Bewusstseinserweiterung: Bewusstseinseinschränkung
Im letzten Kapitel habe ich bereits gekennzeichnet, dass ich den Begriff Bewusstein im Rahmen dieser Arbeit im Zusammenhang mit einem noch nicht näher charakterisierten ich-bin-da-Empfinden denke, dass auf ein beständiges „mir-meiner-selbst-gewahr-sein“ hinauslaufen soll.
Um darauf hinzuleiten, wie dieses „mir-meiner-selbst-gewahr-sein“ aussehen könnte, werde ich mich in diesem Kapitel damit beschäftigen, welche Mechanismen im sogenannten gewöhnlichen Bewusstsein dieses Gewahrsein üblicherweise verhindern. Dazu ziehe ich Robert Ornsteins Buch Die Psychologie des Bewusstseins heran, der sich darin bemüht eine Synthese zwischen dem vornehmlich von der linken Gehirnhemisphäre bestimmten linear-rationalen, analytisch-verbal-logischen Modus und dem hauptsächlich von der rechten Gehirnhemisphäre strukturierten nonverbalen-arationalen-ganzheitlichen Modus herzustellen.
Denn Ornstein geht davon aus, dass unser gewöhnliches Bewusstsein hauptsächlich von dem linear-rationalem Modus bestimmt wird, und dass wir uns um die andere Seite förmlich betrügen, indem wir sie unterdrücken. Im ersten Teil seines Buches beschreibt er, welche Faktoren unsere bewusste Wahrnehmung normalerweise einschränken. Diese werden von mir nachfolgend referiert.
Das Bewusstsein als persönliche Konstruktion
[Bearbeiten]Zunächst geht Ornstein davon aus, dass unser gewöhnliches Bewusstsein durch eine Art Stabilitäts-konstruierendes Kategoriensystem gekennzeichnet ist. Diese Kategorien oder auch Annahmen darüber, was wirklich und damit möglich, bzw. was unwirklich und damit unmöglich ist, haben zunächst überlebenssichernde Funktionen. Annahmen dieser Art werden aufgrund ihrer Tauglichkeit in der Praxis konstruiert und bei entsprechend erwiesener Nützlichkeit soweit stabilisiert, bis sie als solche nicht mehr hinterfragt werden und als wirklichkeitsstrukturierende Grundlagen aus der Wahrnehmung ausgeblendet werden.
Das gewöhnliche Bewusstsein stellt sich für ihn als eine Anhäufung persönlicher Konstruktionen heraus, die als Auswahlmechanismen dienen, um aus einer unüberschaubar großen Menge an potentiell zur Verfügung stehenden Informationen, die für das jeweilig individuelle biologische Überleben nützlichen und notwendigen herauszufiltern.
Ich habe beispielsweise durchaus die Möglichkeit die Schwerkraft als eine wichtige stabilisierende und alltagsstrukturierende Erfahrung in Frage zu stellen, zumal ich davon ausgehen muss, dass die Schwerkraft wie wir sie hier auf der Erde kennen, lediglich ein spezieller Zustand ist und keinesfalls für das ganze Universum Gültigkeit hat. Es hat sich allerdings in meiner alltäglichen Erfahrung als nützlich erwiesen, diese Annahme aufrecht zu erhalten; es wäre für mich sogar schädlich sie unter den gewöhnlich gegebenen Umständen in Frage zu stellen. Allerdings begehe ich meistens den Fehler, diese und ähnliche in ihrer Funktion stabilisierende Annahmen so weit zu verallgemeinern, dass ich sie für die Wirklichkeit halte. Gemeinhin obliege ich also der Illusion, mein Bewusstsein spiegele die Wirklichkeit wider.
Ornstein schreibt dazu:
- R. Ornstein
„[...] wir meinen, dass unser eigenes persönliches Bewusstsein die Welt ist, dass eine äußere objektive Realität durch unsere Erfahrung repräsentiert wird.“
Ornstein geht es in seiner Analyse vor allem darum, das Bewusstsein, was wir haben, als nur eine mögliche Form des Bewusstseins zu betrachten.
