Zum Inhalt springen

Pythagoras in der Schmiede

Aus Wikibooks
Der Kupferstich Duynkirchen von Eberhard Kieser aus dem 1626 erschienenen Thesaurus philopoliticus von  Daniel Meisner (* 1585; † 1625).
Links Pythagoras mit Winkelmaß und rechts drei Schmiede mit Hämmern an einem Amboss mit fünf Notenlinien, auf denen der Schriftzug "Guido" gezeigt wird.

Die lateinisch und deutsch abgefassten Bildtexte haben den gleichen Inhalt und lauten wie folgt:

Triplicibus percussa sonat varie ictibus incus.
Musica Pythagoras struit hinc fundamina princ(eps).

Der Amboß von drey Hämmern klingt, darauß dreyerley thon entspringt.
Pythagoras hie die Music findt, das hett kein Eselskopff gekönt.

Dieser Beitrag beleuchtet die physikalischen und musiktheoretischen Hintergründe der Legende von Pythagoras in der Schmiede und weist nach, dass diese Legende eine realistische Grundlage haben könnte. Er basiert auf einer gemeinfreien Vorveröffentlichung aus dem Jahr 2012.[1]

Vorrede

[Bearbeiten]

Die Zusammenhänge zwischen Tönen und Zahlen wurde nicht nur in der Antike untersucht. Die Musik gehörte im Mittelalter zusammen mit der Arithmetik und der Geometrie zu den vier freien Künsten des Quadriviums. Diese Fächer bieten nach wie vor ein lohnendes Feld für musiktheoretische Betrachtungen und Untersuchungen, und dies betrifft verschiedene auch heute noch in Gebrauch befindliche Stimmtemperaturen genauso wie zum Beispiel musikästhetische Aspekte oder die Tonlehre. Der Autor hofft, dass diese Ausführungen über die antike Legende dazu beitragen können, das Interesse an der Materie zu wecken oder zu festigen.

Die Erfindung der Musik

[Bearbeiten]

 Pythagoras von Samos (* um 570; † nach 510 vor Christus) soll nach der Überlieferung der Legende über seinen Besuch einer Schmiede die Musik erfunden haben. Damit ist nicht gemeint, dass es zuvor keine Musik gegeben hätte, sondern dass er der Musik durch die Zuordnung der Verhältnisse der natürlichen Zahlen sechs, acht, neun und zwölf zu den reinen musikalischen Intervallen Prime, Quarte, Quinte und Oktave als erster eine theoretische Grundlage gegeben haben soll.

Die vier ganzen Zahlen 6, 8, 9 und 12 und deren Verhältnisse zu den reinen musikalischen Intervallen Prime, Quarte, Quinte und Oktave.

Die folgende Tabelle zeigt die Frequenzverhältnisse solcher vier Töne mit den beispielhaften Frequenzen 1200, 1600, 1800 und 2400 Hertz:

Intervall Prime Quarte Quinte Oktave
1200 Hz 1600 Hz 1800 Hz 2400 Hz
Beispiel mit den vier pythagoreischen Tönen c', f', g' und c" in Notenschrift mit Violinschlüssel.

Paarweise können vier pythagoreischen Töne insgesamt vier verschiedene tieferfrequente Kombinationstöne hervorrufen, die sich aus der Differenz der Frequenzen der beiden jeweils betrachteten Töne ergeben. Bezogen auf jeden einzelnen der vier pythagoreischen Töne haben die Kombinationstöne jeweils ein ganzzahliges Vielfaches der Hälfte, des Drittels, des Viertels oder des Sechstels von deren Frequenz. Mit den oben in der Tabelle angegebenen beispielhaften Frequenzen ergeben sich also die vier Kombinationstöne mit den Frequenzen 200, 400, 600 und 800 Hertz. Wegen der ganzrationalen Verhältnisse klingen auch alle Kombinationstöne im harmonischen Einklang mit den vier pythagoreischen Tönen.

Die folgende Tabelle zeigt die vier pythagoreischen Töne c', f', g' und c" mit den Schwingungszahlen ihrer Tonfrequenzen, die dem Kammerton A mit 440 Hertz entsprechen:

Tonbezeichnung Tonfrequenz in Hertz Frequenzverhältnis
zum ersten Ton c
c' 261,6
f' 349,2
g' 392,0
c" 523,3

Überlieferung in der Antike

[Bearbeiten]

Leider sind keine Schriften von Pythagoras vorhanden (möglicherweise hat er auch gar keine hinterlassen), und die ältesten Quellen stammen aus einer Zeit, die viele Jahrhunderte nach dessen Tod entstanden sind.  Nikomachos von Gerasa hat mindestens 600 Jahre nach Pythagoras' Tod dessen Entdeckungen festgehalten.

