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Latein/ Französische Aussprache/ Reform

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Die Reform der Lateinaussprache in Frankreich

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Das Wissen um den Lautstand des klassischen Lateins war spätestens seit Erasmus von Rotterdam allgemein bekannt.[1] Zudem trugen neuerliche Erkenntnisse der historischen Linguistik und der Altphilologie im 19. Jahrhundert dazu bei, dass in Frankreich immer mehr der Wunsch nach einer Reform der Lateinaussprache erwuchs.

Hinwendung zur klassischen Aussprache an den Universitäten und Schulen

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Die Befürworter der klassisch-restituierten Aussprache, allen voran der Altphilologe Éloi Ragon, empfanden die französische Lautung als obsolet und sahen in ihr ein klangliches Zerrbild, das der lateinischen Sprache nur unzureichend gerecht wird:

„Wenn man das Latein auf französische Art ausspricht, verschwindet der Laut [u] vollständig aus dem Lateinischen. Der Buchstabe U erhält in französischer Aussprache vier verschiedene Lautungen: ü [y], un [œ̃], o [ɔ], on [õ] (Deus [de.ys], tunc [tœ̃k], Deum [de.ɔm], defuncti [de.fõk.ti]). Und wenn wir nunquam mit dem Klang des nasalen o [õ] wie in dem alten (französischen) Wort « onc » aussprechen, ist es dann logisch, derselben Silbe in nunc und tunc den Klang des nasalen u [œ̃] zu geben, obwohl viele Leute nicht wissen, ob man defunctus wie unser Wort « défunt » [de.fœ̃] oder wie unser Wort « fonction » [fõk.sjõ] aussprechen soll.“[2]
„Ist es wirklich von Vorteil, keinen Ausspracheunterschied zwischen possint und possent [pɔ.sɛ̃t], legerint und legerent [le.ʒe.ʁɛ̃t], fugerint und fugerent [fy.ʒe.ʁɛ̃t] usw. zu machen?“[3]

Spätestens ab 1914 wurde an den Universitäten eine klassisch-restituierte Lateinaussprache verbindlich, die dem damaligen Forschungsstand der historischen Linguistik entsprach (prononciation à la cicéronienne).[4] Diese hielt nach dem Ersten Weltkrieg in „gemäßigter“ Form auch an den Schulen Einzug, bei denen sie die traditionelle Lateinaussprache verdrängte,[5] während im kirchlichen Gebrauch allmählich die italienische Aussprache an ihre Stelle trat.[6]

Die Reformdebatte an den Universitäten wurde auch von französischen Musikzeitschriften verfolgt. Allerdings war die Berichterstattung längere Zeit von der Unklarheit geprägt, was genau unter der prononciation classique, dite « restituée »[7] zu verstehen sei. Einige Kantoren und Musikwissenschaftler sprachen sich einhellig für die Verwendung der wissenschaftlich rekonstruierten Aussprache in der kirchenmusikalischen Praxis aus und waren gegen die Einführung der italienischen Aussprache:

„Es geht überhaupt nicht darum, die italienische Aussprache zu übernehmen. Hier und da wird das sogar schon gemacht, und man bildet sich ein, dass dies damit getan sei, Dominous [ˈdɔ.mi.nus] statt Dominus [dɔ.mi.nys], Tchelis [ˈʧɛ.lis] statt Cœlis [se.lis], inntennde [inˈtɛn.dɛ] statt intende [ɛ̃.tɛ̃.de] auszusprechen. Wichtiger wäre es, die Schüler daran zu gewöhnen, den (lateinischen) Wortakzent zu beachten. Der Franzose berücksichtigt ihn gar nicht, und wenn, dann setzt er ihn im Lateinischen wie im Französischen auf die letzte Silbe. Genau deshalb ist unsere Lateinaussprache so haarsträubend und abscheulich.“[8]
„Die Lateinaussprache auf italienische Art ist genauso fehlerhaft wie die Aussprache auf französische oder englische Art. Ganz anders ist die wissenschaftliche Aussprache, die auf unumstößlichen Fundamenten ruht. Warum werden unsere lateinischen Texte nicht in der restituierten Aussprache gelesen, rezitiert und gesungen?“[9]

Übernahme des italienischen Lautmodells in der Kirche

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1903 schrieb Papst Pius X. in seinem Motu proprio Tra le sollecitudini über die Behandlung des lateinischen Texts im liturgischen Gesang:

