Soziologische Klassiker/ Soziale Ordnung/ Garfinkel, Harold

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Harold Garfinkel[Bearbeiten]

Harold Garfinkel gilt als "Vater der Ethnomethodologie". Begründet ist dies in seinem 1967 publizierten Werk "Studies in Ethnomethodology". Der Fokus seines Schaffens liegt auf den Methoden, mittels derer die Teilnehmer einer Gesellschaft soziale Ordnung generieren. Garfinkel möchte mittels der Ethnomethodologie eine umfassende theoretische Konzeptualisierung sozialer Ordnung mittels vielschichtiger Forschungsmethoden gewährleisten.


Soziale Ordnung wird durch Methoden des Handelns erreicht[Bearbeiten]

Garfinkel geht davon aus, dass der bedeutungsvolle, gestaltete, und geordnete Charakter des täglichen Lebens etwas ist, an dessen Erreichung die Menschen kontinuierlich arbeiten müssen – vor dem Hintergrund dieser Annahme muss man davon ausgehen, dass die Menschen hierfür auch bestimmte Methoden haben. Er attestiert dem Leben eine gestaltete Ordnung – demnach ist es unzureichend lediglich zu postulieren, dass bestimmte Richtungen oder Muster von Ordnung gesellschaftlich etabliert werden, in dem wahllos gemeinsame Ziele verfolgende Individuen lange genug ähnliche Handlungen vollziehen. Laut Garfinkel bedarf es tatsächlich gemeinsamer Methoden der Gesellschaftsmitglieder die dazu führen dass sie wechselseitig die sinnvolle Ordnung sozialer Situationen erzeugen – und somit soziale Ordnung generieren. Garfinkel geht es nicht um die bloße Befolgung von Regeln, nach ihm ist diese Idee sogar für viele klassische Probleme der soziologischen Theorie verantwortlich zu machen. Dennoch hält er Beispiele für die Befolgung von Spielregeln, etwa anhand der Sportart Baseball, für sinnvoll seinen Gedankengang zu illustrieren, dass die von Personen zur Erzeugung der Ordnung von gewöhnlichen Anlässen angewandten Methoden wesentlich bestimmend für diese Anlässe sind. Die von Garfinkel betriebene Ethnomethodologie ist demnach die Studie der menschlichen Methoden zur Generierung kenntlicher sozialer Ordnungen. Ziel ihrer Forschungsarbeit ist die Kenntlichmachung der Handlungsweisen von Personen in bestimmten Situationen sowie der Methoden mittels derer sie die gestaltete Ordnung des sozialen Lebens generieren. Die lokalen sozialen Ordnungen die in verschiedenen Situationen bestehen können mittels der Ethnomethodologie multiperspektivisch untersucht werden. Die konkreten Akteure in diesen Situationen sind als Individuen für den Forscher grundsätzlich nicht von Relevanz – dies ist nur der Fall, wenn sie spezifische persönliche Charakteristika aufweisen welche ihre Kompetenz zur Generierung der zu untersuchenden kenntlichen lokalen Ordnung beeinflusst. Solche Charakteristika könnten etwa wahrnehmungshemmende Einschränkungen wie eine Sehstörung oder Taubheit sein. Im Unterschied zu Regeln sind die Methoden von Akteuren sozialer Szenerien weit weniger zu konkretisieren, sie bleiben immer ein Stück weit ununterscheidbar.

Erreichen gegenseitiger Verständlichkeit[Bearbeiten]

Um gegenseitige Verständlichkeit zu erreichen, bedarf es eines gewissen Vertrauens in die gemeinsam angewandten Methoden. Dies ist darin begründet, dass für Akteure die Notwendigkeit besteht dieselben Handlungsweisen anzuwenden um kenntliche lokale Ordnungen zu generieren. Damit andere die Handlungen von Personen im gewollten Sinne begreifen, müssen diese genau jene Handlungen ausführen, welche für die spezifische Situation adäquat sind. (Will ich als in einer Warteschlange stehend wahrgenommen werden, um zu einem Schalter zu gelangen, so nützt es mir nichts wenn ich mich in der Wartezeit neben die anderen Teilnehmer der Situation stelle, und langsam mit nach vorne gehe.)