Aber auch diese Aufzeichnungen sind nicht erhalten, so dass wir auf die spätantike, lateinische Schrift De institutione musica („Einführung in die Musik“) von  Boethius zurückgreifen müssen, die erst etwa 1000 Jahre nach Pythagoras entstanden ist und sich unter anderem vermutlich auch auf Nikomachos bezieht. Im zehnten Kapitel der De institutione musica wird jedenfalls beschrieben, „wie Pythagoras die Verhältnisse der Zusammenklänge untersucht hat.“[2]

Nach der Legende Pythagoras in der Schmiede sei dieser „durch göttlichen Wink“ an einer Werkstätte vorbeigekommen und hätte den Zusammenklang der durch fünf verschiedene Hammerschläge verursachten Einzeltöne bemerkt. Weil er vermutete, dass die Einzeltöne durch die Art und Kraft der Hammerschläge zustande kämen, veranlasste er die Handwerker die Werkzeuge zu tauschen. Er bemerkte, dass die Einzeltöne nicht mit den Handwerkern, sondern mit den Werkzeugen verbunden waren und dass die im Wohlklang zusammentönenden Werkzeuge in bestimmten ganzzahligen Gewichtsverhältnissen zueinanderstanden.

Laut dem elften Kapitel der De institutione musica hätte er im Anschluss diese Verhältnisse beim Variieren der Zuggewichte von Saiten und schließlich auch beim Monochord untersucht und auch verschiedene Längen und Dicken der Saiten erforscht.[3]

Überlieferung im Mittelalter

[Bearbeiten]

Noch einmal 500 Jahre später, also mittlerweile 1500 Jahre nach dem Wirken von Pythagoras, bezieht sich der mittelalterliche Musiktheoretiker und Benediktiner  Guido von Arezzo (* um 992; † 1050) in seinem ebenfalls lateinischsprachigen Micrologus wiederum auf Boethius. Guido erwähnt im zwanzigsten Kapitel, „wie die Musik aus dem Klange der Hämmer erfunden worden sei“.[4]

Diese Überlieferung der Legende von Pythagoras erwähnt, dass dieser an einer Schmiede vorbeigekommen sei, wo mit fünf Hämmern auf einem Amboss geschmiedet worden sein soll. In der älteren Überlieferung von Boethius ist jedoch weder von den die Hämmer führenden Schmieden noch von einem Amboss die Rede.

Künstlerische Darstellungen

[Bearbeiten]

Im 15. Jahrhundert tauchen vermehrt Darstellungen auf, die Ambosse im Zusammenhang mit Musik zeigen. Dies scheint auf einer Gleichsetzung zwischen den biblischen Halbbrüdern Jubal und Tubal mit Pythagoras in einigen christlich geprägten Überlieferungen des Mittelalters zu beruhen. Tubal war der Sohn Lamechs und seiner zweiten Frau Zilla, der Enkel Kains und der Urenkel Adams. Sein Halbbruder war der von Ada, der ersten Frau Lamechs, geborene Jubal, der als Stammvater aller Musiker gilt. Tubal gilt nach Isidor von Sevilla (* um 560; † 636) hingegen als Urvater aller Schmiede.

Widersprüche

[Bearbeiten]

Bei der physikalischen Analyse der überlieferten Behauptungen ergeben sich eine Reihe von Widersprüchen. Der Musiktheoretiker Vincenzo Galilei veröffentlichte 1589 in seiner Streitschrift Discorso di Vincenzio Galilei nobile Fiorentino intorno all’opere di messer Gioseffo Zarlino da Chioggia, et altri importanti particulari attinienti alla Musica („Abhandlung des edlen Florentiners Vincenzo Galilei über die Werke des Herrn Gioseffo Zarlino aus Chioggia, und andere wichtige Einzelheiten in Bezug auf die Musik“), dass die Angaben in der überlieferten Legende über die Klangerzeugung von mit Gewichten belasteten Saiten nicht zutreffen. Aber auch in Bezug auf die Schallerzeugung durch Hammerköpfe können die Schilderungen in der überlieferten Form nicht korrekt sein.

Stab mit der Länge und der Querschnittsfläche .