William James schreibt dazu:
- W. James
„Wir sehen, dass der Geist in jedem Stadium ein Schauplatz gleichzeitiger Möglichkeiten ist. Das Bewusstsein besteht aus dem Vergleich dieser Möglichkeiten miteinander, dem Auswählen einiger und dem Unterdrücken der anderen, übrig gebliebenen, und zwar geschieht das durch die verstärkende und hemmende Wirkung der Aufmerksamkeit“
Selektivitätsfunktion der Sinnessysteme
[Bearbeiten]Für Ornstein sind derartige Stabilitäts-erzeugende Konstruktionsprozesse, die bestimmen, was in unsere bewusste Wahrnehmung dringt und was nicht, im wesentlichen Prozesse der Datenreduktion.
- R. Ornstein
„Unsere Sinnessysteme sammeln Informationen, die das Gehirn modifizieren und aussortieren kann. Diese stark gefilterten Informationen werden mit Erinnerungen und Körperbewegungen verglichen, bis schließlich unser Bewusstsein als bestmögliche Vermutung über die Wirklichkeit konstruiert wird.“
Er betrachtet es als eine primäre Funktion der Sinnessysteme, irrelevante Informationen (wie beispielsweise Röntgenstrahlen, infrarotes Licht, Ultraschall oder auch Radio- und Fernsehwellen) herauszufiltern. Das für das Auge sichtbare Spektrum ist demzufolge nur ein winziger Bruchteil dessen, was im elektromagnetischen Spektrum tatsächlich vorhanden ist und von diesem winzigen Bruchteil wird uns aufgrund unserer Auswahlmechanismen wiederum nur ein äußerst winziger Bruchteil tatsächlich bewusst. Aldous Huxley[1] schreibt in seinem Buch Die Pforten der Wahrnehmung, indem er seine umfangreichen Erfahrungen mit der psychotropischen Substanz Meskalin schildert:
- A. Huxley
„[...] dass nämlich die Funktionen des Gehirns, des Nervensystems und der Sinnesorgane hauptsächlich eliminierend arbeiten und keinesfalls produktiv sind. Jeder Mensch ist in jedem Augenblick fähig, sich all dessen zu erinnern, was irgendwo im Universum geschieht. Es ist die Aufgabe unseres Gehirns und des Nervensystems, uns davor zu schützen, von dieser Menge größtenteils unnützen und belanglosen Wissens überwältigt und verwirrt zu werden.“
Diese auswählenden Funktionen haben wir – laut Ornstein – der hohen Anpassungsleistung unseres Gehirns zu verdanken. Obwohl beispielsweise unsere Augen ständig in Bewegung sind, wir fast jede Sekunde blinzeln, Kopf und Körper beweglichen Objekten folgen können und das Gehirn also fortlaufend völlig neue Wellenimpulse in Bilder verwandeln muss, bleibt die Sehwelt für die Wahrnehmung relativ stabil.
Wenn ich beispielsweise um einen Affen herumtanze, verändert sich mein Gesichtsfeld permanent, sowohl durch meine als auch durch des Affen Bewegungen, und doch sehe ich immer denselben Affen.
- A. Huxley
„Würden wir ein „Bild“ auf der Netzhaut „sehen“, wäre unsere Sehwelt in jeder Sekunde anders, sie wäre einmal dieses Objekt, einmal jenes, manchmal wäre sie verwischt, weil wir unsere Augen bewegen, manchmal dunkel, weil wir blinzeln. Wir müssen also aus dem ausgewählten Input ein persönliches Bewusstsein konstruieren und auf diese Weise aus dem reichen und ständig wechselnden Informationsfluss, der unsere Rezeptoren erreicht, eine gewisse Stabilität der Bewusstheit erlangen“
Solche Stabilitäts-erzeugenden Auswahlprozesse sind also einerseits nützlich, sinnvoll und notwendig, wirken aber andererseits selektiv und können dadurch hemmend auf die Aufnahme und Verarbeitung neuer möglicherweise ebenso sinnvoller Informationen einwirken. Als Beispiel für diese ausgrenzende Funktion der Auswahlmechanismen führt Ornstein ein Experiment auf, dass von Jerome Bruner und Leo Postman 1949 durchgeführt wurde. Sie zeigten darin mehreren Versuchspersonen mittels eines speziellen Projektors kurz hintereinander aufleuchtende Spielkarten, unter denen sich auch anormale Spielkarten, wie beispielsweise ein rotes Pik-As und eine schwarze Herz-Vier befanden, und baten die Versuchsteilnehmer, die Karten richtig zu benennen. Dabei stellte sich heraus, dass die meisten Teilnehmer die veränderten Karten nicht korrekt wahrnahmen, sondern sie vielmehr korrigierten und aus dem roten Pik-As ein Herz-As machten. Wurden sie allerdings in einer anderen Anordnung des Experiments darauf aufmerksam gemacht, dass Herzen zwar gewöhnlich rot seien, dass sich aber daraus nicht folgern lasse, dass sie immer rot seien, konnten einige Teilnehmer sehr schnell erkennen, was ihnen da vorgelegt wurde.
