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Spezielle Relativitätstheorie: Teil I

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Eine (fast) allgemeinverständliche Einführung

Eine aktualisierte und korrigierte Fassung (pdf) finden Sie hier:[1]


Einführung

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Vorgeschichte

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Etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts an sammelten sich in der Physik einige Beobachtungsergebnisse an, die für die »klassische Physik« unerklärlich oder sogar widersprüchlich waren. Bei diesen Beobachtungen ging es stets um die Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum oder in bewegten durchsichtigen Medien (z. B. Wasser), oder um den Zusammenhang zwischen elektrischen und magnetischen Feldern, wie er von den Maxwellschen Gleichungen beschrieben wird. Ganz unverständlich war das Ergebnis eines von Michelson und Morley im Jahre 1887 mit hoher Präzision durchgeführten Experiments. Michelson wollte die Geschwindigkeit messen, mit der sich die Erde im »Lichtäther« bewegt. (Der Lichtäther war nach damaliger Auffassung das Medium, in dem sich das Licht ausbreitet, also der »Träger« der Lichtwellen und des elektromagnetischen Feldes, aus dem diese bestehen.)

Man kann auch sagen, der Michelson-Versuch sollte die Geschwindigkeit der Erde im »absoluten Raum« bestimmen. Der absolute Raum galt als der mit Lichtäther erfüllte, aber sonst absolut leere Urgrund des Weltalls.

Auch alle späteren Wiederholungen des Michelson-Versuchs, die mit noch höherer Präzision und Empfindlichkeit durchgeführt wurden, schlugen fehl. Dies deutete darauf hin, dass an den Vorstellungen des Lichtäthers und der »absoluten Bewegung« – der Bewegung eines Körpers relativ zum absoluten Raum – etwas nicht stimmte. Das mag recht harmlos klingen, war aber für die Physiker ein schweres Ärgernis, denn hier ging es um grundlegende Vorstellungen. Dass dieses Ärgernis um die Wende zum 20. Jahrhundert noch immer nicht behoben war, machte es nur noch schlimmer.

Da entdeckte Albert Einstein, damals gerade 25 Jahre alt, dass sich alle diese Schwierigkeiten beheben ließen, wenn man auf die Vorstellung des Lichtäthers verzichtet und annimmt, dass die Lichtgeschwindigkeit für die Beobachter in allen Bezugssystemen (siehe folgende Anmerkungen) dieselbe ist.

Anmerkungen:

  1. Mit »Lichtgeschwindigkeit« ist im Folgenden immer die Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum gemeint. Sie beträgt 299 792,458 km/s, also fast 300 000 km/s = 300 m/µs.
  2. Unter einem Bezugssystem versteht man eine Basis für physikalische Messungen, hier insbesondere für die Messung der Lichtgeschwindigkeit. Ein Bezugssystem kann zum Beispiel ein Teil der Erdoberfläche oder die Erde als Ganzes sein, aber auch ein Schiff, ein Zug, ein Satellit, ein Labor, ein Raumfahrzeug, der Mond, usw.

Das Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und der „gesunde Menschenverstand“

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Die von Einstein zur Lösung der Schwierigkeiten vorgeschlagene Annahme, die Lichtgeschwindigkeit wäre in allen Bezugssystemen gleich, nannte er das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Dieses Prinzip ist gleichbedeutend mit der Annahme, alle Bezugssysteme wären gleichberechtigt. Dieses Prinzip scheint auf den ersten Blick recht harmlos zu sein – aber der Schein trügt hier gewaltig:

Erstens bedeutet es den Verzicht auf jede Hoffnung, jemals die Geschwindigkeit eines Körpers (oder eines Bezugssystems) im absoluten Raum – also seine absolute Geschwindigkeit – messen zu können. Das bedeutet zugleich, dass man die Vorstellung des absoluten Raumes überhaupt aufgeben müsste, weil dieser dann prinzipiell nicht nachweisbar wäre.

Zweitens - und dies ist ein ganz konkreter Einwand – erscheint die Vorstellung geradezu absurd, ein Lichtstrahl könnte sich zwei Beobachtern mit derselben Geschwindigkeit nähern (oder sich von ihnen entfernen), auch wenn der eine sich in Richtung des Lichtstrahls bewegte, der andere aber in entgegengesetzter Richtung.