Hierzu betrachten wir einen idealisierten Hammerkopf in Form eines quaderförmigen Stabs mit der größten Länge . Dessen Volumen ergibt sich zusammen mit seiner Querschnittsfläche zu:

Die Masse beträgt bei einer Dichte :

Die Gewichtskraft des Hammerkopfes kann aus der Masse unmittelbar durch die Proportionalkonstante der Erdbeschleunigung berechnet werden:

Die Eigenfrequenz beziehungsweise die Tonhöhe von Hammerköpfen aus gleichem Material ist in der Regel nicht umgekehrt proportional zu deren Gewicht , sondern hängt wesentlich von ihrer genauen Geometrie ab. Je länger die geometrische Ausdehnung in einem Körper ist, desto tiefer ist die Eigenfrequenz in dieser Richtung beziehungsweise des dazugehörigen longitudinalen Schwingungsmodus. Die tiefste hörbare Frequenz ist demzufolge mit der größten Länge des Hammerkopfes korreliert.

Die Eigenfrequenz von Hammerköpfen ist praktisch allerdings gar nicht hörbar, da sie in einem zu hohen Frequenzbereich liegt. Die Schallgeschwindigkeit in Stahl beträgt ungefähr 5000 Meter pro Sekunde, und mit einer typischen Schmiedehammerkopflänge von 10 bis 16 Zentimetern ergeben sich mit Eigenfrequenzen zwischen 15 und 25 Kilohertz, was nicht in Verbindung mit einer Tonhöhe wahrgenommen werden kann.

Schwingende Saite mit der Länge l und der Spannkraft F.

Schließlich ist festzustellen, dass das Zuggewicht einer Saite mit der Länge weder proportional noch umgekehrt proportional zur Frequenz der Saitenschwingungen beziehungsweise zur Tonhöhe ist. Vielmehr ist diese proportional zur Quadratwurzel des Zuggewichts . Im Übrigen ist die Tonhöhe umgekehrt proportional zur Länge und zur Dicke der Saite:

Erklärungsversuch

[Bearbeiten]

Diese Widersprüche können ausgeräumt werden, wenn die folgenden Sachverhalte erwogen beziehungsweise berücksichtigt werden:

Karte
Lage des Heraions (Ηραίο) und des Pythagoreions an der südöstlichen Küste der griechischen Insel Samos.
  • Pythagoras könnte den komplizierten und aufwendigen Bau des über 1000 Meter langen Tunnels von Eupalinos auf seiner Heimatinsel Samos mitverfolgt oder sogar begleitet haben.
  • Zu Lebzeiten des Pythagoras wurde das monumentale Heraion von Samos aus Kalkstein und Marmor gebaut.
  • Das lateinische Wort "faber" muss nicht mit „Schmied“, sondern kann auch mit „Handwerker“ übersetzt werden.
  • Es gab damals sicherlich mehr Werkstätten und Handwerker zur Steinbearbeitung als zur Metallbearbeitung.
  • Das lateinische Wort "fabrica" bedeutet Werkstätte und nicht Schmiede.
  • Werkstätten, in denen mindestens vier Handwerker gleichzeitig mit verschieden großen Hämmern auf einem Amboss geschmiedet haben, dürften nur selten zu finden gewesen sein.
  • Bei Meißeln liegt die Eigenfrequenz im gut hörbaren Bereich.
  • Bei Meißeln ist die Eigenfrequenz der longitudinalen Schwingungen umgekehrt proportional zu deren Länge
  • Bei Meißeln gleicher Querschnittsfläche ist die Eigenfrequenz daher auch umgekehrt proportional zu deren Länge , zu deren Volumen , zu deren Masse und zu deren Gewicht .
  • Die Eigenfrequenz einer schwingenden Saite ist umgekehrt proportional zu deren Länge .
  • Die Eigenfrequenz einer schwingenden Saite ist umgekehrt proportional zu deren Dicke .

Es liegt also nahe, davon auszugehen, dass Pythagoras nicht an einer Schmiede, sondern an einer Werkstätte mit mehreren tätigen Steinmetzen vorbeigekommen ist. Ferner ist es nicht abwegig, dass er im Anschluss an seine Entdeckung weitere Experimente mit einem Monochord durchgeführt hat.

