Zweideutigkeit als System - Thomas Manns Forderung an die Kunst: Felix Krull

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Verlagsumschlag 1954

Entstehung

Den Roman stellt Thomas Mann in die Tradition des europäischen Schelmen-Romans. [1] "Es ist ein etwas leichtsinniges Buch, dessen Scherze man mir zugute halten mag." [2] Dennoch ist kein Roman Thomas Manns autobiographischer und bekenntnishafter als dieser. [3] Begonnen wurde er im Spätjahr 1909. [4] 1911 ließ Thomas Mann die Arbeit an dem Manuskript ruhen mit dem Vorbehalt, sie später wieder aufzunehmen. [5]

Nach einer Pause von nahezu vier Jahrzehnten wurde 1950 bis 1954, in der zweiten Arbeitsphase, der Der Memoiren erster Teil abgeschlossen (siehe Abbildung rechts).[6] Beim ersten Teil ist es geblieben. Zur Weiterführung von Felix Krulls Lebensweg fragte sich der neunundsiebzigjährige Thomas Mann: "Wie, wenn der Roman weit offen stehen bliebe? Es Wäre kein Unglück meiner Meinung nach." [7]

Parodie

Geplant war der Hochstaplerroman als eine Parodie auf Goethes «Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit». [8] Die Zusammenfassung der Kapitel in Bücher analog zu Goethes Autobiographie trägt dieser Anspielung Rechnung. Vordergründig jedoch ging es Thomas Mann um die "travestierende Übertragung des Künstlertums ins Betrügerisch-Kriminelle". [9] Der Künstler wird humoristisch in die Nähe des Hochstaplers gerückt.

Das Eingangskapitel enthält zwei autobiographische Anspielungen Thomas Manns, eine chronologische und eine selbstironische. Felix Krull erblickt "wenige Jahre nur nach der glorreiche Gründung des Deutschen Reiches das Licht der Welt" [10] – sein Autor wurde 1875 geboren - und stammt aus "feinbürgerlichen, wenn auch liederlichem Hause." [11] "Feinbürgerlich" trägt Felix Krulls Unbildung Rechnung. Er meint gutbürgerlich. "Liederlich" ist ein indirektes Zitat. Der Hauptpastor Ramke von St. Marien in Lübeck, Thomas Manns Geburtsstadt, hatte nach dem Tod von Thomas Manns Vater die verbliebene Familie als "verrottet" bezeichnet. [12] [13]

Vereinbarte Illusion

Dass die Kunst das Erlebnis einer "vereinbarten Illusion" [14] ist, erkennt Felix Krull bereits als Kind - in der Künstlergarderobe nach einer Theatervorstellung. Gegeben wurde eine nicht näher genannte Operette. Star und Publikumsliebling dieser Aufführung war Müller-Rosé. Er spielte einen Gesandtschaftsattaché, einen sympathischen jungen Schwerenöter und Schürzenjäger.

Mit Müller-Rosé war Felix´ Vater während seiner Pariser Zeit befreundet. Nach der Vorstellung besucht der Vater ihn in dessen Garderobe und nimmt den kleinen Felix mit. [15] Auf respektvolles Anklopfen erfolgt eine unwillige, grobe Aufforderung einzutreten.

"Ein Anblick von unvergesslicher Widerlichkeit bot sich dem Knaben dar. An einem schmutzigen Tisch und vor einem staubigen und beklecksten Spiegel saß Müller-Rosé, nichts weiter am Leibe als eine Unterhose aus grauem Trikot. [Er ist dabei, seine fettige Schminke abzuwischen.] Die eine Hälfte seines Gesichtes war noch bedeckt mit jener rosigen Schicht, die sein Antlitz vorhin so wächsern idealisch hatte erscheinen lassen, jetzt aber lächerlich rotgelb gegen die käsige Fahlheit der anderen, schon entfärbten Gesichtshälfte abstach. Da er die schöne kastanienbraune Perücke mit durchgezogenem Scheitel […] abgelegt hatte, erkannte ich, dass er rothaarig war. [16] Noch war sein eines Auge schwarz ummalt, und metallisch schwarz glänzender Staub haftete in den Wimpern, indes das andere nackt, wässerig, frech und vom Reiben entzündet den Besuchern entgegenblinzelte. Das alles jedoch hätte hingehen mögen, wenn nicht Brust, Schultern, Rücken und Oberarme Müller-Rosés mit Pickeln besät gewesen wären. Es waren abscheuliche Pickel, rot umrändert, mit Eiterköpfen versehen, auch blutend zum Teil."