 

Den Teufel mit Beelzebub austreiben?

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Es sah demnach wirklich so aus, als wollte Einstein den Teufel mit Beelzebub austreiben, denn das Ärgernis, das nun entstand, schien weitaus größer zu sein als das, welches er beheben wollte. Das soll im Folgenden an einigen ausgewählten Beispielen gezeigt werden. Dabei benutze ich immer zwei relativ zueinander bewegte Bezugssysteme, von denen aus die Ausbreitung von einem oder zwei Lichtstrahlen beobachtet werden soll. Dazu brauchen die Beobachter in den beiden Bezugssystemen im Prinzip lediglich hinreichend genaue Längen- und Zeitmessgeräte.

Die Beobachter in den beiden Bezugssystemen sollen aber nicht nur die Lichtgeschwindigkeit in ihrem eigenen Bezugssystem messen, sondern auch – und darum brauchen wir zwei Bezugssysteme – gleichsam von außen die Messungen im jeweils anderen System und die dort benutzten Maßstäbe und Uhren beobachten.

Als Bezugssysteme – wir nennen sie S und S' – denken wir uns zum Beispiel zwei sehr lange Raumschiffe, in denen sich jeweils ein Maßstab und genügend viele Präzisionsuhren befinden. Die beiden Maßstäbe nennen wir die X-Achse bzw. X’ -Achse; ihre „Ursprünge“ (das sind die Nullpunkte der sich nach beiden Seiten erstreckenden Maßstäbe) nennen wir O (nach lat. origo = Ursprung) und O’ . Die beiden Maßstäbe stellen je ein einachsiges, eindimensionales Koordinatensystem dar.

Wir vereinbaren nun das Folgende, das künftig immer dann gelten soll, wenn wir vom »Ausgangszustand« sprechen: Das System S’ bewege sich relativ zum System S mit der Geschwindigkeit v nach rechts (= Richtung der +X-Achse). Natürlich kann man genau so gut sagen, das System S bewege sich relativ zu S’ mit der Geschwindigkeit v nach links. (Mehr lässt sich über die Bewegung der beiden Systeme nicht sagen. Die Frage, welches sich denn »wirklich« bewege, ist sinnlos, weil es eine »wirkliche« – das soll heißen: absolute – Bewegung nicht gibt.)

Wenn die beiden Ursprünge O und O’ sich gerade einander gegenüber befinden, sollen die Beobachter in den beiden Systemen ihre Uhren auf null stellen.

Die folgende Abbildung zeigt die beiden Bezugssysteme im Ausgangszustand, und zwar auf das Wesentliche reduziert, nämlich auf die Koordinatenachsen und einige Uhren. Dabei ist die Anzeige der Uhren so dargestellt, wie sie ein Beobachter im »eigenen« Bezugssystem wahrnimmt.



Abb. 2: Zwei Bezugssysteme im Ausgangszustand


Wenn wir die beiden Bezugssysteme zu einem etwas späteren Zeitpunkt darstellen wollen, ist es einfacher und daher zweckmäßig, eines der beiden Systeme als in der Zeichenebene ruhend und das andere als relativ dazu bewegt darzustellen. Die Wahl ist uns freigestellt, jedoch sollten wir daran denken, dass wir damit nicht über die absolute Ruhe und die absolute Bewegung der Systeme befinden – keines von beidem gibt es.

Von der Relativbewegung der beiden Systeme können wir natürlich nur eine »Momentaufnahmen« machen, die jeweils eine bestimmte momentane Situation zeigen. Je nach Wahl sieht der Zustand der beiden Bezugssysteme nach einer gewissen Zeit so aus:



Abb. 3: Die Relativbewegung der beiden Systeme
Oben: Beobachter in S; Unten: Beobachter in S'

 

Einige Konsequenzen des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit

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Erstes Gedankenexperiment

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Wir stellen uns vor, dass in der oben beschriebenen Ausgangsposition im Punkt O (und somit auch in O' ) ein Blitz durch die beiden Bezugssysteme hindurchschlage. Die Relativgeschwindigkeit der beiden Systeme sei v = 100 000 km/s = 100 m/µs. (1 µs = 1 Mikrosekunde = 1 Millionstelsekunde) Auch hier müssen wir eine so große Geschwindigkeit wählen, damit das Problem deutlich wird. (Selbst bei den Geschwindigkeiten, wie sie heute in der Raumfahrt erreicht werden, wären die Effekte gar nicht darstellbar.)


