Soziologische Klassiker/ Znaniecki, Florian

Aus Wikibooks

Grundstruktur des Kapitels:

Biographie in Daten[Bearbeiten]

Florian Znaniecki

Florian W. Znaniecki

  • geboren am 15. Januar 1882 in Świetniki, Polen
  • gestorben am 23. März 1958 in Urbana, Illinois
  • Eltern: Vater: Leon Znaniecki; Mutter: Amelia Znaniecka (geborene Holtz)
  • Kinder:
    • Kind aus 1. Ehe mit Emilia Szwejkowska: Julius Znaniecki (Poet und Novelist)
    • Kind aus 2. Ehe mit Eileen Markley: Helena Znaniecka Lopata (*1925 in Poznan, Polen; Soziologin)


Berufliche und private Ereignisse:

  • 1888-1901: seinen früheren Unterricht erhält er mit persönlichem Lehrplan, der Griechisch, Latein, Französisch, Deutsch und Russisch beinhaltet
  • 1902-1903: Studium der Philosophie und Soziologie an der Universität Warschau. Wegen Teilnahme an einer Studentendemonstration gegen die russische Verwaltung wird er nach einigen Monaten relegiert
  • 1903: Reisen durch die Schweiz, Frankreich und Italien
  • 1903-1909: Fortsetzung des Studiums im Ausland an der Universität Genf (Diplom M.A.), der Universität Zürich und an der Sorbonne in Paris (zu dieser Zeit ist Durkheim Lehrbeauftragter für Pädagogik und Soziologie)
  • 1906: 1. Ehe mit Emilia Szwejkowska
  • 1909: zurück nach Polen
  • 1909-1910: Abschließen des Studiums an der Jagielloński-Universität Krakau
  • 1910: Dr. phil. (Philosophie); Dissertation: Zagadnienie wartości w filozofii (Das Werteproblem in der Philosophie)
  • 1910-1914: Leben in Warschau
  • 1911-1914: Direktor einer polnischen Emigrantenorganisation
  • 1911-1912: Redakteur der Zeitschrift "Wychodźca Polski" (Warszawa; Der polnische Emigrant)
  • 1913: Als Leiter der Emigrantenorganisation trifft er den US-amerikanischen Soziologen William I. Thomas (1863-1947) während dessen Europareise
  • 1914-1919: Leben in Chicago, Illinois auf Einladung von William I. Thomas, mit dem er an "The Polish Peasant in Europe and America" (Biographieforschung) arbeitet
  • 1915: Tod seiner Ehegattin Emilia
  • 1916: 2. Ehe mit Eileen Markley. Diese graduiert an der Columbia University und lernt ihn in Chicago kennen. Sie spielt eine sehr wichtige Rolle in seinem Leben
  • 1917-1919: Thomas arrangiert für ihn eine Stelle als Lecturer in Sociology an der University of Chicago in Chicago, Illinois
  • 1919-1939: Leben in Poznań
  • 1920-1939: Professor der Soziologie an der Universität Poznań, erster Professor Polens
  • 1921: Gründung des Instytut Socjologiczny (Soziologisches Institut) an der Universität Poznań, aus dem 1927 das Polski Instytut Socjologiczny (Polnisches soziologisches Institut) hervorgeht, sowie das Polish Sociological Review
  • 1930-1939: Herausgeber der Zeitschrift "Przegląd Socjologiczny. Kwartalnik Polskiego Instytutu" (Poznań; Soziologische Rundschau. Vierteljahrsschrift des Polnischen Instituts)
  • 1931-1933: Gast-Professor an der Columbia University in New York, New York, wo er u.a. Dissertationen im Columbia Department of Sociology leitet und betreut
  • 1936: zurück in Poznań, Polen
  • 1939-1940: Leben in New York, New York
  • 1939: Gast-Professor an der Columbia University in New York, New York. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hindert ihn an der Rückkehr in seine polnische Heimat
  • 1939-1940: Julius Beer Lecturer an der Columbia University in New York, New York
  • 1941-1958: Leben in Champaign, Illinois.
  • 1940-1958: Full Professor of Sociology an der University of Illinois in Urbana-Champaign, Illinois. Eine Rückkehr nach Polen nach dem Zweiten Weltkrieg lehnt er aus politischen Gründen ab
  • 1954: Präsident der American Sociological Society

Historischer Kontext[Bearbeiten]

  • Ende Sommer 1939 am Beginn des 2. Weltkrieges: Er fährt im Schiff Richtung Heimat, das jedoch von der Royal Navy abgefangen und zum britischen Hafen gebracht wird. Sein Name steht auf der Liste der polnischen Patrioten und Professoren, die zur Exekution vorgemerkt sind. Somit hat er keine andere Möglichkeit als in die USA zurückzukehren.
  • Ende des 2. Weltkrieges: Seine Ehegattin Eileen und seine Tochter Helena sind kurze Zeit in einem Konzentrationslager in Polen inhaftiert. Auch sein Sohn Julius (aus 1. Ehe), der am Warschauer Aufstand teilnimmt, wird in Dachau inhaftiert, wo er später von Alliierten freigelassen wird.


