Karl Marx und die Kritik der politischen Ökonomie/ Vorwort

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Das Buch Karl Marx und die Kritik der politischen Ökonomie (Einführung). Neue Marx-Lektüre und zeitgenössische Marx-Kritik hat sich die kritische Würdigung und Auseinandersetzung mit dem Werk von Karl Marx aus heutiger Sicht gesetzt. Trotz zahlreicher Publikationen zum Thema bleibt dies für eine einzelne Person ein kaum zu bewältigendes Unterfangen. Wir wollen dieses Buch mit einem unseres Erachtens nach wie vor treffendem Zitat aus Brechts „Flücht­lings­ge­sprä­chen“ einleiten[1]:

„Eine halb­wegs kom­plet­te Kennt­nis des Mar­xis­mus kos­tet heut, wie mir ein Kol­le­ge ver­si­chert hat, zwan­zig Tau­send bis fünf­und­zwan­zig Tau­send Gold­mark und das ist dann ohne die Schi­ka­nen. Dar­un­ter krie­gen Sie nichts Rich­ti­ges; höchs­tens so einen min­der­wer­ti­gen Mar­xis­mus ohne Hegel oder einen, wo der Ri­car­do fehlt usw. Mein Kol­le­ge rech­net üb­ri­gens nur die Kos­ten für die Bü­cher, die Hoch­schul­ge­büh­ren und die Ar­beits­stun­den und nicht was Ihnen ent­geht durch Schwie­rig­kei­ten in Ihrer Kar­rie­re oder ge­le­gent­li­che In­haf­tie­rung; und er lässt weg, dass die Leis­tun­gen in bür­ger­li­chen Be­ru­fen be­denk­lich sin­ken nach einer gründ­li­chen Marx­lek­tü­re; in be­stimm­ten Fä­chern wie Ge­schich­te oder Phi­lo­so­phie wer­den's nie wie­der wirk­lich gut sein, wenn's den Marx durch­ge­gan­gen sind.“

Karl Marx für alle …[Bearbeiten]

Wirtschaftskrise und Marx-Lektüre[Bearbeiten]

Für die einen ist sie bereits überwunden. Für die anderen steht der Tiefpunkt noch vor uns. Tatsache ist: Zwei Jahre nach ihrem Ausbruch ist die Wirtschaftskrise immer noch in aller Munde. Nicht nur über Ausmaß, Verlauf und Dauer der Krise, sondern vor allem auch über deren Charakterisierung und Ursprung existieren unterschiedliche Auffassungen. Während Das Kapital von Karl Marx in solchen Angelegenheiten einst als „Klassiker“ galt, wird es erst in den letzten Jahren wieder verstärkt gelesen und diskutiert. Gemeinsam mit der so genannten „globalisierungskritischen“ Protestbewegung – zu deren Symbol vor allem Seattle 1999 und Genua 2001 wurden – wurde eine neue Gesellschaftskritik laut. Marx wurde von vielen als Sozialkritiker neu entdeckt. Vor dem Zusammenbruch des „Realsozialismus“ 1989–91 galt Marx zumindest in Teilen der Gewerkschaften sowie „linker“ Parteien als Bezugspunkt. Unter JungsozialistInnen fanden sogar in den 1990er Jahren noch Marx-Schulungen und Debatten über Marxismus statt.

Seit einigen Jahren gibt es wieder eine Marx-Renaissance: Marx' Lebenswerk Das Kapital erfreut sich hoher Verkaufszahlen und ein Lesekreis nach dem anderen entsteht. Von einer regelrechten „Kapital-Lese-Bewegung“ ist die Rede. Dabei werden nicht bloß das Marxsche Kapital, sondern auch dessen Wirkung, Widersprüchlichkeiten in der Argumentation sowie Kritik daran in Lesekreisen gemeinsam erörtert und diskutiert. In dieser Tradition versteht sich auch der Berliner Politikwissenschaftler Michael Heinrich, dessen Publikationen großen Einfluss auf diese Neuentdeckung der Kapital-Lektüre haben. Selbst Kritiker wie der Wiener Philosoph Karl Reitter oder der Stuttgarter Marxist Wolfram Klein würdigen in diesem Zusammenhang Heinrichs Arbeiten. So schreibt Klein in Zur Schrift von Michael Heinrich „Wie das Marxsche Kapital lesen“[2]:

„Die ‚Kapital-Lese-Bewegung‘ der letzten Jahre brachte Hunderte und Tausende in Berührung mit einem der wichtigsten Werke der Arbeiterbewegung. […] Michael Heinrich leistete einen wichtigen Beitrag zur Belebung der Kapital-Lese-Bewegung und zur erneuten Diskussion um dieses Hauptwerk des Marxismus. Seine Schriften werden vielfach als Hilfe für NeueinsteigerInnen in die Kritik der politischen Ökonomie genutzt.“

Während Heinrich von einer Kritik am traditionellen Marxismus ausgeht, wird ihm selbst eine verkürzte Marx-Interpretation vorgeworfen. So heißt es bei Klein weiter:

„Heinrich bricht bei seiner Darstellung allerdings mit Grundlagen der Methode und des Verständnisses von Marx. […] Heinrich unterstellt vom Tauschakt (Arbeitskraft gegen Geld) geblendete ArbeiterInnen, die genauso systemimmanent agieren, wie die ihnen gegenüber stehenden Kapitalisten.“

Reitter wirft Heinrich ebenfalls vor, bei seiner Analyse der kapitalistischen Verhältnisse im Wesentlichen auf der Ebene des Geld- und Warentausches, der so genannten Zirkulationssphäre, zu verbleiben und zu stark von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zu abstrahieren.[3] Wir erwähnen diesen Streit deshalb bereits im Vorwort, weil er ausdrücken soll, dass es selbst bei jenen, die kritisch zur „orthodoxen“ Marx-Rezeption der Sozialdemokratie und des Marxismus-Leninismus stehen, unterschiedliche Marx-Interpretationen gibt. Ferner sind einige von uns selbst stark von der Heinrich-Lektüre und dem daraus entstandenen Diskurs beeinflusst. Wir werden versuchen, später im Detail darauf einzugehen. Vorweg aber eine Warnung von Heinrich selbst aus seinem Buch Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung[4], der wir uns voll inhaltlich anschließen wollen:

„Beginnt man das «Kapital» zu lesen, stößt man auf einige Schwierigkeiten. Gerade am Anfang ist der Text nicht immer ganz einfach zu verstehen. Abschreckend dürfte auch der Umfang der drei Bände wirken. Allerdings sollte man sich bei der Lektüre auf keinen Fall nur mit dem ersten Band begnügen. Da Marx seinen Gegenstand auf verschiedenen, sich wechselseitig voraussetzenden und ergänzenden Abstraktionsstufen darstellt, kann die im ersten Band behandelte Wert- und Mehrwerttheorie erst am Ende des dritten Bandes vollständig begriffen werden. Was man nach der isolierten Lektüre des ersten Bandes zu wissen glaubt, ist nicht nur unvollständig, sondern auch schief.“

Kritik der Produktionsverhältnisse[Bearbeiten]

Auch wir, die AutorInnen dieses Buches, sehen uns in dieser jungen Tradition einer „neuen Marx-Lektüre“. Dieses Wikibook entstand als Begleitprojekt eines Lesekreises[5] in Wien zum Buch Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital von Roman Rosdolsky (Frankfurt am Main/Wien 1968), das als undogmatischer Einstieg in die Marx-Lektüre gilt. „It's the economy, stupid!“ – „Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!“ Dieser bekannte Ausspruch von Ex-US-Präsidenten Bill Clinton ist mittlerweile in den „common sense“ übergegangen. Kaum wer leugnet heute noch die Rolle wirtschaftlicher Interessen für unser Leben. Von diesen Interessen, von den Beziehungen der ökonomischen Akteurinnen und Akteure, der Menschen, untereinander – Marx prägte hierfür den Begriff der „Produktionsverhältnisse“ – handelt das vorliegende Lehrbuch. Es liegt auf der Hand, dass wir uns in erster Linie mit einer ganz speziellen Sichtweise des Problems, nämlich jener von Karl Marx und seiner AnhängerInnen, beschäftigen wollen. Anlass für dieses Buch ist wie erwähnt das wachsende Interesse an der Marxschen Kritik des Kapitalismus. Es basiert im Wesentlichen auf einer Referat-Serie zum behandelten Thema[6] – sowie auf bestehenden Artikeln aus der deutschsprachigen Wikipedia. Der eigentliche Auslöser jedoch war die intensive Arbeit am Wikipedia-Artikel Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital.[7]