„Der liturgische Text soll so gesungen werden, wie er in den Büchern steht, ohne Veränderung oder Umstellung von Wörtern, ohne unerlaubte Wiederholungen, ohne die Silben zu verstümmeln und stets in einer Vortragsweise, die von der zuhörenden Gemeinde verstanden wird.“[10]

Der Papst ordnete mit diesem Satz keineswegs die italienische Lateinaussprache an. Aber seine Forderung nach Texttreue und Verständlichkeit kann durchaus so interpretiert werden, zumal die französische Lateinaussprache in gewisser Hinsicht tatsächlich Silben „verstümmelt“ (→ Nasalierung) und in vielen Punkten der weitaus klareren italienischen Lautung unterlegen ist.[11] Tatsache ist, dass die Mönche der berühmten Benediktinerabtei Saint-Pierre zu Solesmes den Anfang machten und nach ihrer Herausgabe der Editio Vaticana (1905) damit begannen, im gregorianischen Choral die italienische Aussprache zu verwenden.[12] Damit bekundeten sie ihre Verbundenheit mit Rom und verwarfen zugleich die französische Lateinaussprache, deren Nachteile für das Textverständnis wegen der zahlreichen Lautnivellierungen und Vokalvertauschungen auf der Hand lagen.

„Die katholische Kirche hat sich die lateinische Sprache zu eigen gemacht. Es muss also das größtmögliche getan werden, damit das Lateinische in gesprochener und geschriebener Form einheitlich ist. Dem sei hinzugefügt, dass der Gregorianische Choral durch die korrekte Aussprache des Lateinischen alle Harmonie, Geschmeidigkeit und seine einstige Vielfalt wiederfinden wird. Die geschmackvoll hervorgehobene, betonte Silbe wird der Melodie mehr Anmut und Reiz verleihen. Die liturgischen Hochämter werden allerorts größere Einheit und Würde ausstrahlen, wenn sie in derselben Aussprache zelebriert werden.“[13]

Gerade in den Jahren nach der endgültigen Trennung von Kirche und Staat (1905), auf die Papst Pius X. mit seiner Enzyklika Une fois encore (1907) scharf reagierte und den französischen Geistlichen seinen Trost und Beistand aussprach, strebte die Kirche Frankreichs die unification romaine an, die „Vereinigung mit Rom“.[14] Und ein Ausdruck dieses Strebens war die Einführung der italienischen Lateinaussprache, die in der Folge gerne prononciation à la romaine genannt wurde. Allerdings sollte es noch mehr als drei Jahrzehnte dauern, bis diese Aussprache vollkommen etabliert war:

„Nachdem der Anlauf genommen war, setzte sich die Reform – später von der Nuntiatur unterstützt – allmählich in allen Diözesen Frankreichs durch, mit Ausnahme von Cambrai und von Dijon. Die eifrigsten Vorstreiter der phonetischen Erneuerung konnten leider nicht immer ihre guten Absichten erfolgreich mit der italienischen Lateinaussprache in Einklang bringen. Und in wie vielen Kirchen hört man noch heute (1938) ein scheußliches Gemisch aus der italienischen und der alten französischen Lautung!“ [15]

Die heutige Situation

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Die Reform an den Universitäten und Schulen verlief ohne größere Probleme, in den französischen Kirchen hingegen war sie ein langwieriger Prozess. So wurden z.B. noch Anfang der 1930er Jahre auf Betreiben der Freunde der französischen Lateinaussprache in Paris zwei Messen in französischer Lateinaussprache gelesen und gesungen, die freilich den Siegeszug der Aussprache à la romaine nicht aufzuhalten vermochten.[16] Erst zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die alte französische Lautung endgültig aus dem gottesdienstlichen Gebrauch verschwunden, und auch das romanisierende Latein wurde seinerseits nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil von der Landessprache Französisch abgelöst. Wenn heute in französischen Gottesdiensten lateinische Gesänge gesungen oder lateinische Messen, Motetten, Kantaten und Oratorien aufgeführt werden, so erklingen sie stets auf italienische Art.

Dessen ungeachtet werden in der Alltagssprache lateinische Lehnwörter und Fachausdrücke nach wie vor französisch gelautet, da sie genau genommen keine lateinischen Wörter mehr sind, sondern französische: curriculum vitæ [ky.ʁi.ky.lɔm vi.te], cæcum [se.kɔm], fœtus [fe.tys], exequatur [ɛɡ.ze.kwa.tyʁ], vadémécum [va.de.me.kɔm], u.v.m.