"Dies also – so etwa gingen damals meine Gedanken -, dies verschmierte und aussätzige Individuum ist der Herzensdieb, zudem soeben die graue Menge sehnsüchtig emporträumte! Ihm war es gelungen, der Menge das Ideal ihres Herzens in seiner Person erblicken zu lassen und sie dadurch unendlich zu erbauen und zu beleben!"

Was war Müller-Rosés wahre Erscheinung? Der widerwärtige Kerl in der Garderobe oder die Lichtgestalt auf der Bühne?

Und doch, meint der Memoirenschreiber Felix Krull, "wieviel Bewunderung gebührt ihm nicht für das, was ihm heute gelang und offenbar täglich gelingt! Gebiete deinem Ekel und empfinde ganz, dass er es vermochte, sich in dem geheimen Bewusstsein und Gefühl dieser abscheulichen Pickel mit so betörender Selbstgefälligkeit vor der Menge zu bewegen, ja, unterstützt durch Licht und Fett, Musik und Entfernung, diese Menge das Ideal ihres Herzens in seiner Person erblicken zu lassen und sie dadurch unendlich zu erbauen und zu beleben. […] Welche Einmütigkeit in dem guten Willen, sich verführen zu lassen. […] Lediglich der Hang und Drang seines Herzens zu jener bedürftigen Menge hat ihn zu seinen Künsten geschickt gemacht; und wenn er ihr Lebensfreude spendet, sie ihn dafür mit Beifall sättigt, ist es nicht ein wechselseitiges Sich-Genüge-Tun, eine hochzeitliche Begegnung ihrer Begierden?" [17]

In dieser frühen Arbeitsphase an Felix Krull, in der das Theater-Kapitel entstanden ist, nennt Thomas Mann die Kunst "ein erquickliches Blendwerk", das mit den "feinsten sinnlichen und intellektuellen Zaubermitteln hervorgebracht wird. […] Ja, was ist die Kunst! Was ist der Künstler! Diese Mischung aus Lucifer und Clown." [18] Dreiundvierzig Jahre später, am Hochstaplerroman weiter schreibend, äußert er sich einem Briefpartner gegenüber ganz ähnlich: "Nun, was vom Gaukler ist in mir – und im Künstlermenschen überhaupt." [19]

In dem Kapitel, das sich dem Theaterbesuch anschließt, beschreibt Felix Krull eigene Schauspielerei. Um die Schule zu bummeln, spielt er "schulkrank". Ein Spiel vor Eltern und Hausarzt, "das jeden Augenblick durchaus meisterhaft sein musste, um nicht der Lächerlichkeit zu verfallen; eine gewisse Verzückung, die, zugleich Anspannung und Abspannung war, damit etwas Unwirkliches für mich und die anderen zur Wirklichkeit werde."

Unwirkliches zu scheinbarer Wirklichkeit werden zu lassen – darin sieht Thomas Manns eine Aufgabe der Kunst. "Wer je aus dem Nichts, aus der bloßen inneren Kenntnis und Anschauung der Dinge, kurz: aus der Phantasie, unter kühnster Einsetzung seiner Person eine zwingende, wirksame Wirklichkeit zu schaffen vermochte, der kennt die wundersame und träumerische Zufriedenheit, mit der ich damals von meiner Schöpfung ausruhte." [20]

Sorgfalt

Ein Bravourstück liefert Felix Krull während der Musterung zum Militär. Er spielt Arzt und Kommission einen epileptischen Anfall vor und bringt auch die dazu passende Anamnese (Krankengeschichte). Der Militärarzt hält Felix Krull für einen Epileptiker und mustert ihn aus.