Abb. 4: Ein Blitz schlägt ein

Der Blitzeinschlag werde von weiter rechts stehenden Beobachtern registriert, die aus ihrem Abstand von O bzw. O' und aus der Laufzeit des Lichtimpulses, der von dem Blitz ausgegangen ist, die Lichtgeschwindigkeit berechnen. Wenn wir annehmen, dass für einen Beobachter im System S die Lichtgeschwindigkeit 300 000 km/s = 300 m/µs beträgt, dann stellt sich für ihn die Situation nach 1 Mikrosekunde so dar:


Abb. 5: Beobachter in S, t = 1 µs

Der Lichtimpuls hat nun einen Punkt A erreicht, der 300 m von O entfernt ist. Der Beobachter berechnet daraus nach der Formel

Geschwindigkeit = Weg:Zeit

die Lichtgeschwindigkeit c = 300 m:1 µs = 300 m/µs = 300 000 km/s. Das ist der erwartete Wert.

Aber was sieht der Beobachter, wenn er in das System S' hinüberschaut?

Das System S' hat sich seit dem Blitzeinschlag um 100 m nach rechts bewegt, und der Punkt A ist vom Punkt O' nur 200 m entfernt. (Beachten Sie, dass im System S' der Blitz in O' eingeschlagen hat!) Demnach würde die Lichtgeschwindigkeit in S' nur 200 m/µs = 200 000 km/s betragen.

Und wie stellt sich der Vorgang für einen Beobachter in S' dar, wenn wir gemäß dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit annehmen, dass auch im System S' die Lichtgeschwindigkeit 300 m/µs beträgt?


Abb. 6: Beobachter in S' , t’ = 1 µs

Nach 1 Mikrosekunde hat der Lichtimpuls den Punkt A' erreicht, der von O' 300 m entfernt ist. Für den Beobachter in S' ergibt sich daraus die erwartete Lichtgeschwindigkeit von 300 000 km/s. Doch ein Blick ins System S zeigt ihm, dass sich der Punkt O – das ist der Einschlagpunkt des Blitzes im System S – inzwischen 100 m nach links bewegt hat und die Entfernung OA' daher 400 m beträgt. Daraus ergibt sich die Lichtgeschwindigkeit zu 400 000 km/s.

Es scheint also, als wäre das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nicht aufrecht zu erhalten. Aber Einstein hat sich nicht so schnell entmutigen lassen.

Welche Möglichkeiten gibt es nun, das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu retten? Wir könnten annehmen:

1. Die Beobachter irren sich bei der Berechnung der Strecken O'A bzw. OA' , die sich relativ zum Beobachter bewegen.

2. Die Beobachter irren sich hinsichtlich der Laufzeit des Lichtimpulses im jeweils anderen System, indem sie annehmen, sie betrage – genau wie im eigenen System – 1 Mikrosekunde.

3. Die Beobachter irren sich in beidem.


Doch: Ist so etwas vorstellbar? Ist nicht jede dieser Möglichkeiten absurd? Wenn das der Preis sein soll für die Lösung der früher erwähnten Schwierigkeiten in der Physik, ist dann dieser Preis nicht entschieden zu hoch? Sollen wir nicht lieber das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit fallen lassen?

Ich möchte Sie bitten, sich noch etwas zu gedulden und mit mir zunächst ein weiteres Gedankenexperiment zu machen, das die Sache freilich eher noch verschlimmert – sofern das überhaupt möglich ist.

 

Zweites Gedankenexperiment

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Wir betrachten wieder die beiden Bezugssysteme in der Ausgangssituation und stellen uns vor, dass in diesem Moment gleichzeitig zwei Blitze einschlagen, und zwar in den Punkten A und B (im System S) bzw. A' und B' (im System S' ), die 300 m rechts bzw. links von O und O' liegen. Wir beobachten nun die Lichtimpulse, die von den beiden Blitzen auf O und O' zulaufen.