Weiterhin meint Garfinkel dass die Menschen im Alltag die Details sozialer Praktiken sorgfältig beobachten und im Gedächtnis verankern, damit sie Behauptungen rechtfertigen können die sie über Ordnung soziale Anlässe machen. Auf diese Weise kann man argumentieren, ob man sich richtig oder falsch verhalten hat. Seiner Ansicht nach wird das soziale Leben durch die Herstellung solcher kenntlicher Handlungsweisen organisiert – demnach sind die Details solcher Handlungsweisen elementar für das Verständnis der Gesellschaft. Eine sorgsam detaillierte, vorausschauende Vorstellung des Ablaufs von Praktiken ist in Garfinkels Sicht vonnöten, um zu verstehen warum etwas geschehen ist. Laut Garfinkel wird soziale Ordnung nicht lediglich rückwirkend durch den Bestand eines Vokabulars gemeinsamer Beweggründe oder Vorstellungen gebildet, sondern auch vorausschauend über die Verordnung von detaillierten Bündeln gemeinsamer Praktiken. Garfinkels Artikel „On Formal Structures of Practical Action“ aus dem Jahr 1970 (geschrieben zusammen mit Harvey Sacks) beinhaltet in der Hauptsache den Gedankengang dass sich formale, beobachtbaren Strukturen sogar in den einfachsten praktischen Handlungen entdecken lassen.

Soziale Praktiken müssen kenntlich generiert werden, damit sie wechselseitig verständlich sind. Für die Ethnomethodologie ist es charakteristisch, dass alle gegenseitig verständlichen gewöhnlichen Handlungen eine erkennbare Struktur aufweisen.

Abgrenzung zu Parson - von Personen zu gesellschaftlichen Szenerien[Bearbeiten]

Garfinkel grenzt sich in seinen Schriften stark von Talcott Parsons Denkweise ab, welche in sozialer Ordnung wesentlich die Folge des menschlichen Hanges zur Normkonformität sieht –sie ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen Individuen und dem Grad an sozialer Restriktion. Lassen sich keine klar zu erkennenden Muster von Ordnung entdecken, so hängt die Beweisbarkeit einer den Menschen Normen und Werte vorgebenden und sie zur Befolgung derselben zwingenden sozialen Ordnung lediglich von der Manipulation großer statistischer Datenmengen ab, nachdem man ja davon ausgeht dass Individuen hinsichtlich ihrer Normkonformität differieren. Diese Betrachtung sozialer Ordnung führt in Garfinkels Sichtweise zu einer theoretisch konstruierten Welt in der man Ordnung nur nach der Anwendung und gleichzeitig als Ergebnis einer bestimmten sozialwissenschaftlichen Methode entdecken kann – im englischen Original von ihm als „Parsons’s Plenum“ bezeichnet. Lässt sich Ordnung aber nur auf diese Art ausmachen, so sind die von Garfinkel als elementar erachteten detaillierten Studien verschiedenster Orte sowie sozialer Ereignisse sinnlos - man kann „vor Ort“ keine Hinweise entdecken, die sich nur aus der Analyse gigantischer Datenmengen erkennen lassen. Garfinkel entgegnet dem die grundsätzliche Sichtweise, dass sozial kenntliche Handlungen ihre Ordnung in ihren spezifischen Details aufweisen und in geordneten und erwarteten Weisen erzeugt werden müssen. Der Forscher erhält somit unmittelbaren Zugang zum Prozess der Generierung lokaler sozialer Ordnungen, wenn er konkrete Handlungsweisen in spezifischen Situationen studiert. Garfinkel ist der Überzeugung, dass die weit verbreitete Die Kenntlichmachung der Erzeugung sozialer Ordnung wird in Garfinkels Überzeugung durch die Fokussierung auf die formalanalytische Theorie sowie statistische Methoden der Analyse großer Populationen verhindert. Die vorherrschenden, sich auf Parsons Sichtweisen beziehenden Forschungsansätze in Bezug auf “soziale Ordnung” innerhalb der Soziologie machen die Entdeckung der Entstehungsprozesse dieser unmöglich – sie sind dem Forschungsgegenstand gegenüber unbrauchbar. Die regelmäßige, gewohnheitsmäßige Verständlichkeit im Handeln zwischen den Menschen kann durch sie nicht erklärt werden. Auch nicht der alltäglich beobachtbare Grad an Normkonformität. Garfinkel spricht von der „unvergänglichen alltäglichen Gesellschaft“, abgewandelt von Durkheims Konzept der unvergänglichen Gesellschaft, welches er aber spezifisch als sich auf die lokale Generierung sozialer Ordnung beziehend betrachtet. Die Neigungen von Individuen sich mehr oder weniger an soziale Normen zu halten sind in dieser Sichtweise nicht wesentlich für die Gesellschaft – sie ist insoweit unvergänglich, als dass die gestaltete Ordnung von diversen sozialen Situationen die in diesen handelnden Akteure überdauert. In der klassischen Sichtweise auf soziale Ordnung konzentriert man sich auf die Populationen welche die gesellschaftlichen Szenerien belegen – man geht davon aus, dass sie diese erzeugen. Auch in demographischer Hinsicht bezieht man sich auf die Populationen, nämlich konkret hinsichtlich ihrer klassifizierbaren Charakteristika. (wie etwa das Geschlecht oder die ethnische Zugehörigkeit) Garfinkels Erwägungen bezüglich gestalteter Ordnung betonen hinsichtlich der Forschung nun die gesellschaftlichen Szenerien im Gegensatz zur populationsfixierten Methodik. Der Gedanke ist, dass jede Population die in einer bestimmten Szenerie auftritt diese nur kenntlich reproduzieren kann, in dem sie die adäquaten Handlungsweisen anwendet, welche jene als eine soziale Situation bestimmter Art konstituieren.

