Philosophieren heißt sterben lernen/ Der philosophische Tod

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Um sich mit dem Tod zu beschäftigen und ihn einüben zu können, stellt sich zuerst die zentrale Frage: Was ist der Tod denn überhaupt? Sokrates beantwortet die Frage im Dialog recht schlicht – vielleicht zu schlicht – folgendermaßen: „Doch wohl nichts anderes, als die Trennung der Seele vom Körper?“[1] Wenn man den Tod in dieser Weise als Prozess der Lösung von Seele und Körper interpretiert, dann scheint ein Philosoph tatsächlich nichts anderes zu betreiben. Er löst ja auf der Suche nach Weisheit die Seele vom Körper.


Hierbei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Bedeutung auch für Sokrates nicht die einzige Möglichkeit ist, vom Tod zu sprechen.[2] Schließlich redet er am Tage seiner Hinrichtung mit Sicherheit nicht nur von einem theoretischen Tod, sondern auch vom Tod als tatsächlichem physischen Zustand, dem er entgegen tritt. Diese beiden Bedeutungen sollen nun im Folgenden erläutert werden und es soll versucht werden, eine sinnvolle Abgrenzung zu finden. Denn genau die Unklarheit darüber lässt bei seinen Zuhörern den falschen Eindruck entstehen, er fordere Euenos, einen der Gesprächsteilnehmer, dazu auf, Selbstmord zu begehen, als er den Rat gibt, ihm zu folgen.[3]

Eben darum geht es Sokrates nicht, ein Philosoph soll ja nicht den physischen Tod anstreben. Er argumentiert auf die Frage von Cebes, warum es „nicht recht sei, sich Gewalt anzutun, daß aber doch der Philosoph dem Sterbenden zu folgen wünsche“[4] damit, dass das Leben des Menschen im Besitz der Götter sei und er sich deswegen nicht selber töten, also den Besitz der Götter beschädigen solle.[5] Hier wird wieder ein Bezug auf den Mythos genommen. Sokrates kann dadurch die Existenz der Götter undiskutiert als angenommen gelten lassen und das philosophische Leben als ein „Auf-etwas-zu“ ansehen, zu dem die Götter die Menschen anhalten.[6] Dem philosophischen Leben wird also ein mythisch-spiritueller Aspekt zugeschrieben; es wäre nach heutigem Verständnis also ein „ganzheitlich“ gelebtes Leben.

Lösung der Seele vom Körper[Bearbeiten]

Dieses „Auf-etwas-zu“ ist auch als Prozess gedacht, nämlich der oben erwähnte Prozess der Lösung von Seele und Körper, den ein Philosoph sein Leben lang übt und der mit der Reinigung der Seele durch die (philosophische) Katharsis einsetzt. Diese Lösung stellt sich also als das heraus,

„[...] was längst in unserer Rede besprochen wurde, nämlich die Seele so weit wie möglich vom Körper zu trennen und sie daran zu gewöhnen, sich von überall her aus dem Körper ganz für sich zu sammeln und zusammen zu ziehen und nach Kräften sowohl in der Gegenwart als auch in der künftigen Zeit allein für sich zu leben, losgelöst vom Körper wie von Banden“.[7]

Somit ist die Lösung der Seele vom Körper, als Teil des philosophischen Todes, der entsprechende Gegenpart zur Reinigung der Seele im philosophischen Leben. Beide sind Teil des Prozesses der Abkehr vom Körperlichen und der Ausrichtung des Philosophen hin zum Streben nach Wahrheit. Dies geschieht in der Schau der Ideen durch die reine psyché, die nicht mehr durch körperliche Bedürfnisse abgelenkt wird, mit Hilfe des Verstandes. Die Befreiung der Seele vom Körper wird aber nicht vom Tod als Macht ersehnt, sondern durch den Abstand zum Körper gesucht, der durch logische Distanz, also die Verwendung des nous, hergestellt werden soll. Dadurch soll die Seele die Wahrheit der Ideen schauen können.

In diesem Sinne ist hier die Aussage von Sokrates zu verstehen, dass Philosophen nichts anderes wollen als sterben. Der Tod wird hier als Tod des alltäglichen Lebens in Sorge um körperliche Bedürfnisse verstanden. Er ist Voraussetzung für das wahre philosophische Leben, das sich mit der Erkenntnis durch die vom Körper gelöste Seele und ihre Schau der Ideen beschäftigt.[8] Dabei ist wiederum zu beachten,[9] dass Platon hier keine asketische, körperfeindliche Haltung vertritt. Wie schon oben erwähnt, akzeptiert er die Grundbedürfnisse des Körpers und plädiert für deren Befriedigung, solange sie nicht zu wichtig genommen werden. Man könnte auch sagen, er sieht „den Begriff des Körperlichen lediglich als Oberbegriff für alle psychopathologischen Mechanismen“,[10] dass demzufolge nur ein Übermaß an körperlichen Trieben und Begierden oder zu starke Betonung für einen philosophisch Lebenden ein Problem darstellt. Das Streben nach Weisheit ist vielmehr Ausdruck des Willens, mit dem Körper vernünftig, also mit Hilfe der Tugend und des Verstandes, umzugehen.[11] Die Lösung der Seele vom Körper bedeutet aber ebenso „[...] Rückkehr der Seele zu ihrer ursprünglichen Geistnatur. Damit betreibt die Philosophie das Geschäft des Todes, denn der Tod ist die endgültige Trennung der Seele vom Körper.“ [12]

