbedingungen etwa in Elektronikfabriken im Südosten Chinas oder in Korea seit Jahrzehnten erahnen, ist fair produzierte Elektronik heute noch immer nicht am Markt erhältlich.
Transparenz ist auch bei grünen Technologien wichtig. Generatoren in Windkraftanlagen oder Motoren für Elektro-Fahrräder benötigen starke Magnete. Durch Zugabe des Edelmetalls Dysprosium können diese um bis zu 90% leichter gebaut werden. Die so genannten Metalle der Seltenen Erde, welche die Effizienz in vielen Energietechnologien steigern können, werden heute vor allem im Südosten Chinas abgebaut, jedoch meist ohne Schürflizenz und entsprechenden Schutz der Umwelt.[39] Es fehlen weitestgehend Informationsketten, um die Herkunft und Bedingungen der Herstellung sichtbar zu machen. Grüne Technologien sollten diese mit Nachdruck einfordern, um nicht eines Tages in Kritik zu geraten, an einer Ausbeutung auf anderer Ebene wesentlich beteiligt zu sein. Die FairIT Kampagne der Südwind Agentur bietet eine Reihe von Medien, um auf die Schieflage in diesem Sektor aufmerksam zu machen und letztlich über den Druck der Kaufkraft der Konsumentinnen Veränderungen vorzubereiten.
Ökologischer Fussabdruck
[Bearbeiten]Alle natürlichen Rohstoffe, die wir für Ernährung, Wohnen, Mobilität und Konsum verbrauchen, benötigen Platz zum Nachwachsen auf unserem Planeten. Ebenso braucht die Natur Ressourcen, um unsere Abfälle abzubauen, etwa Wälder, um das CO2 zu binden). Der ökologische Fussabdruck macht diesen Flächenbedarf deutlich und vermittelt ein verständliches Bild der ökologischen Grenzen unseres Planeten.[40] Er misst, wie viele Planeten von der Qualität der Erde nötig wären, wenn alle 7 Milliarden Menschen die gleiche Ressourcenmenge verbrauchen würden, wie man selbst benötigt. Das „Footprint“ Rechenmodell wurde Anfang der 1990er Jahre von den Wissenschaftlern William Rees und Mathis Wackernagel entwickelt. Sie haben Footprint als Massstab für den globalen Ressourcenverbrauch vorgeschlagen. Ihre Forschungsfrage lautete: Wie viel Fläche beanspruchen wir, wie viel haben wir zur Verfügung? Der Ökologische Fussabdruck einer Person oder eines Landes wird in Global Hektar (1 gha = 10.000 m²) gemessen. Je grösser der Footprint, desto stärker wird die Umwelt beansprucht.[41]
Der Footprint misst also nichts anderes als den Flächenbedarf einer Person bei einer bestimmten Lebensweise. Dieser wird der Biokapazität einer Region gegenübergestellt, das ist die Fähigkeit der Natur, Rohstoffe auf- und Schadstoffe abzubauen. Die weltweit verfügbare Fläche zur Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse wird nach Daten des Global Footprint Network und der European Environment Agency insgesamt um 23 Prozent überschritten. Danach werden bei gegenwärtigem Verbrauch pro Person 2,2 Hektar weltweit beansprucht, es stehen allerdings lediglich 1,8 zur Verfügung. Dabei verteilt sich die Inanspruchnahme der Fläche sehr unterschiedlich auf die verschiedenen Regionen. Europa (EU25 und Schweiz) beispielsweise benötigt 4,7 Hektar pro Person, kann aber nur 2,3 selber zur Verfügung stellen. Dies bedeutet eine Überbeanspruchung der europäischen Biokapazität um über 100 Prozent. Frankreich beansprucht demnach annähernd das Doppelte, Deutschland etwa das Zweieinhalbfache und Grossbritannien das Dreifache der verfügbaren Biokapazität. Ähnliche Ungleichgewichte finden sich auch zwischen Stadt und Land. Die USA brauchen etwa 9,7 Hektar, Grossbritannien 5,6, Brasilien 2,1, die Volksrepublik China 1,6 und Indien 0,7 für eine Person.[42]
Der Carbon Footprint legt diese Werte auf Kohlendioxid um. Da verursacht ein Nordamerikaner mehr als 20 Tonnen, ein Europäer etwa 10 und ein Inder etwa 1 Tonne CO2. Viel mehr als eine Tonne sollten es global nicht sein, im Durchschnitt liegen wir heute bei 4 Tonnen pro Person. Für eine zukunftsfähige Welt braucht es mehr als einen passenden Fussabdruck. Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit sind genauso wichtig, können aber mit dem Fussabdruck nicht gemessen werden, - genauso wenig wie der Wert der Artenvielfalt, das Risiko von Atomenergie, unsere Lebenserwartung oder das Lebensglück, das wir in einer Region erreichen können.