Wiederbelebung durch die Historische Aufführungspraxis

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Seit den 1990er Jahren kam es in Frankreich zu einer kleinen Renaissance der alten Lateinaussprache, als führende Ensembles der Alten Musik im Interesse der historisch informierten Aufführungspraxis damit begannen, sie in Aufführungen von kirchenmusikalischen Werken der französischen Barockzeit zu verwenden, z.B. Les Arts Florissants unter William Christie, Le Concert Spirituel unter Hervé Niquet, Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset, Le Poème Harmonique unter Vincent Dumestre u.a.

Allerdings beschränkt sich die Verwendung hauptsächlich auf Komponsitionen von Lully, Charpentier, Campra, Couperin und Rameau, u.a. Obwohl bis ins 20. Jahrhundert die Kirchenmusik von Cherubini, Rossini, Berlioz, Fauré, Saint-Saëns und Poulenc in der traditionellen Lateinaussprache aufgeführt wurde, scheint diese heutzutage noch nicht etabliert zu sein (es gibt einige Ausnahmen wie z.B. das Requiem von G. Fauré unter der Leitung von Ph. Herreweghe).[17] Besonders hervorgehoben sei aber Francis Poulenc, da er genau in der Zeit der Reformen lebte und lateinische Wörter bei der Vertonung gerne französisch akzentuierte (Endsilben auf betonten Zählzeiten). Daraus darf man folgern, dass Poulenc seine geistlichen Werke nicht in italienischer Lautung hören wollte, wie sie zu seiner Zeit in Frankreich neu war, sondern in traditionell französischer Aussprache.

Zudem seien im Opernbereich die lateinischen Studentenlieder und Gebete in Berlioz’ La Damnation de Faust und der Eingangschor „Te Deum laudamus“ in Halévys La Juive erwähnt.