Abb. 7: Zwei Blitze schlagen ein

Die von diesen Blitzen ausgehenden Lichtimpulse treffen nach 1 µs in der Mitte zusammen. Aber: In der Mitte von A und B oder in der Mitte von A' und B' ? Je nach Standort des Beobachters hat sich nämlich inzwischen das System S' um 100 m nach rechts bewegt oder das System S um 100 m nach links – und mit dem System auch die Einschlagpunkte der Blitze. Das sieht dann so aus:


Abb. 8: Die beiden Lichtimpulse treffen sich in der Mitte. Beobachter in S

 


Abb. 9: Die beiden Lichtimpulse treffen sich in der Mitte. Beobachter in S'

Dies sind zwei ganz unterschiedliche, anscheinend widersprüchliche und nicht zu vereinbarende Befunde: Die Lichtimpulse begegnen einander nur für jeweils einen Beobachter in der Mitte, für den anderen Beobachter haben sie unterschiedlich lange Wege zurückgelegt. Wenn wir darauf bestehen, dass die Lichtgeschwindigkeit in beiden Bezugssystemen und für alle Lichtimpulse dieselbe ist, dann bedeuten unterschiedlich lange Wege der Lichtimpulse auch unterschiedlich lange Laufzeiten. Und dies wiederum bedeutet, dass sie – für den betreffenden Beobachter – nicht gleichzeitig gestartet sind.

Daraus folgt, dass die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse keine absolut gültige Eigenschaft ist. Wenn zwei Ereignisse für einen Beobachter gleichzeitig sind, kann für einen anderen Beobachter das eine der beiden Ereignisse früher oder später als das andere stattgefunden haben, je nach der Richtung der Bewegung des zweiten Beobachters relativ zum ersten. Diese Tatsache wird als die »Relativität der Gleichzeitigkeit« bezeichnet. Sie steht in schroffem Gegensatz zur Auffassung der klassischen Physik, wonach die Zeit ein von äußeren Einflüssen unabhängiges Phänomen ist. Isaac Newton hatte diese Auffassung 1687 so ausgedrückt: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.« Das würde bedeuten, dass die Zeit in allen Bezugssystemen und für alle Beobachter – unabhängig von deren Relativbewegung – gleich schnell abliefe und dass zwei Ereignisse, die für irgendeinen Beobachter gleichzeitig stattfinden, auch für jeden anderen gleichzeitig wären.

Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist also nicht so unproblematisch, wie es zunächst aussah. Wenn wir daran festhalten wollen, müssen wir ungeheure Konsequenzen in Kauf nehmen. Zwar beseitigt es einerseits unerträgliche Widersprüche, beschert uns aber andererseits gewaltige Umwälzungen in den Grundlagen der Physik, in unseren Vorstellungen von Raum und Zeit.

Was ist in einem solchen Fall zu tun? Nun, man wird die neue Hypothese sehr sorgfältig auf alle ihre Konsequenzen hin überprüfen und dann untersuchen, ob sich diese in der Realität nachweisen lassen. Das ist inzwischen längst geschehen, und seit langem ist die Spezielle Relativitätstheorie unter allen Theorien der Physik diejenige, deren Aussagen mit dem größten Aufwand und der größten Präzision überprüft wurden. Und alle diese Überprüfungen haben sämtliche Aussagen und Konsequenzen der Theorie aufs Genaueste bestätigt. Es gab folglich keine andere Möglichkeit, als sich an den Umbau der Grundlagen der Physik, an die Umgestaltung ihrer Auffassungen von Raum und Zeit zu machen. Wir wollen versuchen, dies nachzuvollziehen. Das geht allerdings nicht ganz ohne Mathematik. Doch keine Angst! Bei den Grundlagen der Speziellen Relativitätstheorie kommt man mit erstaunlich wenig Mathematik aus – ein bisschen ganz elementare Algebra tut's schon.

