Adventskalender 2007: Türchen 8
36. Der Winter.[1] | ||
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Winter. | Bin ich denn etwa freudenleer? | |
Meinst du, mein Kind? O, nimmermehr! | ||
Ich lass’ dich schlitten, lass’ dich schleifen, | ||
Und willst du meinen Schnee angreifen, | ||
5 | So ist er wohl ein bischen kalt, | |
Doch findest sicherlich du bald, | ||
Daß sich ein Männchen, weiß und fest, | ||
Ganz herrlich daraus bauen läßt. | ||
Kind. | Wie kannst du auch so artig sprechen! | |
10 | Doch was du sagst, ist Alles wahr. | |
Laß nur kein Bein mich bei dir brechen; | ||
Denn allzu leicht bringst du Gefahr! | ||
Winter. | Nur nicht verwegen, liebes Kind, | |
Dann bleib’ ich freundlich dir gesinnt! | ||
Wilhelm August Corrodi | ||
Diese Reime sind ein Auszug aus Fünfzig Fabeln und Bilder aus der Jugendwelt von Wilhelm August Corrodi, einem schweizerischen Schriftsteller und Maler. Es handelt sich dabei um die 36. Fabel.
Davor hat das Kind mit den Jahreszeiten und noch vielen anderen Dingen und Menschen erzählt. Zu den Worten des Winters „Bin ich denn etwa freudenleer?“ kommt es folgendermaßen:
Das Kind hatte den Sommer wegen seiner schönen Kirschen gelobt; dann trat der Herbst auf den Plan und brachte ebenfalls Früchte – sogar noch mehr! „O, Keiner ist an Freuden leer!“ So endete das Gespräch mit dem Herbst: ein Lob an ihn und den Sommer, dass sie so schöne Früchte hervorbrachten. Dann setzt diese Fabel ein, indem sich der Winter ein bisschen gekränkt fühlt und dem Kind seine Vorzüge zeigt. Das Kind gibt dem Winter zwar recht, dass auch er Freude bereiten kann; jedoch gibt es zu bedenken, dass er ebenso Gefahren bringt. Dies möchte sich der Winter nicht nachsagen lassen und ermahnt das Kind zur Vorsicht, denn nicht er ist Schuld an den Gefahren, sondern die Verwegenheit, die Tolllust, der übermütige Spaß – des Kindes.
Und die Moral von der Geschicht': Sei nicht verwegen, dann nichts bricht.
(kleine) Analyse:
- Die Verse des Winters sind als Paarreime gedichtet, die Worte des Kindes hingegen als Kreuzreime. Die Reime sind sogenannte reine Reime. → Reim
- Diese Fabel ist in jambischen Versen gehalten:
- Ein Jambus ist ein zweisilbiger Versfuß. Er besteht aus einer unbetonten und einer betonten Silbe.
- Bis auf die Zeilen 3, 4, 9 und 11 haben alle Zeilen acht Silben. Sie sind reine vierhebige Jamben.
- Die Zeilen 3, 4, 9 und 11 haben jeweils neun Silben. Demnach können sie nicht nur aus Jamben bestehen – der letzte Versfuß in diesen Zeilen ist ein Amphibrachys. Er besteht aus einer unbetonten Silbe gefolgt von einer betonten und einer unbetonten.
Wieso steht dann oben aber, dass das Gedicht in jambischen Versen gehalten ist?
Weil dieser letzte Versfuß nicht den Rhythmus stört; die Linearität des Jambus (der Wechsel von Betonung und Nicht-Betonung) bleibt erhalten.
x → unbetonte Silbe 'x → betonte Silbe x 'x → Jambus x 'x x → Amphimakros x 'x x 'x x 'x x 'x ← die acht-silbigen Zeilen x 'x x 'x x 'x x 'x x ← die neun-silbigen Zeilen
- ↑ Auszug aus Wikisource der freien Quellensammlung (Fünfzig Fabeln und Bilder aus der Jugendwelt)
Das Türchen vom 7. Dez. | Das Türchen vom 9. Dez. |