Dieses Experiment belegt – nach Ornstein –, dass einige Annahmen geradezu paradigmatischen Charakter haben, die aber durchaus – in diesem Fall durch einen einfachen Hinweis – aufgehoben werden können und dadurch eine erweiternde Wirkung auf die Wahrnehmungsschranken haben können. In diesem Sinne können wir davon ausgehen, dass unser gewöhnliches Bewusstsein zunächst einmal eine kleine Menge äußerst gefilterter Informationen enthält, die dann einem mehr oder weniger diffusem Konglomerat vorgefertigter Annahmen zugeordnet werden. Überspitzt formuliert könnte man daraus schließen, dass wir lediglich das wahrnehmen, was wir erwarten wahrzunehmen.
Automatisierungsprozesse als Einschränkungen
[Bearbeiten]Unser gewöhnliches Bewusstsein ist ferner gekennzeichnet durch Automatisierungsprozesse, d.h. dass wir uns sehr schnell an Dinge, Abläufe, Prozesse aber auch Menschen gewöhnen. Bestimmte Strecken, die wir beispielsweise mit dem Auto zurücklegen, haben wir oft derartig verinnerlicht, dass die Reaktionen beim Autofahren (Gas weg, weil Kurve) vollständig automatisiert ablaufen und wir uns später überhaupt nicht mehr erinnern können, das gerade getan zu haben.
Ebenso verhält es sich mit der gerade aufgezogenen Uhr, die anfänglich bestechend nervend tickt und deren Tickerei nach wenigen Minuten in die unbewusste Wahrnehmung versackt. Sobald das Ticken sich allerdings verändert oder ausbleibt, gelangt es wieder in unsere Wahrnehmung zurück. Karl Pibram nannte dieses Phänomen den Bowery-El-Effekt. Der Effekt ist benannt nach einer New Yorker S-Bahnlinie, auf der jeden Abend zur selben Zeit ein sehr lauter Zug fuhr. Als die Linie stillgelegt wurde, riefen etwa zur selben Zeit, zu der früher der Zug verkehrte, viele besorgte Bürger bei der Polizei an, weil sie meinten, Geräusche von Einbrechern oder Dieben zu hören. Die Leute hörten allerdings keine Einbrecher, sondern das Fehlen der Zuggeräusche. Sie wurden sozusagen durch einen Entautomatisierungsprozess auf die Geräusche, die sonst auch immer vorhanden sind, erneut aufmerksam[2].
Aus überlebenstechnischen Gründen trägt diese stabilisierende Funktion des Bewusstseins dazu bei, dass wir uns mit kontinuierlichen Reizen nicht weiter beschäftigen, damit Platz sein kann für die Wahrnehmung lebensbedrohlicher Reize.
- R. Ornstein
„Die Zellen der Sehrinde und der Netzhaut sind zum Beispiel darauf spezialisiert, Veränderungen im Input zu entdecken und ständig gleichbleibende zu ignorieren.“
Diese Automatisierungsfunktionen lassen darauf schließen, dass wir uns jeweils ein Modell der äußeren Welt kreieren und Informationen daran messen; stimmen sie lange überein, wird dieses Modell zum Bestandteil unserer Wirklichkeit. Erst wenn der Informationsgehalt in einem großen Widerspruch zum konstruierten Bild der Welt steht, wird das erstellte Modell revidiert. Die Toleranzgrenze dazu ist allerdings – so nimmt Ornstein an – ausgesprochen groß. Das bedeutet, dass die Kategorienlandschaften, die wir in unserem Bewusstsein erstellt haben, umfangreiche Erwartungshaltungen produzieren: Wir erwarten etwa, dass ein Auto ein bestimmtes Geräusch von sich gibt oder dass ein Mensch sich auf eine bestimmte Art äußert und die meisten Geschehnisse werden diesen Kategorien zugeordnet.