 

Die Revolution der Physik beginnt bei einigen Gleichungen

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Betrachten wir wieder unsere beiden Bezugssysteme S und S' . Die Ausgangsbedingungen seien wie oben: Das System S' bewege sich relativ zu S mit der Geschwindigkeit v nach rechts oder – was dasselbe ist – das System S relativ zu S' mit der Geschwindigkeit v nach links. Zur Zeit t = 0 sollen die Nullpunkte O und O' der Achsen gerade einander gegenüberstehen.



Abb. 10: Zwei relativ zueinander bewegte Bezugssysteme

Zu irgendeiner Zeit t hat sich das System S' relativ zu S um die Strecke s = v t nach rechts verschoben (oder das System S relativ zu S' um die gleiche Strecke nach links). Und nochmals: Keine Angst! Die soeben benutzte physikalische Formel

s = v t   oder in Worten:   Weg = Geschwindigkeit mal Zeit

ist die einzige, die wir benötigen.

Betrachten wir nun die relativ zueinander verschobenen Systeme:


Abb. 11: Die beiden Bezugssysteme zur Zeit t

Irgendein Punkt P habe im System S die Koordinate x und im System S' die Koordinate x' . Wie man sehen kann, ist dann:

x' = x - v t   und umgekehrt:   x = x' + v t

Diese simplen Gleichungen haben den feierlichen Namen Galilei-Transformationen. Sie dienen dazu, Ortskoordinaten aus dem einen System in das andere zu »transformieren«. In schlichtem Deutsch: Man kann damit aus der Koordinate x (die der Punkt P im System S hat) die Koordinate x' berechnen (die derselbe Punkt im System S' hat) und umgekehrt.

Für die klassische Physik gilt in beiden Systemen selbstverständlich dieselbe Zeit, daher steht in beiden Gleichungen ganz rechts dieselbe Größe t.

Dass diese Gleichungen nicht länger gelten können, wenn wir das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit einführen, versteht sich nach den früher angestellten Gedankenexperimenten fast von selbst. Aber probieren wir es doch einmal aus:

Ein Lichtstrahl, der zur Zeit t = 0 im Nullpunkt der beiden Systeme mit der Geschwindigkeit c nach rechts startet, hat zur Zeit t einen Punkt P erreicht, der

im System S die Koordinate x = c t und
im System S' die Koordinate x' = c t hat,

wenn wir daran festhalten, dass der Lichtstrahl in beiden Systemen dieselbe Geschwindigkeit c hat. Er legt dann in einer bestimmten Zeit t in beiden Systemen gleiche Strecken zurück.

Da die Terme auf der rechten Seite der beiden Gleichungen identisch sind, müsste x = x’ sein, was offensichtlich falsch ist.

Was ist zu tun? Sicher müssen wir die Galilei-Transformationen durch andere ersetzen. Doch woher bekommen wir diese? (Die folgende Herleitung kann ohne Schaden für das Verständnis des Späteren übergangen werden.)

Um komplizierte Rechnungen zu vermeiden, benutzen wir ein Verfahren, das in der höheren Mathematik häufig angewendet wird: Wir bringen die Intuition – das durch Fantasie, Kenntnisse und Erfahrungen geleitete Raten – ins Spiel. Vornehmer ausgedrückt: Wir »machen einen Ansatz« und probieren dann aus, ob und unter welchen Bedingungen wir damit durchkommen. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen und dann dieses testen.

Versuchen wir es einmal mit dem denkbar einfachsten Ansatz: Vielleicht genügt es schon, wenn wir auf der rechten Seite der Galilei-Transformationen irgendeinen Faktor k einführen. Wenn wir dabei nicht auf einen Widerspruch stoßen, werden wir versuchen auszurechnen, welchen Wert dieser Faktor haben muss. Eines jedenfalls ist dabei sicher: Wegen der von uns geforderten Gleichberechtigung der beiden Systeme muss der Faktor in beiden Gleichungen derselbe sein. Und noch etwas: Natürlich dürfen wir nicht mehr naiverweise annehmen, dass in beiden Systemen dieselbe Zeit gilt. Vielmehr müssen wir damit rechnen, dass im System S' eine andere Zeit gilt, die wir t' nennen wollen.

Dann lautet unser Ansatz:

(1)   x' = k(x - v t);     (2)   x = k(x' + v t').