Die folgenden Klangbeispiele verdeutlichen die klingenden Tonhöhen von fünf verschieden langen Metallstäben respektive Meißeln bei mechanischer Anregung entlang der Längsachse mit einem Schlag zum Beispiel durch einen Hammer. Die Metallstäbe haben alle die gleiche Querschnittsfläche, wobei die Verjüngungen an den Schneiden und die Verdickungen an den Schlagköpfen von tatsächlichen Meißeln hier in guter Näherung vernachlässigt werden können. Die Längen sowie die Eigenfrequenzen und die Tonhöhen stehen im Verhältnis von 12 zu 9 zu zu 8 zu 6 Längeneinheiten.

Vier pythagoreische Meißel mit den in harmonischen Längen- und Massen- und Eigenfrequenzverhältnissen 12:9:8:6.

Die Metallstäbe mit den ganzzahligen Längeneinheiten ergeben in allen Kombinationen harmonische Zusammenklänge, wohingegen der Metallstab mit der nicht rationalen Längenverhältniszahl zu allen anderen dissonant klingt.

Mit einigen entsprechenden und plausiblen Annahmen ergibt sich ein Szenario, das sich zu Pythagoras' Zeiten zugetragen haben könnte, ohne dass es zu Widersprüchen mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten kommt:

Wenn die Geschehnisse der Überlieferung von Boethius, die weder Schmiede noch Ambosse erwähnt, in einer Werkstätte für Steinmetze stattgefunden haben und in dem Punkt der Benennung der Werkzeuge dahingehend ungenau war, dass nicht nur die Hämmer, sondern Ensembles aus Meißeln gleichen Querschnitts aber unterschiedlicher Länge und Hämmern gemeint waren, wären die Töne und Tonhöhen gut hörbar und durch Hammerschläge verursacht, aber den Meißeln zuzuschreiben gewesen. Unter dieser Voraussetzung wären die ganzzahligen Verhältnisse der Tonhöhen identisch mit denen der Längen oder Gewichte der Meißel und völlig unabhängig von den Handwerkern und den verwendeten Hämmern gewesen.

Zwei parallele Monochorde auf einem gemeinsamen Resonanzkasten im Deutschen Museum in München.

Beim Experimentieren mit einem Monochord und konstanter Saitenspannung und -beschaffenheit hätte Pythagoras bei einer bestimmten Saitendicke exakt die gleichen Verhältnisse zwischen Saitenlänge und Tonhöhe und bei einer bestimmten Saitenlänge exakt die gleichen Verhältnisse zwischen Saitendicke und Tonhöhe gefunden, wie zwischen Meißellänge respektive Meißelgewicht und Tonhöhe. Eine doppelt so lange Saite mit gleicher Dicke oder eine doppelt so dicke Saite mit gleicher Länge klingen also exakt eine Oktave tiefer, als die Saite mit der einfachen Dicke beziehungsweise mit der einfachen Länge.

Die hierbei zu beobachtenden rationalen Zahlenverhältnisse mit Produkten aus den natürlichen Zahlen Eins, Zwei und Drei entsprechen den konsonanten Intervallen Oktave, Quinte, Quarte und Prim. In Bezug auf einen beliebigen Grundton ergeben die entsprechenden vier pythagoreischen Töne einen sogenannten Tetrachord.

Bei der weiteren kaskadierenden Untersuchung dieser Verhältnisse ergibt sich die diatonische Tonfolge aus den sieben Tönen A – B – C – D – E – F – G. Diese heptatonische Tonleiter bildet sowohl die Grundlage für das antike Systema Téleion der Griechen, das sich in den Jahrhunderten nach Pythagoras herausbildete, als auch für die vier Hauptkirchentonarten Protus, Deuterus, Tritus und Tetrardus, die sich in den Jahrhunderten nach Boethius herausbildeten.

Die antiken Untersuchungen mit den Zuggewichten von Saiten mögen durchgeführt worden sein, sind jedoch für diese Erkenntnisse weder hinreichend noch erforderlich. Wird die Spannkraft der Saite verdoppelt, ergibt sich eine um den Faktor Quadratwurzel von zwei (≈ 1,4142) erhöhte Frequenz, die einem gemeinhin als dissonant empfundenen Tritonus-Intervall entspricht. Nichtsdestoweniger war auch diese irrationale Zahl sowohl den Pythagoreern als auch schon lange zuvor den Babyloniern bekannt.

Kompositionen

[Bearbeiten]

In der Harmonielehre haben die vier pythagoreischen Töne eine große Bedeutung, da sie das Gerüst einer der am häufigsten verwendeten Schlusskadenzen bestehend aus Tonika, Subdominante, Dominante und Tonika bilden. Das nachfolgende Beispiel zeigt die Kadenz C-Dur – F-Dur – G-Dur – C-Dur mit dem jeweiligen Grundton der vier Akkorde in der Bassstimme.