- R. Ornstein
„Was wir aber [...] tatsächlich erfahren, ist die Kategorie , die durch einen spezifischen Reiz hervorgerufen wird, nicht das Geschehen in der äußeren Welt.“
Die sogenannten Transaktionalisten[3] unter den Bewusstseinsforschern beschreiben diese Prozesse, bei denen Ereignisse und Objekte Kategorien zugeordnet werden, als Abläufe, bei denen Wetten über die Beschaffenheit der Realität abgeschlossen werden. Wir wetten beispielsweise, dass ein von vorne als rechtwinklig ersichtiger Raum nach hinten hin dieselbe Struktur hat, was sich anhand des berühmten verzerrten Raumes veranschaulichen lässt, indem die Person, die vorne steht im Vergleich zu der Person, die weiter hinten steht, überdimensional groß erscheint.
Weitere Faktoren
[Bearbeiten]Stabilitätserzeugende Annahmen oder Kategorien über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wirken also sowohl wahrnehmungsbildend als auch wahrnehmungsverfärbend und sind nicht nur durch die inhärente Funktionstätigkeit unserer Sinnessysteme, sondern auch durch individuell-biographische und soziokulturelle Faktoren bestimmt, die auch noch an die jeweilige Bedürfnislage des Individuums angepasst werden.
Individuell-biographische Faktoren sind etwa familiärer Background, Ausbildung, individuelle Interessen, gesellschaftlicher Status und dessen multifaktorielle Bewertung. Da ich mich beispielsweise nicht für Computertechnik interessiere, rauscht ein Bericht über die Cebit 94 im Fernsehen an mir ungesehen vorbei, und ich kann nachher kaum wiedergeben, was ich da eigentlich gesehen habe, schon allein weil mir die notwendigen Wiedererkennungskategorien dazu fehlen, während die Reproduktionsfähigkeit meines Bruders, den man ohne ihn dabei zu beleidigen, als einen Computer-Freak bezeichnen darf, diesbezüglich wesentlich differenzierter ist, da er durch seine Informatik-Ausbildung entsprechende hochdifferenzierte Wahrnehmungskategorien ausgebildet hat.
Soziokulturelle Faktoren sind etwa, die stillschweigenden unbewussten Übereinkünfte, die in einem spezifischen Kulturkreis regieren (beispielsweise die in unserem Kulturkreis weitverbreitete Wissenschafts- und Zahlengläubigkeit, die teilweise sogar religiöse Züge annehmen kann.[4]) Gerade die Bindung an einen Kulturkreis, die mit dem gemeinsamen Gebrauch einer Sprache einhergeht, die wiederum nur bestimmte eingegrenzte Ausdrucksmöglichkeiten erlaubt, trägt dazu bei, dass auch nur bestimmte Erfahrungen, die im Rahmen dieser benutzten Sprache benennbar sind, als solche erkannt und artikuliert werden können. Ein berühmtes und immer wieder zitiertes Beispiel dazu ist die Tatsache, dass Eskimos etwa 50 verschiedene Begriffe für kristallisiertes Wasser (die ursprünglich einmal als Anpassungsleistung an eine feindliche Lebenswelt entstanden waren) kennen, während wir in unserem Kulturkreis mit bestenfalls sieben vorlieb nehmen müssen und dadurch mit ausgesprochener Blindheit für die Erfahrungswelt der Eskimos geschlagen sind, denn was wir nicht benennen können, können wir auch nicht wahrnehmen. Schon allein also, weil mir die notwendigen Begrifflichkeiten für die Wahrnehmung von Neuheiten auf dem Computermarkt fehlen, geht mir vieles von dem, was beispielsweise mein Bruder, durch einen Bericht über die Cebit lernen kann, verloren.