… von allen[Bearbeiten]

Gemeinsam erarbeitet[Bearbeiten]

Karl Marx und die Kritik der politischen Ökonomie ist ein Gemeinschaftsprojekt einer engagierten Community. JedeR kann und soll mitmachen. Es richtet sich sowohl an OberstufenschülerInnen und Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften, als auch an AktivistInnen in den Gewerkschaften, in Parteien oder NGOs, in der Schule oder der Uni, in der Fabrik oder im Betrieb, sowie an politisch Interessierte überhaupt – und an alle anderen. Sollte dieses Buch zu kompliziert geschrieben sein, dann haben wir einfach etwas falsch gemacht!

Mediawiki-Projekte[Bearbeiten]

Im Anhang des Buches befinden sich neben einem umfangreichen kommentierten Literaturverzeichnis ein Personenregister sowie ein Glossar (Sachregister) mit kurzen Erläuterungen zu Sachbegriffen und weiterführenden Online-Ressourcen (Weblinks). Viele dieser Angaben sind den Mediawiki-Kollaborationsplattformen Wikipedia, Wiktionary, Wikisource, Wikibooks und Wikiversity entnommen. Auf enzyklopädische Verweise (so genannte „Wikilinks“) und dergleichen im Fließtext wurde zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet. Sofern es sinnvoll erscheint, sind den Fußnoten zu Literatur, Personen und Sachbegriffen die Logos des jeweiligen Mediawiki-Projekts vorangestellt. Wikipedia – die allseits bekannte wie beliebte „freie Enzyklopädie“ – ist aus unserem Leben kaum noch wegzudenken. Wikipedia ist aber auch die Mutter weiterer freier Gemeinschaftsprojekte: Wiktionary – „das freie Wörterbuch“ – ist ein frei verfügbares, mehrsprachiges Wörterbuch für den Wortschatz aller Sprachen. Wikisource – „die freie Quellensammlung“ – enthält Quellentexte, die entweder urheberrechtsfrei sind oder unter einer freien Lizenz stehen. Wikibooks – „die freie Bibliothek“ – ist eine Sammlung freier Lehr-, Sach- und Fachbücher. Es befindet sich noch in der Probephase. Wikiversity schließlich ist eine Online-Plattform zum gemeinschaftlichen Lernen, Lehren und Forschen. Sie bietet freie Lern- und Lehrmaterialien wie beispielsweise Schulunterlagen oder Manuskripte für Lehrveranstaltungen an Hochschulen. Dieses Buch bedient sich dieser Wiki-Projekte sowie weiterer Online-Ressourcen. Auf der Website des betreffenden Mediawiki-Projekts kann der im Text angeführte Begriff bequem im Suchfeld eingetragen werden. Ferner werden sehr lange Internetadressen in so genannte Short-URLs konvertiert.

Mediawiki-Weblinks[Bearbeiten]

Marx selbst lesen und studieren[Bearbeiten]

Nur eine Einführung[Bearbeiten]

Karl Marx: „Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenschaft.“
Quelle: Das Kapital. Band I (Vorwort)[8]

Karl Marx und die Kritik der politischen Ökonomie ist eine Lesehilfe. Eine Einführung kann schließlich kein Ersatz zur Originallektüre sein. Anders als beispielsweise bei Wikipedia soll sich diese Arbeit daher möglichst an den Originaltexten von Marx orientieren, weshalb sie auch viele Zitate enthält. Nach der Lektüre dieses Wikibooks sollten einerseits die Grundlagen der Marxschen Kapitalismuskritik, andererseits die unterschiedlichen existierenden Marx-Interpretationen bekannt sein. Lektüre gibt es wie Sand am Meer. Es folgen ein paar Lesehinweise für den Anfang.