Das „Geschäft des Todes“ bezweckt demnach, alles, was von der Schau der Ideen abhält, gleichsam abzutöten und die Seele immer weiter dem Idealzustand anzunähern, also in der Suche nach Weisheit immer vollkommener zu werden und immer mehr zu einem rationalen Wesen zu werden. Das ist mit dem philosophischen Tod gemeint.[13] Was aber die Seele von dieser Schau abhält, ist nicht der Körper als solches, vielmehr das „Ich-hier-jetzt“, das durch Wünsche, Begierden, Bedürfnisse und Interessen gleichsam einen Kerker der Seele darstellt. Sokrates verwendet hier den Begriff soma unter zwei Bedeutungen: Er ist zum einen der Körper mit seinen Bedürfnissen nach Nahrung, Schlaf usf., zum anderen aber auch dieses „Ich-hier-jetzt“, das eng mit dem Körper verbunden gleichsam der Sklave der körperlichen Begierden wird und dadurch die rationale Seele einkerkert.[14] Die Befreiung aus diesem Gefängnis, nicht die Befreiung der Seele vom Körper als physische Entinität, ist der philosophische Tod.[15]

Dennoch drängt sich nun die Frage auf, wie Platon zum tatsächlichen, physischen Tod steht. Sein Bild des idealen philosophischen Lebens ist sicher nicht nur als ironischer Vergleich mit der orphischen Tradition so drastisch gewählt, und schließlich steht Sokrates im „Phaidon“ ja auch sein wirklicher Tod unmittelbar bevor, ein Tod, der seinen Anhänger Platon sicher schwer getroffen haben muss – schließlich sind viele seiner Schriften eine Hommage an seinen Lehrer Sokrates. Welche Bedeutung misst also Platon dem körperlichen Tod einem philosophischen Leben zu?

Der Tod als Ziel und Maßstab philosophischen Lebens[Bearbeiten]

Zwar ersehnt ein Philosoph laut Platon nicht den physischen Tod, da er ja fortwährend der Suche nach Erkenntnis nachgeht und seine Tugend ausbildet, aber nach seiner Theorie kann die erkennende Seele erst nach der vollständigen Befreiung von allem Körperlichen die Ideen wahrhaft schauen und zu echter Weisheit gelangen. Das philosophische Leben ist also, selbst wenn es das Leben bejaht und nicht auf den physischen Tod als Ziel an sich ausgelegt ist, nichtsdestotrotz eine gewisse Vorbereitung auf ihn und gleichzeitig auch der Punkt, an dem ein Philosoph sein geführtes Leben noch einmal betrachten kann. Er beurteilt sein Leben, und erst durch dieses Zurückschauen im Tod kann er sich selbst voll erkennen.[16]

Ferner ist der Moment des physischen Todes die vollendete Befreiung der Seele vom „Ich-hier-jetzt“. In einer gewissen Weise wird aber das „Ich-hier-jetzt“ schon durch den philosophischen Tod auf seine Auflösung vorbereitet, die sich dann im tatsächlichen Tod vollzieht. Es wäre also auch von diesem Standpunkt aus gesehen unsinnig, sich das Leben zu nehmen, da erst während des Lebens die Auflösung des „Ich-hier-jetzt“ durch eine philosophisches Lebensführung vorbereitet werden kann.[17]

„Diese wird angesichts des Todes noch einmal auf ihre Tragfähigkeit hin geprüft: Hält sie auch der äußersten Bedrohung stand? Daß sie sich praktisch bewährt, zeigt sich unmittelbar. Ob sie das auch theoretisch zu tun vermag, muß sich an der Begründung erweisen, die für die Lebenswahl ausschlaggebend war.“ [18]

Dieser Punkt, von dem aus hier das Leben betrachtet und evaluiert wird, ist aber nicht Endpunkt. Der Mensch befindet sich im Kreislauf des Lebens und Sterbens, seine Seele begibt sich also nach dem Tod auf den Weg in ein weiteres Leben. Das Verhältnis zwischen Leben und Tod ist also nicht nur das unmittelbar erfahrbare, nämlich der Tod als Ende des Lebens, sondern auch ein durch den Verstand erkennbares Verhältnis. Der Tod ist gleichzeitig Beginn des (neuen) Lebens, das Gegenteil, aus dem dieses erst entstehen kann.[19]


  1. vgl. 64c31
  2. vgl. Philosophie im Kontext
  3. vgl. 61c
  4. vgl. 61d
  5. vgl. 62b,62c
  6. vgl. Gotshalk 2001, S. 27
  7. vgl. 67c, 67d
  8. vgl. Thedorakopoulos 1972, S. 70–72
  9. vgl. Philosophieren heißt sterben lernen/ Das philosophische Leben
  10. vgl. Thome 1994, S. 120
  11. vgl. Zehnpfennig 1991, S. XXXIX
  12. vgl. Zehnpfennig 1991, S. XVII
  13. vgl. Thedorakopoulos 1972, S. 71
  14. vgl. Beets 1997, S. 99
  15. vgl. Beets 1997, S. 96
  16. vgl. Thedorakopoulos 1972, S. 67
  17. vgl. Beets 1997, S. 96/97
  18. vgl. Zehnpfennig 1991, S. XII/XIV
  19. vgl. Thedorakopoulos 1972, S. 69