Zweideutigkeit als System - Thomas Manns Forderung an die Kunst: Betrachtungen eines Unpolitischen

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Erstdruck 1918
Entstehung: Herbst 1915 bis März 1918.

Grundthemen des Essaybandes sind ein wehmütiger Abschied von deutsch-romantischer Bürgerlichkeit, die grübelnde Suche nach Charakter und Schicksal des Deutschtums [1] [2] und eine polemische Ablehnung der Demokratie. - Im amerikanischen Exil hat Thomas Mann 1950 von dem Jahre verschlingenden Werk als einem "donquixotesken" Unterfangen gesprochen. "Kaum war es fertig, 1918, da löste ich mich von ihm, [...] fand ich mich als Verteidiger der demokratischen Republik." [3] Die Erinnerung mag Thomas Mann hier getäuscht haben. 1928 hatte er noch öffentlich bekannt: "Denn ich verleugne die "Betrachtungen" nicht und habe sie mit keinem Worte verleugnet, das ich nach ihrer Beendigung schrieb". [4]


Kunst als lebendige Vieldeutigkeit und tiefe Unverbindlichkeit

In ihrer geistigen Freiheit sei die Kunst dem bloßen Intellektuellen überlegen. Der Künstler [der Romancier, der Novellist, der Dichter] nehme das Intellektuelle niemals ganz ernst. Seine Sache sei es von jeher gewesen, intellektuelle Inhalte als Material und Spielzeug zu behandeln. Er will widersprechende Standpunkte vertreten und tut es, indem er dem, der gerade spricht, Recht haben lässt. „Der intellektuelle Gedanke im Kunstwerk wird nicht verstanden, wen man ihn als Zweck seiner selbst versteht; er ist nicht literarisch zu werten, - was selbst raffinierte Kritiker zuweilen vergessen oder nicht wissen.“ Zweckhaft sei der Intellekt in der Literatur nur in Hinsicht auf die Komposition.

Thomas Mann wehrt sich in dem Essayband auch gegen die Funktionalisierung der Kunst, gegen ihre Politisierung. Unverblümt findet diese Abneigung ihren Niederschlag in der Korrespondenz, die er während der Entstehungszeit des umfangreichen Essaybandes führt:

„Ich hasse die Demokratie und damit hasse ich die Politik, denn das ist dasselbe.“ [5]

Politische Tagesparolen und Zeitströmungen sind ephemer und damit nicht kunsttauglich. Nach ihrem Verfallsdatum können spätere Leser die ehemalige emotionale Besetzung nur noch mühsam nachvollziehen. Zeitlos dagegen ist der Mythos, sind mythische Motive. Sie wird Thomas Mann nach Der Zauberberg vermehrt aufgreifen und gestalten.


Kunst versus Aufklärung und Fortschritt

Die Kunst sei rückwärts gerichtet, reaktionär. Nie werde sie im politischen Sinn moralisch und tugendhaft sein, werde sich der Fortschritt auf sie verlassen können. Sie ist „eine irrationale, aber eine große Macht“. [6] Thomas Manns persönliche Sicht trennt zwischen Zivilisation und Fortschritt einerseits und Kultur und Kunst andererseits. Fortschritt sei ein Prinzip, der Kultur bewahrende Konservatismus eine Stimmung. Menschlich überlegen sei die konservative Gestimmtheit.

Die moralfreien Motive Thomas Manns Verfall (Buddenbrooks 1901), Tendenz zum Abgrund ( Der Tod in Venedig 1912) Sympathie mit dem Tode (Der Zauberberg 1924), und willentliche Genialisierung durch Krankheit (Doktor Faustus 1947) belegen diese kunsttheoretischen Aussagen - in vier Meisterwerken der Weltliteratur.

Der Künstler bleibe ein Abenteurer des Gefühls, zur Abwegigkeit und zum Abgrund geneigt, dem Gefährlichen offen. [7] Sein Essayband von 1918 könnte statt „Betrachtungen“ ebenso „Bekenntnisse“ heißen, denn Thomas Mann fährt fort: „Der Künstler ist und bleibt Zigeuner, gesetzt auch, es handelte sich um einen deutschen Künstler von deutscher Kultur.“ [8]


Q u e l l e n:

  1. Mann, Thomas: Kultur und Sozialismus. In: Preußische Jahrbücher. April 1928. Bd. 212, Heft 1, S. 24
  2. Mann, Thomas: Gruß an das Reichsbanner. In: Lübecker Volksbote. 9. August 1929. Jg. 36, Nr. 184 S. [3]
  3. Meine Zeit. Vortrag. Gehalten in der Universität Chicago Mai 1950. Amsterdam: Bermann-Fischer /Querido 1950, S. 22, S. 23
  4. Mann, Thomas: Kultur und Sozialismus. In: Preußische Jahrbücher. April 1928. Bd. 212, Heft 1, S. 24
  5. am 25.11.1916 an Paul Amann
  6. a. a. O., S. 396
  7. a. a. O. S. 403
  8. In der autobiographischen Novelle Thomas Manns Der Bajazzo (1897) ist „Zigeuner im grünen Wagen“ eine Metapher für Künstlertum.


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