Lesehinweise[Bearbeiten]

  • Klaus Werner-Lobo: Uns gehört die Welt! Macht und Machenschaften der Multis. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010. ISBN 978-3-423-62452-7
  • rororo Sach-Comics (siehe Literaturverzeichnis)
  • Ernest Mandel: Einführung in den Marxismus. Neuer Isp-Verlag 7. Auflage, 2002. ISBN 978-3-9290-0804-3 (Original: 1982).
  • Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie: Eine Einführung. Schmetterling Verlag, 5. Auflage, Stuttgart 2007 (Nachdruck der 3. Auflage, 2005). ISBN 978-3896575937
  • Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Frankfurt am Main/Wien 1968. ISBN 3-434-45002-5

Zur Zitierweise[Bearbeiten]

Werke von Marx und Engels werden grundsätzlich nach der MEGA (K. Marx/F. Engels: Gesamtausgabe, Berlin, 1975 ff.) zitiert. Parallel wird die entsprechende Stelle in MEW (K. Marx/F. Engels: Werke, Berlin, 1956 ff.) nachgewiesen, die aber nicht immer textident mit der MEGA ist. (MEGA II.1.1, S. 35) bedeutet dabei MEGA, Abteilung II, Band 1.1, Seite 35 und (MEW 42, S. 35) bedeutet MEW, Band 42, Seite 35. Hervorhebungen von Marx und Engels werden übernommen; eigene Hervorhebungen werden stets als solche vermerkt. Eingriffe – Änderungen, Einfügungen, Ergänzungen oder Auslassungen – der VerfasserInnen in dem zitierten Text sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet.

Marx im Internet[Bearbeiten]

Im Internet finden sich eine Menge Online-Ressourcen zu Karl Marx und seinem Werk. Wir möchten im Folgenden nur auf die wichtigsten Seiten verweisen. Einige Schriften von Marx finden sich auch auf  Wikisource.

  1. „Das Kapital. Band I–III“. Gekürzte Ausgabe: http://www.marx-forum.de/das_kapital/inhalt.html
  2. Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA): http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/mega/de/Ueberblick
  3. „Das Kapital. Band I“. Urausgabe von 1867: http://dumauvaiscote.pagesperso-orange.fr/
  4. Digitale Ausgabe der MEGA zu „Das Kapital. Band II“: http://www.telota.de/ressourcen/ressourcenliste/gesamtregister-zur-marx-engels-gesamtausgabe/
  5. Digitale Ausgabe der MEGA zu „Das Kapital. Band III“: http://telota.bbaw.de/megapom/start.html (Band 15 der zweiten Abteilung der MEGA)
  6. Marxists’ Internet Archive (MIA): http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/index.htm
  7. Privatarchiv zur Förderung des Klassenbewusstseins: http://www.dearchiv.de/ (DEA – Das Elektronische Archiv)
  8. MLWerke von Lüko Willms: http://www.mlwerke.de/
  9. Karl-Marx-Forum von Wal Buchenberg: http://www.marx-forum.de/
  10. Karl-Marx-Gesellschaft: http://www.marx-gesellschaft.de/
  11. Kapital-Lesekreis Berlin-Neukölln (FU Berlin): http://marx.blogsport.de/
  12. Projekt Gutenberg-DE: http://gutenberg.spiegel.de/?id=19&autorid=400
  13. Mailingliste „Activists and scholars in Marxist tradition“: http://lists.econ.utah.edu/mailman/listinfo/marxism
  14. Website des Listenmoderators Louis Proyect: http://marxmail.org/
  15. Mailingliste „Marxism-Thaxis“: http://lists.econ.utah.edu/mailman/listinfo/marxism-thaxis (verwandt; beide University of Utah)
  16. Als Hörbuch ist Das Kapital für den privaten Gebrauch unter der URL http://www.archive.org/details/Marx-Kapital zum kostenlosen Download erhältlich.[9]
  17. Michael Heinrich: http://www.oekonomiekritik.de/
  18. Heinrichs kommentierte Literaturliste zur Kritik der politischen Ökonomie: http://www.oekonomiekritik.de/110KommLitverzeichnis.htm
    (alternativ als RTF: http://www.oekonomiekritik.de/110KommLitverzeichnis.rtf)