Happy Planet Index
[Bearbeiten]Der Happy Planet Index[43] (HPI) versucht, die ökologische Effizienz der Erzeugung von Zufriedenheit zu messen. Dazu werden Werte für Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung und Ökologischen Fussabdruck kombiniert. Der Happy Planet Index wurde im Juli 2006 von der New Economics Foundation in Zusammenarbeit mit Friends of the Earth Grossbritannien publiziert. Im Gegensatz zu etablierten volkswirtschaftlichen Messgrössen wie Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder Human Development Index (HDI) bezieht der Happy Planet Index (HPI) das Kriterium der Nachhaltigkeit mit ein.
Vereinfacht gesagt wird die Anzahl der erwarteten „glücklichen Lebensjahre“ (auf Englisch „Happy Life Expectancy“), also die durchschnittliche Lebenserwartung multipliziert mit der Lebenszufriedenheit, die wiederum eine Kombination von subjektiv eingeschätzten Werten und objektiv erhobenen Fakten ist, durch den Ökologischen Fussabdruck dividiert. Wenn also ein Land wie die USA auf Rang 150 des HPI steht, weit hinter Ländern wie zum Beispiel Kirgisistan (HPI-Rang 19) oder Bangladesch (HPI-Rang 41) bedeutet dies nicht, dass die US-Amerikaner unglücklicher als Kirgisen oder Bangladescher wären, oder gar eine kürzere Lebenswartung als diese hätten. Die USA steht zwar auf dem Happy Life Expectancy-Index auf Rang 10 (weit vor den genannten Ländern), verbraucht aber zur Erzeugung dieses hohen Lebensglücks überdurchschnittlich viele Ressourcen.[44]Für die Berechnungen werden Umfragen aus der Gallup World Poll, eine Zeitreihe der World Values Survey sowie der Eurobarometer verwendet.[45]
Happy Planet Index europäischer Staaten
[Bearbeiten]Staat | Happy Planet Index | Lebenszufriedenheit | Lebenserwartung | Ökologischer Fußabdruck |
---|---|---|---|---|
W:Island | 72,3 | 8,0 | 79,6 | 1,06 |
W:Schweden | 63,3 | 7,8 | 80,2 | 1,60 |
W:Norwegen | 56,0 | 7,5 | 79,5 | 1,98 |
W:Schweiz | 51,6 | 8,2 | 80,5 | 3,04 |
W:Zypern | 51,3 | 7,2 | 79,1 | 2,26 |
W:Dänemark | 49,8 | 8,4 | 77,4 | 3,17 |
W:Malta | 49,4 | 7,4 | 78,7 | 2,53 |
W:Slowenien | 48,5 | 6,9 | 76,4 | 2,10 |
W:Niederlande | 48,4 | 7,5 | 78,5 | 2,80 |
W:Österreich | 47,9 | 7,5 | 78,7 | 2,33 |
W:Lettland | 47,5 | 5,1 | 71,9 | 0,45 |
W:Spanien | 47,4 | 7,2 | 79,6 | 2,69 |
W:Irland | 46,5 | 7,7 | 78,2 | 3,12 |
W:Italien | 46,4 | 6,8 | 79,6 | 2,52 |
W:Deutschland | 46,3 | 7,0 | 78,5 | 2,59 |
W:Finnland | 45,7 | 7,8 | 78,4 | 3,39 |
W:Belgien | 45,5 | 7,4 | 78,7 | 3,04 |
W:Frankreich | 44,8 | 6,6 | 79,3 | 2,52 |
W:Polen | 43,9 | 6,1 | 74,6 | 1,83 |
W:Rumänien | 43,7 | 5,4 | 71,5 | 1,06 |
W:Vereinigtes Königreich | 42,3 | 7,2 | 78,4 | 3,32 |
W:Portugal | 41,8 | 5,7 | 77,3 | 1,96 |
W:Slowakei | 40,8 | 5,5 | 73,8 | 1,61 |
W:Tschechien | 39,7 | 6,4 | 75,3 | 2,72 |
W:Litauen | 39,0 | 5,1 | 71,9 | 1,34 |
W:Ungarn | 38,3 | 5,5 | 72,4 | 1,90 |
W:Griechenland | 38,3 | 6,3 | 78,8 | 3,17 |
W:Bulgarien | 29,7 | 4,1 | 72,1 | 1,62 |
W:Luxemburg | 29,6 | 7,7 | 77,9 | 6,88 |
W:Estland | 29,3 | 5,6 | 71,3 | 3,54 |
Datenquellen: The European Happy Planet Index[46][47] (Die Nutzungsrechte der Daten wurden per E-Mail von NEF an Rasos am 13. August 2012 von NEF auf Creative Commons Attribution/Share-Alike Lizenz 3.0 erweitert.)