Die vier pythagoreischen Töne c – f – g – c' sind blau dargestellt.
Hörbeispiel der Schlusskadenz in C-Dur.

Diese vier pythagoreischen Töne sind zum Beispiel ein zentrales Motiv der Impromptus (Opus-Zahl 5) von  Robert Schumann (* 1810; † 1856) für Klavier von 1833 über ein Thema von  Clara Wieck.

Gregorianik

[Bearbeiten]

Die ersten Niederschriften der Melodien des Gregorianischen Gesangs erfolgen mit adiastematischen Neumen, bei denen die Richtung der Tonhöhe für den Folgeton nach oben, auf die gleiche Tonhöhe oder nach unten sowie die ungefähre Dauer der Töne festgehalten werden konnte. Erst mit der durch Guido von Arezzo im 11. Jahrhundert eingeführten Linienschreibweise mit der diastematischen Neumenschrift konnten auch die Intervalle der diatonischen Melodien exakt notiert werden. In den verschiedenen Überlieferungen aus dem Mittelalter gibt es für die liturgischen lateinischen Texte leicht abweichende Melodieverläufe. Es wurden zwar schon C- und F-Schlüssel verwendet, ein Stimmton war aber noch nicht vorhanden, so dass die absoluten Tonhöhen trotz der Benennung der sieben Töne auf der diatonischen Skala nicht festgelegt sind.

Ad te levavi

[Bearbeiten]

Die gregorianische Antiphon Ad te levavi wird als Introitus am ersten Sonntag im Advent gesungen. Die Melodie im VIII. Ton (Tetrardus plagalis) mit der Finalis (Schlusston) G beginnt auf dem Text „Ad te levavi animam meam“. Der lateinische Text aus der Nova Vulgata mit den drei ersten Versen des 25. Psalms und den dazugehörigen hebräischen Buchstaben Aleph, Beth und Ghimel lautet wie folgt:

Psalm 25 (24),1-3A[5]
1 Aleph. Ad te, Domine, levavi animam meam,
2A Beth. Deus meus, in te confido; non erubescam.
2B Neque exsultent super me inimici mei,
3A Ghimel. etenim universi, qui sustinent te, non confundentur.

Ins Deutsche übersetzt (Einheitsübersetzung 2016):

Psalm 25,1-3A[6]
1 Zu dir, HERR, erhebe ich meine Seele,
2A mein Gott, auf dich vertraue ich.
2B Lass mich nicht zuschanden werden, lass meine Feinde nicht triumphieren!
3A Es wird ja niemand, der auf dich hofft, zuschanden;

Der Text des ersten Verses taucht im Psalm 143 noch einmal auf (Nova Vulgata):

Psalm 143 (142),8[7]
Auditam fac mihi mane misericordiam tuam, quia in te speravi.
Notam fac mihi viam, in qua ambulem, quia ad te levavi animam meam.

Ins Deutsche übersetzt (Einheitsübersetzung 2016):

Psalm 143,8[8]
Lass mich am Morgen deine Huld erfahren, denn auf dich vertraute ich!
Lass mich den Weg erkennen, den ich gehen soll, denn zu dir erhob ich meine Seele!

Die nach dem Graduale Novum restituierte Melodie besteht im ersten Vers aus zwanzig Tönen, von denen vierzehn zum pythagoreischen Tetrachord c – f – g – c' gehören und die restlichen sechs als Verzierungen oder Durchgangstöne betrachtet werden können. Der Melodieabschnitt endet auf dem Ton F, die Repercussa (der Halteton oder der Tenor) ist das C.

Der Beginn der Antiphon Ad te levavi vom ersten Sonntag im Advent nach dem Graduale Novum in Quadratnotation mit einem C-Schlüssel notiert. Die vier pythagoreischen Töne c – f – g – c' sind blau dargestellt.
Hörbeispiel des Beginn des Introitus Ad te levavi vom ersten Adventssonntag nach dem Graduale Novum.