Roman Rosdolskys ‚Entstehungsgeschichte‘[Bearbeiten]

Neue Marx-Lektüre[Bearbeiten]

Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘. Der Rohentwurf des Kapital 1857–1858 ist ein Standardwerk der zeitgenössischen Marx-Forschung. Sein Autor, der ukrainische Marxist Roman Rosdolsky, wurde am 19. Juli 1898 in der Stadt Lemberg in Galizien geboren (damals Österreich-Ungarn, heute Ukraine) und starb am 20. Oktober 1967 in Detroit, USA. Rosdolsky, Doktor der Politikwissenschaft (Dr. rer. pol.), war ein westukrainischer Sozialhistoriker, marxistischer Ökonom und politischer Aktivist. Er gilt als einflussreicher Vertreter des Trotzkismus. Seine Hauptwerke sind Friedrich Engels und das Problem der geschichtslosen Völker (1929 bzw. 1964/1979) sowie „Zur Entstehungsgeschichte“. Vor allem für die – Mitte der 1960er Jahre einsetzende – „neue Marx-Lektüre“ ist diese Arbeit von besonderer Bedeutung. Auch die vorliegende Einführung ist wesentlich an Rosdolskys umfangreiche Studie angelehnt. Rosdolsky bietet darin einen undogmatischen Zugang zum Marxschen „Kapital“ – jenseits vom „orthodoxen Marxismus“ der klassischen Sozialdemokratie sowie vom „Marxismus-Leninismus“ des so genannten „real existierenden Sozialismus“ auf der einen Seite und vom „westlichen“ oder „akademischen Marxismus“ auf der anderen. Diesen drei Hauptströmungen des Marxismus wirft Rosdolsky gleichermaßen eine verkürzte Marx-Rezeption vor, die er gelegentlich als Vulgärmarxismus bezeichnet.

Analyse der Marxschen ‚Grundrisse‘[Bearbeiten]

Bei Rosdolskys „Entstehungsgeschichte“ handelt es sich in erster Linie um einen umfassenden Kommentar zum Marxschen „Rohentwurf“, einem von Marx 1857–58 verfassten Manuskript seiner „Kritik der politischen Ökonomie“. Auf Grundlage dieses Manuskripts schrieb Marx seine 1859 publizierte Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, „der ersten Bearbeitung der Anfangskapitel[10] des Kapital“, wie Henryk Grossmann 1929 schreibt.[11] Der „Rohentwurf“ erschien zum ersten Mal 1939–1941 gemeinsam mit der erstmals 1903 von Karl Kautsky veröffentlichten Marxschen „Einleitung“ (zur „Kritik der politischen Ökonomie“) von August 1857. Diese beiden Manuskripte, der Rohentwurf von 1857–58 und die Einleitung von 1857, wurden gemeinsam veröffentlicht (zwei Bände, Moskau 1939 und 1941; Nachdruck Berlin 1953) und erhielten von den sowjetischen Herausgebern den Namen „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, weshalb der „Rohentwurf“ häufig unter der Bezeichnung „Grundrisse“ behandelt wird (auch: Ökonomische Manuskripte 1857/58). Der „Einleitung“ von 1857 misst Rosdolsky in seiner Marx-Studie einen besonderen Stellenwert zu. Sie wird auf Grund ihres Inhalts gelegentlich auch als „Methodenkapitel“ bezeichnet.