Einzelnachweise

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  1. De recta Latini Græcíque sermonis pronuntiatione Desiderii Erasmi Roterodami Dialogus, Paris 1528, 1536 und 1643
  2. Éloi Ragon, in: La Musique Sacrée, Revue mensuelle de plain-chant et de musique religieuse, 6. Jahrgang, Nr. 8-9 (August/September 1907), S. 34f.: « … si on prononce le latin à la française, le son ou … disparaît complètement du latin … La lettre u prononcée à la française reçoit quatre prononciations diverses : ü, un, o, on (Deus, tunc, Deum, defuncti) … Et puisque nous disons nunquam avec le son de o nasal comme dans le vieux mot onc, est-il logique de donner le son u nasal à la même syllabe dans nunc et tunc, si bien que beaucoup de gens ne savent s’il faut dire defunctus comme notre mot défunt, ou defunctus, comme notre mot fonction. »
  3. Éloi Ragon, in: La Musique Sacrée, Revue mensuelle de plain-chant et de musique religieuse, 6. Jahrgang, Nr. 8-9 (August/September 1907), S. 34: « … est-il sans inconvénient de ne mettre aucune différence de prononciation entre possint et possent, legerint et legerent, fugerint et fugerent, etc. ? »
  4. Schallplattenaufnahme vom 5. Februar 1913 (Université de Paris, Archives de la Parole, Nr. O.113: Mr. Alcide Macé, professeur à la Faculté des Lettres de Rennes, a proposé le système de prononciation latine accepté par la Faculté des Lettres de Rennes, avec un exemple tiré du Brutus), aufbewahrt in der Bibliothèque Nationale de France (Département audiovisuel, Signum AP-45). In diesem Tondokument wird den Studenten vorgeschrieben, dass ab Juni 1914 die klassisch-restituierte Aussprache des Lateins verwendet werden soll. Explizit wird gefordert, die Silben AM, AN, EM, EN, IN usw. « sans nasaliser » (ohne Nasalierung) auszusprechen; ebenso sollen « U consonne » immer als [u] und G, S in allen Fällen [ɡ], [s] gelautet werden.
  5. Paul Crouzet, Grammaire Latine simple et complète, Toulouse-Paris 1906, S. 3f. Darin werden folgende Ausspracheangaben gemacht: u, v immer wie [u] in outre ; y wie [y] in urne ; ae wie [ɛ] in ère ; oe wie [œ] in peur ; i, j immer wie [i] in immense ; c immer wie [k] in casse ; g immer wie [ɡ] in gamme ; t immer wie [t] in table ; s immer wie [s] in salle.
  6. Joseph Brugerette, Le Prêtre français et la société contemporaine, Paris 1938, S. 628: « C’est surtout après la guerre que cette nouvelle prononciation se généralisa dans tous les diocèses de France. »
  7. Léon Préchantre, in: La Musique Sacrée, Revue mensuelle de plain-chant et de musique religieuse, 10. Jahrgang, Nr. 4 (April 1911), S. 14.
  8. Joseph Burnichon, in: La Musique Sacrée, Revue mensuelle de plain-chant et de musique religieuse, 7. Jahrgang, Nr. 10 (Oktober 1908), S. 37: « Il ne s’agit point du tout d’adopter la prononciation italienne. On le fait déjà ici ou là, en s’imaginant que cela consiste à prononcer Dominous au lieu de Dominus, Tchelis au lieu de Cœlis, inntennde au lieu de intende … Ce qui importerait … serait d’accoutumer les élèves à marquer l’accent ; le Français n’en tient nul compte, ou plutôt, il le place en latin comme en français sur la dernière syllabe ; voilà en quoi notre prononciation du latin est odieuse et horripilante … »
  9. Th. de Rifbonnet, in: La Musique Sacrée, Revue mensuelle de plain-chant et de musique religieuse, 7. Jahrgang, Nr. 10 (Oktober 1908), S. 37f.: « La prononciation du latin à l’italienne est aussi défectueuse … que la prononciation à la française ou à l’anglaise. Toute autre est la prononciation scientifique … [qui] repose sur des fondements indiscutables … pourquoi nos textes latins ne seraient-ils pas lus, récités, chantés avec la prononciation dite restituée ? »
  10. Pius X., Tra le sollecitudini, III. 9.: “Il testo liturgico deve essere cantato come sta nei libri, senza alterazione o posposizione di parole, senza indebite ripetizioni, senza spezzarne le sillabe e sempre in modo intelligibile ai fedeli che ascoltano.”
  11. Joseph Brugerette, Le Prêtre français et la société contemporaine, Paris 1938, S. 630: « … le Pape n’aurait, en réalité, rien ordonné, il n’aurait exprimé qu’un désir très compréhensible, d’ailleurs, de la part du restaurateur du chant grégorien. »
  12. La Musique Sacrée, Revue mensuelle de plain-chant et de musique religieuse, 6. Jahrgang, Nr. 8-9 (August/September 1907), S. 34
  13. Th. de Rifbonnet, in : La Musique Sacrée, Revue mensuelle de plain-chant et de musique religieuse, 8. Jahrgang, Nr. 10 (Oktober 1909), S. 38ff.: « L’Eglise catholique a adopté la langue latine … Il faut donc autant que possible que le latin soit un sous sa forme orale, comme sous sa forme écrite. Ajoutez à cela que le plain-chant retrouvera, avec la prononciation correcte du latin, toute l’harmonie, la souplesse et la variété d’autrefois. La syllabe accentuée bien mise en relief, donnera à la mélodie plus de grâce et de charme. Les offices liturgiques, célébrés partout avec une même prononciation, présenteront plus d’unité et de majesté … »
  14. Joseph Brugerette, Le Prêtre français et la société contemporaine, Paris 1938, S. 628ff.
  15. Joseph Brugerette, Le Prêtre français et la société contemporaine, Paris 1938, S. 631: « L’élan était donné, la réforme, appuyée plus tard par la nonciature, se généralisa peu à peu dans tous les diocèses de France, à l’exception de ceux de Cambrai et de Dijon … Les plus zélés partisans de l’innovation phonétique ne réussirent pas toujours malheureusement à accorder leur bonne volonté avec les règles de la prononciation italienne du latin. Et dans combien d’églises, encore aujourd’hui, la prononciation du latin se traduit par un odieux mélange de la prononciation italienne et la vieille prononciation française ! »
  16. Joseph Brugerette, Le Prêtre français et la société contemporaine, Paris 1938, S. 631: « Sur l’initiative des Amis de la prononciation française du latin, deux messes furent chantées à la française, la première à l’église de la Sorbonne, le 28 mai 1930, sous la direction de M. Maurice Emmanuel, la seconde à Notre-Dame, le 20 septembre 1931, par la Lyre de Douai, et sous la direction de M. Allouchery. »
  17. Aufnahme des Requiem von Fauré https://www.harmoniamundi.com/#!/albums/484