Theoriegeschichtlicher Kontext[Bearbeiten]

In seiner Studienzeit ist er stark von deutschen Philosophen beeinflusst (v.a. von Kant, Fichte und Hegel).

Während seinem Studium an der Sorbonne in Paris hatte er Kontakte unter anderem zu Émile Durkheim.

Die Zusammenarbeit mit W. I. Thomas am Werk The Polish Peasant on Europe and America lenkte sein Interesse auf die Soziologie und bestimmte seine weitere wissenschaftliche Entwicklung.


Werke[Bearbeiten]

  • 1919: Cultural Reality: sein 1. Buch in englischer Sprache; gilt als der 1. Teil einer allgemeinen Einführung in die Kulturphilosophie
  • 1918-1920: The Polish Peasant in Europe and America: gemeinsame Arbeit mit William I. Thomas, veröffentlicht in 5 Bändern (1918: Band 1 und 2; 1919-1920: Band 3 bis 5; 1927: neue zweibändige Edition)
  • 1925: The Laws of Social Psychology
  • 1934: The Method of Sociology
  • 1936: Social Actions
  • 1939: The Social Role of the Man of Knowledge (gilt als ein Meisterwerk der literarischen Art; erscheint an der Columbia University)
  • 1952: Modern Nationalities
  • 1952: Cultural Sciences: Their Origin and Development
  • 1965: Social Relations and Social Roles: The Unfinished Sociology (erarbeitet von seiner Tochter Helena Znaniecki Lopata)


Das Werk in Themen und Thesen[Bearbeiten]

Die Entstehungsgeschichte seines Hauptwerkes geht auf eine Forschungsreise von William Thomas zurück, der das Verhalten osteuropäischer, jüdischer und italienischer Migranten in den USA untersuchen wollte. Auf seiner Forschungsreise durch Europa lernt Thomas 1913 den damaligen Direktor der Gesellschaft für die Wohlfahrt polnischer Emigranten, Florian Znaniecki, kennen.

Die Zusammenarbeit mit W. I. Thomas am Polish Peasant, war ursprünglich als eine Studie der sozialen Desorganisation zwischen polnischen Migranten gedacht. Das umfangreiche Material, das über den polnischen Bauern in Europa und in Amerika gesammelt wurde, gab ihm die Gelegenheit zur empirischen Forschung und zur Ausarbeitung einer Reihe von theoretischen Hypothesen. Zu seinen wichtigsten Beiträgen gehört die berühmte Methodological Note im 1. Band, in der er u. a. versucht, Thomas’ Theorie der attitudes mit seiner eigenen Theorie der Werte zu verschmelzen. Als sehr fruchtbar erwies sich ferner die Analyse methodologischer Probleme, die sich bei der Auswertung des autobiographischen Materials ergaben.

Sein gesamtes Werk kennzeichnet die Verbindung ausgedehnter, auf vielen Spezialgebieten der Soziologie betriebener empirischer Forschung mit dem immer regen Interesse für philosophische Fragen, vornehmlich erkenntnistheoretischer und kulturphilosophischer Natur.

Zu den Werken, in welchen seine theoretischen, für die Begründung der Soziologie als besondere Kulturwissenschaft, grundlegenden Überlegungen am vollständigsten enthalten sind, gehören die Einführung in die Soziologie (1922) und die Cultural Sciences (1952).

Innerhalb der durch die Wissenschaften erkennbaren Wirklichkeit bilden nach Znaniecki Kulturphänomene (cultural data) eine besondere Rolle. Sie existieren – im Gegensatz zu den Naturphänomenen – nicht „an sich“, sondern nur insofern sie von den handelnden Menschen geschaffen, erlebt und damit aufrechterhalten werden. Dieses wesentliche Merkmal der Kulturphänomene bezeichnet er als den „humanistischen Koeffizienten“. Die Kulturphänomene lassen sich weder auf die „objektive Naturwirklichkeit“, noch auf die subjektiven psychischen Erscheinungen zurückführen. Da sie einen spezifischen Existenz-Modus aufweisen, braucht es zu ihrer Erforschung besondere Methoden. Diese sind durch die Kulturwissenschaft entwickelt worden. Solange die Kulturwissenschaften mit der Untersuchung der Kulturphänomene beschäftigt waren, konnten sie nicht über typologische Verallgemeinerungen hinausgehen. Erst der Übergang zur Erforschung des menschlichen Handelns, das auf diese Phänomene bezogen ist, schuf die methodologische Grundlage für die induktive Generalisierung und eröffnete ihnen neue Entwicklungsmöglichkeiten. Der Begriff des menschlichen Handelns wird somit zum zentralen Begriff der Kulturwissenschaften.