Die folgende Tabelle gibt die Häufigkeit der pythagoreischen Töne für die vier Abschnitte des Psalms 25 des Introitus nach der Version des Graduale Novum an:

Vers Schlusston Anzahl
c
Anzahl
f
Anzahl
g
Anzahl
c'
Summe
pythagoreisch
Anzahl
andere
Summe
alle
Anteil
pythagoreisch
1 f 1 3 8 2 14 6 20 70,0%
2A g 0 4 8 10 22 10 32 68,8%
2B f 0 2 4 11 17 12 29 58,6%
3A g 0 2 13 3 18 17 35 51,4%

In alles vier Abschnitten überwiegen die vier pythagoreischen Töne, in den ersten beiden Abschnitten sogar deutlich. Diese Koinzidenz ist recht auffällig, und es scheint, als wollte uns der anonyme mittelalterliche Komponist mit diesem ersten Stück des gregorianischen Repertoires im christlichen Kirchenjahr auf den pythagoreischen Ursprung der Musiktheorie und der Systeme der antiken und gregorianischen Modi hinweisen.

Factus est repente

[Bearbeiten]

Ein weiteres Beispiel aus dem gregorianischen Repertoire ist die Communio vom Pfingstsonntag Factus est repente de caelo sonus (Gemacht ist plötzlich vom Himmel ein Tönen)[9] im VII. Ton (Tetrardus authenticus) mit dem Tenor D und der Finalis G. Der Text beschreibt das Pfingstereignis, bei dem sich der Heilige Geist mit Feuerzungen auf die christliche Gemeinde herabsenkte und die Zungenrede bewirkte. Bis auf die ersten drei Töne der einen starken Akzent setzenden Gruppenneume (Porrectus flexus) mit den beiden Spitzentönen f' und dem einen Halbton darunterliegenden Durchgangston e' besteht die urgewaltige Melodie des ersten Verses nur aus den pythagoreischen Tönen g – c' – d.

Der Beginn der Antiphon Factus est repente vom Pfingstsonntag nach dem Graduale Romanum in Quadratnotation mit einem C-Schlüssel notiert. Die pythagoreischen Töne g – c' – d' sind blau dargestellt.
Hörbeispiel des Beginn der Communio Factus est repente vom Pfingstsonntag nach dem Graduale Romanum.

Hochbarock

[Bearbeiten]
Titelbild vom ersten Band der in Rom veröffentlichten "Musurgia Universalis, sive Ars Magna Consoni et Dissoni" des Jesuiten  Athanasius Kircher (* 1602; † 1680) aus dem Jahr 1650. Der Bildentwurf stammt von  Johann Paul Schor (* 1602; † 1680), und dieser wurde von Paulus Pontius (* 1603; † 1658) gestochen. Unten links ist Pythagoras zu sehen. Rechts neben ihm sind in der Bildmitte drei Schmiede abgebildet, die mit ihrem Hammer auf einen Amboss schlagen. Im sechsten Kapitel ("Die Musik der alten Griechen und ihre Instrumente") des zweiten Buches "Philologicus, soni artificialis, sive Musicae primam institutionem, propagationemque inquirit." ("Philologie: Über den künstlichen Klang oder die »Musik« und ihre vorzügliche Einrichtung, ihr Alter, ihre Geschichte und ihre Verbreitung") wird der falsche Sachverhalt der überlieferten Legende kurz erwähnt:[10] "Er hat nach den Größenverhältnissen von Hämmern als erster die Proportionen der musikalischen Bewegungen überliefert, die er auch mit Zahlen darstellte."

Es gibt zwei Werke vom Ende des 17. Jahrhunderts mit explizitem Bezug zur Legende, die beide von Schülern des italienischen Komponisten  Jean-Baptiste Lully (* 1632; † 1687) komponiert wurden.

Die durch Hammerschläge verursachten Klänge wurden 1690 vom französisch-deutschen Organisten und Komponisten  Georg Muffat (* 1653; † 1704) mit der Orgelkomposition Nova Cyclopeias Harmonica in C-Dur und im 3/4-Takt in Töne gesetzt. Diese Komposition ist von einer Aria eingerahmt, die aus zwei Teilen mit je 16 Takten besteht. Ansonsten umfasst sie acht Variationen mit jeweils 21 Takten zum Thema Ad Malleorum Ictus Allusio (Zur Anspielung auf die Schläge der Hämmer) und endet mit dem Spruch Summo Deo Gloria. Die einzelnen Stücke bauen alle auf den Fundamentaltönen c-f-g-c' auf, die abwechslungsreich umspielt und harmonisiert sind. In den letzten vier Takten der Aria und in den letzten sieben Takten der Variationen ist auf jeder Zählzeit mindestens einer dieser pythagoreischen Töne zu hören:

Partitur der letzten sieben Takte der ersten Variation Ad Malleorum Ictus Allusio der Komposition Nova Cyclopeias Harmonica von Georg Muffat aus dem Jahr 1690. Die pythagoreischen Töne C, F und G sind blau gekennzeichnet.
Hörbeispiel der letzten sieben Takte der ersten Variation Ad Malleorum Ictus Allusio der Komposition Nova Cyclopeias Harmonica von Georg Muffat.
Titelseite der sieben Orchestersuiten "Pythagorische Schmids=Fuencklein" von Rupert Ignaz Mayr aus dem Jahr 1692 mit einer Illustration des deutschen Malers Johann Andreas Wolff (* 1652; † 1716).
Kanon mit blauen Markierungen bei den vier pythagoreischen Tönen g'-c"-d"-g" auf der Titelseite der sieben Orchestersuiten "Pythagorische Schmids=Fuencklein" von Rupert Ignaz Mayr aus dem Jahr 1692.

1692 veröffentlichte der deutsche Geiger, Komponist und Hofkapellmeister  Rupert Ignaz Mayr (* 1646; † 1712) die sieben dem Kurfürsten von Bayern Maximilian II. Emanuel gewidmeten Orchestersuiten:

Pythagorische Schmids=Fuencklein
Bestehend in unterschiedlichen Arien / Sonatinen / Ouverturen / Allemanden / Couranten / Gavotten / Sarabanden / Giquen / Menueten / &c.
Mit 4.Instrumenten und beygefügten General-Baß, Bey Tafel=Musicken / Comœdien / Serenaden / und zu anderen fröhlichen Zusammenkunfften zu gebrauchen.

Die Haupttonarten der sieben Suiten für Sologeige sind F-Dur, D-Dur, G-Dur, d-Moll, F-Dur, D-Dur und B-Dur.

Kanon in G-Dur auf der Titelseite der sieben Orchestersuiten "Pythagorische Schmids=Fuencklein" von Rupert Ignaz Mayr aus dem Jahr 1692.
Vierstimmiger Kanon in G-Dur auf der Titelseite der sieben Orchestersuiten "Pythagorische Schmids=Fuencklein" von Rupert Ignaz Mayr aus dem Jahr 1692.

Spätbarock

[Bearbeiten]

Der deutsche Komponist  Johann Sebastian Bach (* 1685; † 1750) hat 1741 mit den Goldberg-Variationen ein großartiges Werk geschaffen, das ebenso wie die über fünfzig Jahre vorher entstandene Nova Cyclopeoas Harmonica von Georg Muffat aus einer zweiteiligen Aria mit Variationen besteht. Die beiden Ariae lassen etliche Ähnlichkeiten erkennen.

Als junger Mann hatte Johann Sebastian Bach bereits ein ebenso herausragendes Werk für die Orgel komponiert, nämlich die Passacaglia und Fuge in c-Moll (Bach-Werke-Verzeichnis 582). Das achttaktige Hauptthema der Passacaglia besteht aus fünfzehn Tönen, von denen zehn den pythagoreischen Tönen entsprechen.

Das Thema der Passacaglia in c-Moll (BWV 582) von Johann Sebastian Bach mit den blau dargestellten pythagoreischen Tönen.
Thema der Passacaglia in c-Moll (BWV 582) von Johann Sebastian Bach.

Schlussbetrachtung

[Bearbeiten]
Moderne Graphik mit der Darstellung von Pythagoras in einer Werkstatt mit vier Steinmetzen.

Die Legende von Pythagoras in der Schmiede kann auf einer tatsächlichen Begebenheit beruhen. Unabhängig von der Frage, welche der hier beschriebenen Gesetzmäßigkeiten in der Antike tatsächlich untersucht und gefunden worden sind, sind bei den mittelalterlichen und neuzeitlichen Überlieferungen offensichtlich Ungenauigkeiten aufgetreten.

Ferner sind an der überlieferten Legende unhistorische Ergänzungen vorgenommen worden, die für die Interpretation der Überlieferung des Boethius jedoch nicht weiter berücksichtigt werden müssen. Nichtsdestoweniger haben Ungenauigkeiten bei den Überlieferungen und die praxisfernen Hinzufügungen und Änderungen sicherlich dazu beigetragen, dass auch die ältesten Berichte über Pythagoras' Untersuchungen von vielen Autoren - nach den obigen Ausführungen aber vielleicht völlig zu Unrecht - in das Reich der Legenden verbannt wurden.