- P. Watzlawick
„‚Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt‘, so bringt Wittgenstein das dialektische Verhältnis von Sprache und Denken als eine Form der Bewusstseinseinschränkung auf den Punkt oder umgekehrt präzisiert Humboldt: ‚Die Sprache ist Ausdruck meiner Weltanschauung‘“
Zudem unterliegen diese eher als stabil zu bezeichnenden Faktoren des persönlichen Bewusstseins Schwankungen, die von den gerade im Bewusstsein vorhandenen Stimmungen und Bedürfnissen beeinflusst werden. Äußerst prägnant beschrieb diesen Umstand der sufische Dichter Jalludin Rumi:
- J. Rumi
„Wie ein Stück Brot aussieht, hängt davon ab, ob man Hunger hat oder nicht.“
Wie ich bestimmte Situationen, Menschen oder auch – bezogen auf diesen Aphorismus – gewisse Mahlzeiten wahrnehme, hängt von meiner jeweiligen Stimmungs- und Bedürfnislage ab. Wenn ich traurig bin, erscheint mir selbst der sonnigste Tag als traurig und deprimierend, in Hochstimmung aber kann ich auch vor Freude durch einen wunderschönen Regentag tanzen. Wir sind mal hungrig, mal satt, mal traurig, mal fröhlich, mal ängstlich und mal mutig und verfärben uns die Wahrnehmung des Wirklichen entsprechend unserer Stimmungen.
Es ließen sich noch unzählige Faktoren aufzählen, die als manifeste Auswahlmechanismen filternd auf unsere Wahrnehmung einwirken. Das Ergebnis bliebe aber unverändert: Nichts ist so subjektiv wie der Inhalt unseres Bewusstsein. Der Inhalt unseres Bewusstseins ist so durch und durch subjektiv, dass es verwunderlich ist, dass wir uns überhaupt untereinander verständlich machen können, denn die Begriffe, derer wir uns im Sprachgebrauch bedienen müssen, sind von letztlich nicht mehr hinterfragbaren individuell verschieden wahrgenommenen Erfahrungen geprägt.[5]
Die Ergebnisse der Kommunikationsforschung und der Psycholinguistik belegen nur diese geradezu babylonische Sprachverwirrung[6], deshalb plädiert beispielsweise der linguistische Philosoph Ludwig Wittgenstein dafür, die von ihm so gesehenen Pseudoprobleme der Philosophie durch eine genaue Analyse der Sprache zu beseitigen[7]
Zusammenfassung
[Bearbeiten]Unser persönliches Bewusstsein ist ein Ergebnis komplexer Konstruktionsprozesse. Das, was in unsere bewusste Wahrnehmung dringt ist lediglich ein spärliches Rinnsal dessen, was tatsächlich vorhanden ist. An diesem spärlichen Rinnsal bereits ausgewählter Informationen werden auch noch diverse zusätzliche subjektive Selektivitätsprozesse vollzogen, welche von Annahmen über die Wirklichkeit gebildet werden.
Ferner unterliegt das gewöhnliche Bewusstsein Automatisierungsprozessen, die eine bewusste Wahrnehmung von sehr stabilen Reizen meistens ausgrenzen, da unser Wahrnehmungsapparat aus überlebenstechnischen Gründen hauptsächlich auf die Wahrnehmung von Veränderungen ausgerichtet ist. Man könnte sagen: Je stabiler ein Reiz ist, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass er ohne eine gewisse Anstrengung (gemeint ist hier die gelenkte Aufmerksamkeit) in unser Bewusstsein, also in die bewusste Wahrnehmung dringt.
Die Fragestellung, mit der ich mich beschäftige, lautet: Welche Gründe veranlassen uns dazu, uns selbst – im Sinne eines ich-bin-da-Bewusstseins – zu vergessen? Einer der Gründe, warum wir uns selbst vergessen, also vergessen dass wir da sind – existieren –, ist in eben jenem Gewöhnungsprozess zu finden. Denn die Existenz als Grundlage und Voraussetzung des bewussten Seins, vor der alle Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle projektionsartig, gleichsam stromartig[8] ablaufen, ist sozusagen der sicherste, der stabilste Reiz überhaupt. Ohne ihn wäre keine Reizwahrnehmung möglich. Das aber, woran wir uns intensivst gewöhnt haben, wird aus der bewussten Wahrnehmung ausgeblendet. Überspitzt formuliert könnte man also sagen: Wir haben uns derartig an unsere Existenz gewöhnt, dass uns gar nicht mehr auffällt, dass wir existieren.