Jede Handlung (darunter versteht er nur eine bewusste menschliche Tätigkeit) weist folgende Merkmale auf:

  • ihre Dauer ist begrenzt
  • sie betrifft immer nur eine beschränkte Zahl der ausgewählten Data, die durch den Handelnden als Werte erlebt werden
  • im Verlaufe einer Handlung tritt jeder dieser Werte in Beziehung zu den anderen, beeinflusst sie und wird selbst unter ihrem Einfluss umgeformt.

Aufgrund dieser Analyse kommt er zu der Auffassung der menschlichen Handlung als ein begrenztes, dynamisches System von voneinander abhängigen, sich ständig verändernden Werten. Eine besondere Art der Handlungen bilden die sozialen Handlungen (social actions), in denen der Handelnde andere bewusste menschliche Individuen oder Gruppen zu beeinflussen sucht. In der Erforschung solcher Handlungen erblickte Znaniecki schon in früheren Werken die Hauptaufgabe der Soziologie.


Er unterscheidet vier Grundtypen der sozialen Systeme:

  • die Handlungen
  • die Beziehungen
  • die Personen
  • die Gruppen.


Dementsprechend hat die Soziologie vier Hauptgebiete. Znaniecki definiert die soziale Beziehung als ein dauerhaftes System von kulturgeregelten, sich gegenseitig beeinflussenden Handlungen zweier Individuen, die soziale Person als eine dynamische Synthese der sozialen Rollen eines Individuums. Diese werden wiederum als Systeme sozialer Beziehungen zwischen dem gegebenen Individuum und einem bestimmten Kreis anderer Individuen aufgefasst.

Znaniecki hat jedoch kein (im üblichen Sinne des Wortes) abgeschlossenes System gebildet. Wie seine Betrachtungsweise, so ist auch sein Werk im Allgemeinen von einem ausgesprochen dynamischen Charakter. Obwohl sein Werk oft sehr theoretisch ist, haben sie doch durchaus erstaunliche Lebensnähe, was daran liegt, dass er nie auf dem Wege der reinen Spekulation, sondern immer über ausgedehnte empirische Forschungen zu seinen Theorien gelangte und an der praktischen Anwendbarkeit theoretischer Resultate stets lebhaftes Interesse zeigte.


Rezeption und Wirkung[Bearbeiten]

The Polish Peasant in Europe and America wird allgemein als einer der Wendepunkte in der Entwicklung der amerikanischen Soziologie betrachtet. Dieses Werk beeinflusste die soziologische Forschung sowohl in Amerika als auch in Polen, wo eine Reihe von Arbeiten unmittelbar an sie anknüpfte (Die junge Bauerngeneration von Chałasiński).

Es wurde zu einem der bedeutendsten Zeugnisse der frühen Chicago School und Vorläufer des Symbolischen Interaktionismus, wenngleich dessen Mitbegründer Herbert Blumer bereits früh methodologische Kritik an der Studie, insbesondere an der mangelnden Validität ihrer empirischen Daten übte. Die außergewöhnliche Art der Verwertung der Daten aus den Briefen und Autobiographien hat aber die folgende qualitative Sozialforschung positiv beeinflusst.

Für die soziologische Migrationsforschung ist The Polish Peasant noch immer ein wichtiger Bezugspunkt für Analysen der Entstehung und Entwicklung ethnischer Kolonien und transnationaler Netzwerke. Insgesamt gesehen repräsentiert es die amerikanische Variante einer für die klassische Soziologie zentralen Problemstellung: die Entstehung der Moderne und ihrer Folgen für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.

Anselm Strauss kam durch Robert E. Park mit der Chicagoer Feldforschung sowie mit Znanieckis bedeutender Monographie The Polish Peasant in Europe and America in Kontakt und lernte somit, wie Forschung empirisch verankert sein kann. Da ein beträchtlicher Teil seines Werkes in polnischer Sprache erschienen ist, sind der Verbreitung seiner Gedanken in den USA dadurch gewisse Schranken gesetzt worden.

Znaniecki beeinflusste als bedeutendster Vertreter der polnischen Soziologie. Er gründete 1921 das Soziologische Institut in Polen, aus dem nach einigen Jahren (1927) das Polnische Soziologische Institut hervorging.

Literatur[Bearbeiten]

  • [Hrsg.] Bernsdorf, Wilhelm & Knospe, Horst (1980):
    "Internationales Soziologenlexikon. Band 1. Ferdinand Enke Verlag, 2. neubearbeitete Auflage"
    Stuttgart
  • [Hrsg.] Bierstedt, Robert (1969):
    "Florian Znaniecki. On Humanistic Sociology. The University of Chicago Press"
    Chicago/ London
  • Kaesler, Dirk/ Vogt, Ludgera (2000):
    "Hauptwerke der Soziologie"
    Stuttgart
  • Münch, Richard (2002):
    "Soziologische Theorie. Band 1: Grundlegung durch die Klassiker"
    Frankfurt am Main
  • Ritzer, George/ Goodman, Douglas J. (1996):
    "Sociological Theory. McGraw-Hill College"
    New York