Nun soll das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gelten. Dann muss – ähnlich wie oben, jedoch nun mit der Zeit t' in der zweiten Gleichung – gelten:

x = c t   und   x' = c t'

Dabei sind – um es noch einmal zu sagen – x und x' die Koordinaten eines Punktes P, der von einem zur Zeit t = t' = 0 im (seinerzeit gemeinsamen) Ursprung gestarteten Lichtblitz zu irgendeinem Zeitpunkt erreicht wird. Zu diesem Zeitpunkt gehört in S der Wert t, in S' aber der Wert t' . Also sind x und t einerseits, x' und t' andererseits zusammengehörige Werte der Ortskoordinaten und der Zeit, für welche folglich die Gleichungen (1) und (2) gelten.


In die Gleichungen (1) bzw. (2) eingesetzt:

In (1): Aus x' = k(x - v t) wird: c t' = k(c t - v t), woraus folgt:

t'= k t (1 – v/c) und schließlich:

(3) t' / t = k (1 – v/c)

In (2): Aus x = k (x' + v t' ) wird: c t = k (c t' + v t' ), woraus folgt: t = k t' (1 + v/c) und schließlich:

(4) t/t' = k (1 + v/c)

Die Multiplikation der Gleichungen (3) und (4) ergibt:



und schließlich



Unser Ansatz hat also nicht zu einem Widerspruch geführt und hat zudem einen brauchbaren Wert für k geliefert. Allerdings erkennen wir bei genauem Hinsehen eine gewisse Einschränkung: Die Größe ß := v/c muss kleiner als 1 sein. Für ß = 1 oder v = c stünde im Nenner des Bruches eine 0, was nicht zulässig ist. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass die Relativgeschwindigkeit zweier Bezugssysteme stets kleiner als die Lichtgeschwindigkeit sein muss. Darüber später mehr.

Durch Einsetzen von k in die Ausgangsgleichungen (1) und (2) erhalten wir:



Nun fehlen uns noch die Umrechnungsbeziehungen (die »Transformationsgleichungen«) für t' und t. Wir erhalten sie, indem wir zunächst aus Gleichung (B) x' ausrechnen:


Dies setzen wir in die linke Seite der Gleichung (A) ein und erhalten:



Durch Auflösen dieser Gleichung nach t' ergibt sich:


Durch eine ähnliche Prozedur – nämlich indem wir aus Gleichung (A) x ausrechnen und in Gleichung (B) einsetzen – oder einfach durch Analogieschluss – erhalten wir:




Die noch fehlenden Transformationsgleichungen für y und z findet man durch folgendes Gedankenexperiment:

Auf der Y' -Achse des Systems S' befinde sich im Abstand y' von O' ein Spiegel, der einen zur Zeit t'  = 0 von O' nach oben ausgesandten Lichtimpuls nach O' reflektiert. Er treffe zur Zeit t' wieder in O' ein. Der bis dahin von ihm zurückgelegte Weg ist



Für diese Strecke braucht der Lichtimpuls die Zeit


(1)    


Für einen Beobachter in S bewegt sich der Lichtimpuls auf einer geknickten Linie:



Abb. 12: Weg des Lichtstrahls im System S

Im System S benötige der Lichtimpuls bis zur Rückkehr nach O' die Zeit t. Der zurückgelegte Weg ist



woraus folgt



Durch Quadrieren und Auflösen nach t 2 ergibt sich



Aus Gleichung (D) folgt mit x' = 0




Durch Vergleich mit Gleichung (1) findet man



Durch eine analoge Betrachtung findet man ferner



Alle sechs Transformationsgleichungen nochmals im Zusammenhang:





Diese Gleichungen heißen Lorentz-Transformationen; die gesamte Gruppe wird Lorentz-Transformation genannt. Sie war übrigens schon bekannt, bevor Einstein die Relativitätstheorie schuf. Ihr Schöpfer, der niederländische Physiker und Nobelpreisträger Hendrik Antoon Lorentz (1853 - 1928) hatte jedoch ihre volle Bedeutung nicht erkannt.

Fortsetzung: Spezielle Relativitätstheorie: Teil II

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