Ferner ist es aus oben genannten überlebenstechnischen Gründen nicht notwendig, uns unserer Existenz zu erinnern oder uns ihrer gewahr zu sein, denn wir überleben auch, ohne uns darüber bewusst zu sein, dass wir leben. Eine alte sufische Geschichte beschreibt diesen Umstand sehr elegant:
„Fische, die wissen wollten, was Wasser sei, gingen zu einem weisen Fisch. Er sagte ihnen, dass sie sich mitten darin befänden, und doch glaubten sie immer noch, durstig zu sein.“
Daraus kann man schließen, dass die Wahrnehmung unserer Existenz eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit erfordert.
Falls es irgendetwas gibt, was beständig da ist – um uns herum und in uns drin – dann fällt es uns aufgrund der üblichen Funktionsweise unseres Bewusstsein äußerst schwer, es überhaupt wahrzunehmen. Außerdem ist es für die Wahrnehmung von etwas Existierendem erforderlich, dafür eine sprachliche Ausdrucksweise zur Verfügung zu haben. Falls es also in diesem Sein (was ich ich-bin-da-Bewusstsein genannt habe) etwas gibt, das man zwar erfahren kann, für das es aber keine rechten Begriffe gibt, ist es ebenso unwahrscheinlich, dass wir seine Existenz bemerken. Außerdem sind die Vorstellungen, die wir über die Beschaffenheit der Wirklichkeit haben, im allgemeinen äußerst stabil und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir von vielen Vorstellungen zehren, denen wir die wahrgenommenen Phänomene der Wirklichkeit zuordnen, die allein deshalb schon so schwierig zu identifizieren sind, weil sie zu allgemein und umfassend sind, als dass sie uns als bloße Vorstellungen erscheinen könnten.
Um eine Vorstellung revidieren zu können, muss sie allerdings als solche erst einmal identifiziert werden, was – wie gesagt – besonders schwierig ist, wenn sie beispielsweise als allgemeine Übereinkunft von allen Menschen eines bestimmten Kulturkreises geteilt wird. Es gibt sicherlich auch unzählig viele Vorstellungen über das Sein als solches und das Bewusstsein, oder die Möglichkeiten bewussten Seins, im speziellen. Das Experiment, das Jerome Bruner mittels der falschen Spielkarten durchführte, belegt meines Erachtens die Notwendigkeit, sich möglichst frei zu machen von Vorstellungen, um frei zu sein für die Möglichkeit, das wahrzunehmen, was jenseits dieser Vorstellungen existiert.
Je begrenzter eine Vorstellung über das Bewusstsein und seine Möglichkeiten ist, desto begrenzter ist auch die Möglichkeit, es in seiner Reinheit oder so, wie es ist, wahrzunehmen. Nehmen wir einmal rein hypothetisch an, wir hätten die Möglichkeit eines göttlichen Bewusstseins, die Bibel hätte recht, wir seien nach Gottes Ebenbilde erschaffen und auch die Schlange hätte recht, wir könnten sein wie Gott. Dann hinge – nach Ornsteins Thesen über die Arbeitsweise unseres Bewusstseins – unsere Art der Wahrnehmung des Göttlichen von unseren Vorstellungen darüber ab. Entsprechend wäre die mögliche Wahrnehmung des Göttlichen umso begrenzter, je begrenzter unsere Vorstellung über das Wahrzunehmende ist. Nicht umsonst lesen wir als eines der wichtigsten Gebote in der Bibel:
„Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben. Auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“
Wir werden also aufgefordert, uns nicht nur vom Göttlichen keine Vorstellung zu machen, sondern uns von nichts Existierendem irgendeine Vorstellung zu machen, denn sobald eine Vorstellung von etwas als Wirklichkeitsbestimmende Kategorie in unserem Bewusstsein Platz nimmt, fällt alles, was diesen Kategorien nicht zugeordnet werden kann, aus der Wahrnehmung heraus oder wird von dieser Kategorie verzerrt und verfärbt. Nehmen wir weiterhin an, dass das Göttliche existiert und dass es seinem Wesen nach grenzenlos, unendlich und ewig IST (nichts anderes kann ein bedingungsloses ich-bin-da bedeuten), denn das sind Eigenschaften, die wir uns nicht vorstellen können – ein Vorstellen beinhaltet nun einmal – wie ich bereits oben gekennzeichnet habe – das der Denkende einen von sich abgegrenzten klar umrissenen Gegenstand sich selbst vorstellig machen muss, um ihn denken zu können. Etwas Grenzenloses, Unendliches ist allein deshalb nicht zu denken, weil es den Denkenden in seiner Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit ja mit einschließen müsste, und das Denken hat nun einmal hauptsächlich trennende, abgrenzende Funktionen. Etwas Unendliches ist also nicht zu denken, weil es durch den zerteilenden Prozess des Denkens notwendigerweise endlich werden muss. Wir sehen deshalb, dass wir die Kette des undenkbaren – also Einheit und Gegenwart – um das Unendliche, Grenzenlose erweitern müssen. Wenn etwas Grenzenloses und Unendliches und damit All-umfassendes existiert, muss man es also – da es undenkbar ist – selbst sein; es ginge einfach nicht anders. Falls dies möglich ist, bedürfte es allerdings einer reinen und nicht durch Vorstellungen verzerrten bewussten Wahrnehmung dieses je eigenen seins oder dieses reinen ich-bin-da.