Im weltweiten Vergleich liegen die Staaten Europas im Mittelfeld der HPI-Ränge, Österreich ist auf Platz 57. Costa Rica liegt mit einem HPI von 76,1 auf Platz 1[48]. Seit den 70er Jahren arbeiten die Ministerien für Umwelt und Energie zusammen und haben 99% des Energieverbrauchs auf erneuerbare Ressourcen umgestellt. Die Abholzung konnte nicht nur gestoppt werden, sondern die Waldfläche hat sich in den letzten 20 Jahre verdoppelt. Schon 1949 wurde das Militär abgeschafft und die freiwerdenden Mittel in unterstützende Projekte und in die Ausbildung gesteckt. Die sozialen Kontakte der Bevölkerung sind solide, die Nachbarschaftsbeziehungen intakt und Leute beteiligen sich gerne in der Politik. Costa Ricaner leben somit etwas länger als Nordamerikaner, berichten eine viel höhere Lebenszufriedenheit, verbrauchen jedoch nur ein viertel des ökologischen Fussabdrucks. Jener der Niederländer ist immer noch die Hälfte des ökologischen Fussabdrucks der USA, sie leben jedoch ein Jahr länger und sind etwa gleich zufrieden mit ihrem Leben.
Entwickelte Länder sollen 2050 folgende Ziele erreichen: einen HPI von 89 mit 1,7 gha Ressourcenverbrauch pro Einwohner und einer Lebenserwartung von 87 Jahren; Entwicklungsländer werden dafür zumindest 20 Jahre länger Zeit benötigen[49]. Die Bewertungskriterien sind aufgeschlüsselt nach Lebensbereichen: Zu den guten Bedingungen für den Erwerb zählen eine intakte Wirtschaft, brauchbare Infrastruktur und ein vielfältiges Angebot an Arbeitsplätzen. Im Bereich der Reproduktion müssen Gesundheitsversorgung, der Wertekanon, der Anteil der Freizeit sowie die Betreuung stimmen. Zu einem vielfältigen Kulturangebot gehören auch Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie die Ausdrucksmöglichkeiten, die der Konsum uns ermöglicht. Mitbestimmung wird im Bereich der Familie und Freunde, in der Gemeinschaft, aber auch als „Governance“ in den HPI Index aufgenommen. Diese Faktoren fliessen in die Ethify Balance und den Ethify Quotient von vier Lebensbereichen ein, die später erläutert werden.
Über das Internet lässt sich der persönliche Happy Planet Index auch für einzelne Personen berechnen[50]. Das Ergebnis enthält auch die voraussichtliche Lebenserwartung, Tipps zur Verringerung des ökologischen Fussabdrucks sowie Anregungen, um das persönliche Wohlbefinden zu steigern. Bei einem Testlauf ergab sich ein Lebensalter von 95,7 Jahren, die Empfehlung Second-Hand Ware zu verwenden und sich für eine lokale Initiative zu engagieren.[51]
OECD Better Life Index
[Bearbeiten]Im Mai 2011 veröffentlichte die OECD Zahlen zur Lebensqualität von Menschen, die auf einer eigenen Webseite übersichtlich aufbereitet sind. 34 Staaten werden entlang von Kriterien wie Bildung, Einkommen, soziale Netzwerke oder Lebenszufriedenheit verglichen. Die Faktoren können hierbei eigens gewichtet werden, wodurch sich andere Länderrankings ergeben können. Das Ranking zeigt wenig Überraschungen: die höchste Lebensqualität bieten Australien, Kanada und in Norwegen. Türkei, Mexiko und Chile sind Schlusslichter. Kriterien für die Umwelt sind der Anteil erneuerbarer Energien (Österreich: 28,11 Prozent) oder die Feinstaubbelastung (da liegt Österreich mit 29 Mikrogram PM10 über dem OECD Schnitt).
Die Daten sind teilweise unterschiedlich erhoben oder beruhen auf Gallup - Umfragen, was die Vergleichbarkeit erschwert. Dieser neue OECD Index befindet sich noch in einer Experimentierphase und wird erst in einigen Jahren dem heutigen Mass aller politischen Entscheidungen, dem BIP, Paroli bieten können.[52]
Bevor wir einen aktuellen Wertekatalog für ethisches Verhalten und ein Messsystem kennen lernen, das sich nicht nur für Staaten oder Personen eignet, sondern auch für Produkte und Unternehmen, überfliegen wir die Lehren alter Meister und historische sowie aktuelle Ansätze dazu und stellen in diversen Lebensbereichen einige wichtige ethische Fragen.