Vorarbeiten zum ‚Kapital‘[Bearbeiten]

In der „Entstehungsgeschichte“ wird auch häufig aus den „Theorien über den Mehrwert“ zitiert. Bei den „Theorien“ handelt es sich um den zwischen 1905 und 1910 durch Kautsky in drei Bänden veröffentlichten Teil aus dem Marxschen Manuskript von 1861–1863. Rosdolsky bemängelt, dass Kautsky nicht das gesamte Manuskript veröffentlicht hat, dessen Rest „wohl einen Band von über 1000 Seiten füllen“ würde.[12] Die „Theorien“ werden auch als Band IV des „Kapital“ bezeichnet. Neben dem Rohentwurf von 1857–58 und diesem zweiten Manuskript von 1861–1863 existiert noch ein weiteres Marxsches Manuskript von 1864–1865, welches Rosdolsky ebenfalls in seiner Untersuchung berücksichtigt. Dieses dritte Manuskript diente Engels als Grundlage für Band III des „Kapital“.

Ein Lebenswerk[Bearbeiten]

In mehr als fünfzehn Jahren, von Herbst 1948 bis Dezember 1955, vergleicht Rosdolsky die erwähnten Vorarbeiten, das „Kapital“ selbst, sowie weitere Manuskripte miteinander. Dabei wertet er eine große Zahl von Briefen aus, in denen sich Marx zum Stand und den Ergebnissen seiner Studien äußert. Rosdolskys Buch enthält eine Reihe von Zeitschriftenbeiträgen, die er im amerikanischen Exil verfasst hat. Als Emigrant hatte er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eines der wenigen Exemplare der sowjetischen Erstausgabe der „Grundrisse“ entdeckt, die im Westen aufgetaucht waren. Rosdolsky selbst schätzt die Zahl in seinem Vorwort auf „nicht mehr als 3 bis 4 Exemplare“.[13] Bis zu seinem Tod im Oktober 1967 bemüht sich Rosdolsky vergeblich um eine Veröffentlichung der „Entstehungsgeschichte“. Eine erste Version der Vorrede entsteht bereits im Dezember 1955. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es keine nennenswerte Auseinandersetzung mit den Marxschen „Grundrissen“. Und auch danach sind nur zwei Arbeiten erschienen, die den „Grundrissen“ besondere Bedeutung zukommen ließen: Alfred Schmidts Doktorarbeit Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (Frankfurt am Main 1962) und zuvor die Einleitung zum System der Krisentheorie (Tokio 1956) des japanischen Professors Kojiro Takagi.

Einfluss auf die 68er Bewegung[Bearbeiten]

Ziel seiner Untersuchung ist ein besseres Verständnis für Entstehung, Struktur und Wirkung der drei Bände des „Kapital“ unter besonderer Berücksichtigung der Marxschen „dialektischen Methode“, meint Rosdolsky. Die Endfassung seines Vorwortes ist mit März 1967 datiert. Rosdolsky stirbt noch vor Publikation seines Buches am 20. Oktober 1967 im Alter von 69 Jahren in Detroit. „Zur Entstehungsgeschichte“ hat Roman Rosdolsky seiner „lieben Frau und Gesinnungsgenossin gewidmet“, der österreichischen Kommunistin Emmy Rosdolsky (geborene Meder). Das erst 1968 veröffentlichte Buch hat in den darauf folgenden Jahren einen starken Einfluss auf die neomarxistische Debatte und gilt breiten Teilen der „Neuen Linken“ als die maßgebende Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie von Marx.[14]

Marx im 20. Jahrhundert[Bearbeiten]

„Zum Schluss in eigener Sache“ möchten wir aus der Vorrede Rosdolskys vom März 1967 zitieren, worin er die Entwicklung des Marxismus seit der Zwischenkriegszeit unseres Erachtens treffend beschreibt[15]:

„Der Verfasser ist weder ein Ökonom noch ein Philosoph ex professo[16]. Er hätte es daher nicht gewagt, einen Kommentar zum ‚Rohentwurf‘ zu schreiben, wenn es heute noch – wie im ersten Drittel unseres Jahrhunderts[17] – eine Schule marxistischer Theoretiker gäbe, die dieser Aufgabe besser gewachsen wären. Indes: Die letzten Generationen namhafter Theoretiker ist zumeist dem Hitlerschen und dem Stalinschen Terror zum Opfer gefallen. Dadurch wurde aber die Weiterbildung des marxistischen Gedankengutes für Jahrzehnte unterbrochen. Unter solchen Umständen glaubt der Verfasser verpflichtet zu sein, seine Arbeit – wie mangelhaft und unvollständig sie auch sein mag – dem Leserkreis zu übergeben – in der Hoffnung, dass nach ihm jüngere Kräfte kommen werden, für die die Marxsche Theorie wiederum ein lebendiger Quell der Erkenntnis und der darauf gerichteten Praxis werden wird.“

In diesem Sinne:
Viel Spaß beim Lesen!

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Bert Brecht: Flücht­lings­ge­sprä­che. In: Bert Brecht Werk­aus­ga­be, Band 14, Frankfurt am Main 1975, S. 1440.
  2. Wolfram Klein, SAV – Sozialistische Alternative (Hrsg.): Kritik der Heinrich'schen Marx-Darstellung. Zur Schrift von Michael Heinrich, „Wie das Marxsche Kapital lesen“, Stuttgart 2008. Eigenverlag, Berlin 2010, S. 3.
    Michael Heinrich: Wie das Marxsche Kapital lesen? 2., durchgesehene Auflage, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009. ISBN 978-3-89657-054-3 (1. Auflage 2008).
  3. Gerhard Hanloser / Karl Reitter: Der bewegte Marx. Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus. Unrast Verlag, Münster 2008. ISBN: 978-3-89771-486-1.
  4. Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie: Eine Einführung. Schmetterling Verlag, 4. Auflage, Stuttgart 2005.
  5.  Projekt Rosdolsky-Lesekreis auf Wikiversity. Wien 2010.
  6. Pablo Hörtner: Skript zur Schulungsreihe Zur Kritik der politischen Ökonomie.  Sozialistische LinksPartei. Wien 2007–2010.
  7. Pablo Hörtner et al.: Enzyklopädischer Eintrag zu Roman Rosdolskys Werk Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. In: http://de.wikipedia.org/wiki/Zur_Entstehungsgeschichte_des_Marxschen_Kapital
  8. Karl Marx: Das Kapital, Band I. Vorwort zur ersten Auflage.
    Online-Version: http://www.ml-werke.de/marxengels/me23_011.htm
  9. Karl Marx: Das Kapital. Kurzfassung aller drei Bände. 2. verbesserte Auflage. Kommentiert und zusammengefasst von Wal Buchenberg. 485 Seiten, VWF-Verlag Berlin 2002. ISBN 3-89700-430-5
    Lizenz: Creative Commons license: Attribution-NonCommercial-NoDerivates 2.5
    Online: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.5/
  10. Hierbei handelt es sich um die Kapitel ‚Ware‘ und ‚Geld‘; Anm.
    Vgl. Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1968, S. 26, Anm. 11
  11. Henryk Grossmann: Die Änderung des ursprünglichen Aufbauplans des Marxschen Kapital und ihre Ursachen. In: Carl Grünberg (Hrsg.): Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Nr. 14, Verlag von C. L. Hirschfeld, Leipzig 1929, S. 305–338.
    Online-Version: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/grossmann/1929/xx/aufbauplan.htm
  12. Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1968, S. 29, Anm. 15
  13. Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Vorrede. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1968, S. 7
  14. Michael Heinrich: Kommentierte Literaturliste zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Elmar Altvater et al.: Kapital.doc. Münster 1999.
  15. Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Vorrede. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main/Wien 1968, 1973, S. 10 f.
  16. ex professo: im eigentlichen Sinn, ausführlich, exakt; Anm. PH
  17. gemeint ist das 20. Jahrhundert; Anm.