Der deutsche theoretische Physiker  Werner Heisenberg (* 1901; † 1976) schrieb 1937 in seinem Aufsatz Gedanken der antiken Naturphilosophie in der modernen Physik:

Die Abstraktheit des modernen Atombegriffs und der mathematischen Formen, die der heutigen Atomistik als Abbild für die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dienen, leitet bereits über zu dem zweiten Grundgedanken, den die exakte Naturwissenschaft unserer Zeit aus der Antike übernommen hat: dem Gedanken an die Sinn gebende Kraft mathematischer Strukturen.

Die Harmonien der Pythagoräer, die Kepler noch in den Bahnen der Gestirne zu finden glaubte, sucht die Naturwissenschaft seit Newton in der mathematischen Struktur des dynamischen Gesetzes, in der dieses Gesetz formulierenden Gleichung.

Die Erfolge dieser Naturbetrachtung, die zum Teil zu einer wirklichen Beherrschung der Naturkräfte geführt hat und damit in die Entwicklung der Menschheit entscheidend eingreift, haben dem Glauben der Pythagoräer in einem nicht vorhersehbaren Maße Recht gegeben.

Diese Wendung bedeutet insofern eine konsequente Durchführung des Programms der Pythagoräer, als damit die unendliche Vielfältigkeit des Naturgeschehens ihr getreues mathematisches Abbild findet in den unendlich vielen Lösungen einer Gleichung, etwa der Newton'schen Differenzialgleichung der Mechanik.

Siehe auch

[Bearbeiten]

Widmung

[Bearbeiten]

Der Hauptautor dankt seinem Lehrer  Lorenz Weinrich (*1929). Er hat ihn mit seiner fundierten Kenntnis des Mittelalters und des Gregorianischen Gesanges die mittelalterliche Kirchenmusik nahegebracht.

[Bearbeiten]
 Commons: Pythagoras and the smithy – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

[Bearbeiten]
  1. Markus Bautsch: Über die pythagoreischen Wurzeln der gregorianischen Modi, Mater Dolorosa Berlin-Lankwitz, März 2012
  2. X. Wie Pythagoras die Verhältnisse der Zusammenklänge untersucht hat, in: De institutione musica : Von der musikalischen Unterweisung, Boethius, nach Gottfried Friedlein, Leipzig, Teubner, 1867; ins Deutsche übersetzt von Hans Zimmermann, Görlitz, 2009
  3. XI. Auf welche Weisen von Pythagoras die verschiedenen Verhältnisse der Zusammenklänge ausgemessen wurden., in: De institutione musica : Von der musikalischen Unterweisung, Boethius, nach Gottfried Friedlein, Leipzig, Teubner, 1867; ins Deutsche übersetzt von Hans Zimmermann, Görlitz, 2009
  4. Kapitel XX. wie die Musik aus dem Klange der Hämmer erfunden worden sei, in: Micrologus Guidonis de disciplina artis musicae / Kurze Abhandlung Guido's über die Regeln der musikalischen Kunst, ins Deutsche übersetzt von Michael Hermesdorff, Trier, 1876
  5. Psalm 25 (Nova Vulgata)
  6. Psalm 25, Einheitsübersetzung, 2016
  7. Psalm 143 (Nova Vulgata)
  8. Psalm 143,8, Einheitsübersetzung, 2016
  9. Vergleiche Apostelgeschichte Kapitel 2, Einheitsübersetzung, 2016
  10. Zweites Buch der Großen Kunst der Konsonanz und Dissonanz - Philologie: Über den künstlichen Klang oder die »Musik« und ihre vorzügliche Einrichtung, ihr Alter, ihre Geschichte und ihre Verbreitung, Kapitel 6: "Die Musik der alten Griechen und ihre Instrumente", Paragraph 4: "Der Stoff der Musik der Alten, der Grad ihrer Vollendung, ihre Zeichen und die musikalischen Noten", Seite 46


Zusammenfassung des Projekts

[Bearbeiten]

100% fertig „Pythagoras in der Schmiede“ ist nach Einschätzung seiner Autoren zu 100 % fertig

  • Zielgruppe: Musiker, Historiker, Naturwissenschaftler
  • Lernziele: Ganzrationale Verhältnisse anhand einer antiken Legende, historische Entwicklung der Musiktheorie
  • Buchpatenschaft/Ansprechperson: Benutzer:Bautsch
  • Sind Co-Autoren gegenwärtig erwünscht? Ja, sehr gerne. Korrekturen von offensichtlichen Fehlern direkt im Text; Inhaltliches bitte per Diskussion.
  • Richtlinien für Co-Autoren: Wikimedia-like.