Zitierenswert ist in diesem Zusammenhang die Vorbereitung Felix Krulls. Mit gleicher Sorgfalt ist auch sein Autor an die eigenen künstlerischen Leistungen herangegangen:

"Daß ich mit großer Genauigkeit, ja streng wissenschaftlich zu Werke ging und mich wohl hütete, die sich bietenden Schwierigkeiten für gering zu achten. Denn Dreinstolpern war nie meine Art, eine ernste Sache in Angriff zu nehmen; vielmehr habe ich stets dafür gehalten, dass ich gerade mit dem äußerstem, der gemeinen Menge unglaubhaftesten Wagemut kühlste Besonnenheit und zarteste Vorsicht zu verbinden habe, damit das Ende nicht Niederlage, Schande und Gelächter sei, und bin gut damit gefahren." [21]

Schein als Sein

Der Hochstapler Felix Krull hat seine ganze Existenz auf Schein und Wirkung gestellt. Während eines Zirkusbesuches erkennt er, dass er mit den waghalsigen Trapez-Akrobaten unter der Zirkuskuppel Vieles gemeinsam hat, dass er nicht, "wie alles Volk ringsumher, in schlaffem, blöden Genießen" zusieht, sonder kühl und professionell beobachten kann, "wie einer, der sich vom «Bau», vom Fach fühlt. Nicht vom circensischen Fach, vom Salto-mortale-Fach, natürlich, konnte ich mich fühlen, aber vom Fach im allgemeineren, vom Fach der Wirkung, der Menschenbeglückung und -bezauberung." [22]

Glückskindschaft

Er begreift sich als Künstler wie die Artisten auch. Wie sie lebt er gefährlich und erwirkt sich das Gefallen seiner Umgebung. So das eitle Selbstverständnis des hübschen, noch keine zwanzig Jahre alten Felix Krull. Seinen Narzissmus fasst Felix Krull in die Worte: "Ja, der Glaube an mein Glück und dass ich ein Vorzugskind des Himmels sei, ist in meinem Innersten stets lebendig geblieben, und ich kann sagen, dass er im Ganzen nicht Lügen gestraft worden ist." [23]

Ganz ähnlich hat sich Thomas Mann gesehen. Aus dem amerikanischen Exil, sein geglücktes Leben rechtfertigend, schreibt er an einen Freund im Nachkriegsdeutschland: "Ich bin eben gnädig geführt worden von einem Schicksal, das es zwar streng, darunter aber immer grund-freundlich mit mir meinte." [24]

  1. Thomas Mann am 25.11.1947 an Hermann Hesse
  2. am 10.9.1954 an Peter Baltzer
  3. Helmut Koopmann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. In: Thomas- Mann-Handbuch³. Stuttgart: Kröner 2001, S. 516
  4. Volkmar Hansen und Gert Heine (Hrsg.): Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955. Hamburg: Knaus 1983, S. 27
  5. am 3.10.1954 an Hermann Stresau
  6. 26.12.1950 – 16.4.1954 (Tagebücher)
  7. Thomas Mann am 24.11.1954 an Käte Hamburger
  8. am 3.8.1915 an Paul Amman
  9. Mann, Thomas: Rückkehr In: Altes und Neues. Prosa 1951 -1955. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1956, S. 194
  10. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1954, S. 10
  11. a. a. O. S. 9
  12. Thomas Mann Anfang März 1896 an Otto Grautoff (s. Briefe, S. Fischer 2002)
  13. Mann, Heinrich: Ein Zeitalter wird besichtigt. Stockholm: Neuer Verlag 1946, S. 233
  14. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1954, S. 47
  15. a. a. O. S. 37
  16. Der Teufel in Doktor Faustus tritt rothaarig auf. Die Femme fatale Gerda von Rinnlingen in Der kleine Herr Friedemann ist rothaarig, und die Todesboten in Der Tod in Venedig sind es ebenfalls.
  17. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1954, S.41
  18. Thomas Mann am 13.6.1910 an Samuel Lublinski. Die Verdächtigung des Künstlers als eine "Mischung aus Lucifer und Clown" findet sich bereits im Brief an den Bruder Heinrich vom 08.01.1904, in den vorbereitenden Notizen zu "Geist und Kunst" (1909 - 1912) und in "Der alte Fontane" (1910).
  19. Thomas Mann am 31.12.1953 an Ernst Steinbach
  20. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1954, S.48
  21. a. a. O. S. 103
  22. a. a. O. S. 228
  23. a. a. O. S. 15
  24. Thomas Mann am 16.9.1946 an Hans Reisiger


Gelegentliche Übereinstimmungen mit dem Wikipedia-Artikel "Der Tod in Venedig" beruhen auf der Identität des Verassers.

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