Ist es allerdings überhaupt möglich eine reine, bewusste Wahrnehmung zu haben und somit vielleicht doch die Wirklichkeit spiegeln zu können? Viele Autoren, besonders aber die Mystiker des Abendlandes – namentlich Meister Eckehart, aber auch sufische Autoren wie Idries Shah und auch Peter D. Ouspensky behaupten, dass das möglich ist.
Wie diese Autoren sich das vorstellen – mir ist die Widersinnigkeit der Verwendung diese Begriffes durchaus im klaren – wird Gegenstand der nächsten Kapitel sein.
Quellen
[Bearbeiten]- ↑ Huxley war übrigens ein Zeitgenosse Peter Ouspenskys, von dem später noch die Rede sein wird, und wurde in seiner Arbeit von ihm beeinflusst.
- ↑ Ornstein, R.: Die Psychologie des Bewusstseins, Fischer-Verlag, Frankfurt/Main, 1976, Seite 42
- ↑ Sie tragen diesen Namen, weil sie von einer Art Transaktion zwischen dem Wahrnehmenden und der Umwelt ausgehen, d.h. dass Erfahrungen durch Lernen die Wahrnehmung modifizieren können, die das Individuum zu Annahmen über die Welt veranlassen, die wiederum die Wahrnehmungswelt determinieren. Einiger ihrer Vertreter sind z.B. Adelbert Ames und George A. Kelly (vgl. Ornstein Seite 46))
- ↑ Zoller, H. (Hrsg.): Die Befreiung vom wissenschaftlichen Glauben, Herder Verlag, Freiburg 1974
- ↑ Paul Watzlawick geht in seinem Buch Wie wirklich ist die Wirklichkeit? so weit zu behaupten, „dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist.“ (Seite 7) und „dass das wackelige Gerüst unserer Alltagsauffassungen im eigentlichen Sinne wahnhaft ist.“
- ↑ Hampden-Turner, Ch.: Modelle des Menschen – Ein Handbuch des menschlichen Bewußtseins., Beltz-Verlag, Weinheim 1982, Seiten 140–152
- ↑ Ritter/Schwabe (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, 1971
- ↑ William James spricht in diesem Zusammenhang vom Bewusstseinsstrom. Für ihn ist das Bewusstsein „nichts Gegliedertes, es strömt. Ein Fluss oder ein Strom sind die Metaphern, mit denen es sich natürlich beschreiben lässt. Wenn wir im weiteren davon sprechen, wollen wir es den Gedankenstrom, den Bewusstseinsstrom oder den Strom subjektiven Lebens nennen.“ James, W.: The Principles of Psychologie, Dover Publikations New York , 1950, Band 1, Seite 239. James Joyce, den man im allgemeinen als einen Vertreter der sogenannten Bewusstseinsstromsliteratur begreift (obwohl er selbst diesen Begriff nicht verwendet hat) stellt in seinem umfangreichen Buch Ulysses die Innenansichten eines Durchschnittsmenschen und zweier ihm nahestehenden Personen dar, die an einem einzigen Tag ablaufen. Er gibt darin ein aufschlussreiches Zeugnis über die Vielschichtigkeit aber oftmals auch Belanglosigkeit unserer Innenmonologe ab.