Im Wechsel der Fokussierung von Personen hin zu Szenerien steckt bei Garfinkel auch der Gedanke, dass die Betonung der Personen in erster Linie nur als Ergebnis der Betrachtung sozialer Ordnung im Parsonschen Paradigma zustande kam. Die von klassischen Denkern wie Durkheim angedachte Vorstellung von sozialer Ordnung gründet nicht auf den Charakteristika von Populationen, sondern auf den situationsspezifischen Details von Handlungsweisen. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich sie von Studien die dem Parsonschen Paradigma folgen zu erfassen, welche laut Garfinkel die reale Welt durch eine theoretisch-analytische ersetzen. Auch die auf die Sichtweise des Akteurs fokussierten traditionellen Studien sind unbrauchbar. Diese untersuchen vornehmlich inviduell-personale Aspekte wie religiöse Glaubensweisen, Werte und Denkarten. Stattdessen muss eine Studie die für die Generierung spezifischer lokaler Ordnungen notwendigen gewöhnlichen Handlungsweisen detailliert erforschen.

Konservativismusvorwurf[Bearbeiten]

In Garfinkels Konzeption steckt, entgegen vieler Interpretationen seines Werkes als dezidiert konservativ, ein großer Spielraum für individuelle Kreativität oder auch Auflehnung gegen das Etablierte, Gegebene. Seine Botschaft lautet nicht, dass man gegen den Status Quo nicht aufbegehren sollte, oder dass soziale Ungleichheit keine Relevanz für den Forschenden aufweist. Konträr zu dieser Sichtweise auf seine Perspektive möchte Garfinkel darauf hinweisen, dass der Fokus der Forschung im Hinblick auf die Zwänge der Gesellschaft für die Individuen zu wenig auf den tatsächlichen Interaktionen liegt. Garfinkel ist sich der Ungerechtigkeiten der etablierten Verhältnisse sehr bewusst. Aus diesem Bewusstsein konstituiert sich auch seine warnende Kritik an der sozialwissenschaftlichen Forschung hinsichtlich sozialer Ordnung: viele der weithin als objektiv erachteten etabliertesten sozialwissenschaftlichen Methoden sind selbst in den Zwängen der sozialen Praktiken verfangen, welche die Essenz dieser Methoden bilden, daraus resultierend ergeben sich dann vorgeblich „kritische“ Studien, durch welche tatsächlich der Status Quo aufrecht erhalten wird.


Weiterführende Links[Bearbeiten]

Hauptartikel zu Harold Garfinkel in diesem Wikibook

Harold Garfinkel in der deutschsprachigen Wikipedia


Literatur[Bearbeiten]

  • Rawls, Anne (2003):
    "Harold Garfinkel. in: Ritzer, George (Hrsg.)(2003): The Blackwell Companion to major contemporary social theorists"
    Oxford