Einzelnachweise, Fußnoten
[Bearbeiten]- ↑ http://www.statistik.at/web_de/statistiken/volkswirtschaftliche_gesamtrechnungen/bruttoinlandsprodukt_und_hauptaggregate/jahresdaten/
- ↑ http://www.wirtschaftsblatt.at/home/international/wirtschaftspolitik/389297
- ↑ Kurzmeldung in Der Standard 11.2.2009
- ↑ http://www.fr-online.de/wirtschaft/stiglitz-indikator-frankreich-bewertet-die-feine-lebensart,1472780,3215532.html
- ↑ http://www.stiglitz-sen-fitoussi.fr
- ↑ Exner/Lauk/Kulterer p 100
- ↑ Der ISEW wurde erstmals von Daly und Cobb 1989 präsentiert.
- ↑ http://www.focus.de/politik/ausland/bhutan_aid_266622.html
- ↑ Entsprechend fielen die Kommentare von Bloggern aus: „Setz dich mal in dein Auto und tret bei abgeschaltenem Motor aufs Gaspedal!“ von http://home.g33ky.de/fact/5213.html
- ↑ Exner/Lauk/Kulterer p 99
- ↑ http://www.ag-energiebilanzen.de/componenten/download.php?filedata=1235122659.pdf&filename=AGEB_Jahresbericht2008_20090220.pdf&mimetype=application/pdf, Seite 22
- ↑ Kessler p 154 in Hebel/Kessler
- ↑ The Happy Planet Index Report 2.0
- ↑ Felber 2008, p 20
- ↑ Schulmeister 2009 p 1
- ↑ Felber 2009 p 17
- ↑ Felber 2009 p 22
- ↑ Weismann/Donahue 14
- ↑ Die Wiener Strassenbahnen und U-Bahn Züge wurden um 950 Millionen US Dollar verleast und anfang 2009 teilweise wieder vorzeitig rückgekauft. http://www.letsmakemoney.at/diefakten/cross-border-leasing.html , http://wien.orf.at/stories/342783/
- ↑ Mt 13,12
- ↑ Kitzmüller, p 109
- ↑ Bund der Steuerzahler, Zahlen vom 23.1.2009
- ↑ http://de.wikipedia.org/wiki/Staatsverschuldung
- ↑ Scharmer 2009, p 2
- ↑ Felber 2009 p 92
- ↑ Felber 2009 p 134
- ↑ http://de.wikipedia.org/wiki/Rating-Agentur
- ↑ http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,661289,00.html
- ↑ Das entspricht 170 Gigajoule pro Einwohner pro Jahr, eigene Berechnungen, Quellen: Exner/Lauk/Kulterer p 43, http://www.statistik.at/web_de/services/wirtschaftsatlas_oesterreich/oesterreich_innerhalb_der_eu/026085.html
- ↑ Weaver et al 2007
- ↑ http://de.wikipedia.org/wiki/Globale_Erwärmung
- ↑ U.S. Climate Change Science Program 2006, (PDF)
- ↑ http://www.minergie.ch/, http://de.wikipedia.org/wiki/Minergie
- ↑ Exner/Lauk/Kulterer p 75
- ↑ http://de.wikipedia.org/wiki/Hanf#Nutzhanf
- ↑ Szene Alpen – Das Themenheft der CIPRA, Nr. 92 / November 2009, p 21
- ↑ Exner/Lauk/Kulterer p 41
- ↑ Heydenreich 2009, p 45
- ↑ The New York Times Articles selected for Der Standard, 4.1.2010, p 3ff
- ↑ http://www.mein-fussabdruck.at/article/articleview/61474/1/20716
- ↑ Den eigenen Footprint kann man z.B. auf http://www.mein-fussabdruck.at/ berechnen.
- ↑ Daten aus 2002, http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96kologischer_Fu%C3%9Fabdruck
- ↑ http://www.happyplanetindex.org
- ↑ http://de.wikipedia.org/wiki/Happy_Planet_Index
- ↑ The Happy Planet Index, Appendix 2: Calculating the HPI, p 52
- ↑ The European Happy Planet Index 2007 (abgerufen am 15. Dezember 2010.)
- ↑ The Happy Planet Index - A map of Europe colour-coded by HPI (abgerufen am 15. Dezember 2010.)
- ↑ New Economics Foundation, p 28
- ↑ http://www.happyplanetindex.org/
- ↑ http://survey.happyplanetindex.org/
- ↑ http://www.alton.at/roland/rolog/hpi
- ↑ Der Standard, 22./23. Juni 2011, S. 18