Bewusstseinserweiterung: Selbsterinnern

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung2. Der Begriff Bewusstsein3. Bewusstseinseinschränkung als Wahrnehmungseinschränkung4. Wahrnehmungserweiterung in der Mystik5. Die Methode des Selbsterinnerns6. Wachheit im Schlaf-Theorie7. Wachheit im Schlaf-Praxis8. Selbsterinnern, Klartraum und Klarheit im Wachzustand9. Literatur

 


Pyotr D. Ouspensky[Bearbeiten]

Der Philosoph Pyotr Demianovich Ouspensky wurde 1878 in Moskau geboren und starb 1947 in London. Er beschäftigte sich Zeitlebens mit philosophischen und psychologischen Fragestellungen, die um die Möglichkeit einer wahren Erkenntnis von Wirklichkeit kreisten. Dabei entwickelte er ein psychologisches System der Bewusstseinserweiterung, das er im Großen und Ganzen als Selbsterinnerung, aber auch als vierten Weg bezeichnet hat.

Ouspensky selbst wurde sehr stark von Georg Iwanowitsch Gurdjieff, einem sufischen Eingeweihten, dem er 1915 begegnete, beeinflusst. Gemeinsam entwickelten sie ein psychologisches System, das dem Menschen die stufenweise Erlangung höherer Bewusstseinsgrade ermöglichen sollte. Dass dieses System eine schriftliche Fixierung fand – durch etliche Veröffentlichungen seitens Gurdjiefs und Ouspenskys – ist eigentlich ein Widerspruch zu der sonstigen Vorgehensweise sufischer Lehrtätigkeit. Es verwundert daher auch nicht, dass vor allem Ouspensky gegen Ende seines Lebens viele Teile seiner Lehre revidierte. So berichtet etwa Francois Grunwald, der ein Nachwort zu Ouspenskys Werk Tertium Organum verfasste, dass Ouspensky seine Anhänger in den letzten Wochen seines Lebens ermahnte einen Neubeginn zu unternehmen – jeder auf seine Weise. [1] Und auch Gurdjiefs Lehre, dessen Schriften weitaus schwieriger zu verstehen sind als die Ouspenskys, wurde von seinen eigenen Lehrern mit seinem Tode als mehr oder weniger hinfällig bezeichnet. Einer seiner Anhänger, der sich selbst Rafael Lefort nennt und der sich auf die Suche nach Gurdjiefs Lehrern begab, beschreibt in seinem Buch Die Lehrer Gurdjiefs – Reise zu den Sufi-Meistern, dass er von diesen immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass Gurdjieffs Lehre mit seinem Tod auch als beendet gelte und dass es für den Suchenden darauf ankomme, einen lebendigen Kontakt mit der Lehre herzustellen und damit auch einen lebendigen Lehrer zu suchen[2]. Gleichwohl scheint ein tieferer Einblick in diese bereits tote Lehre für jemanden, der noch keinen direkten Kontakt mit der lebendigen Lehre gefunden hat, als Einstieg vielversprechend, da sie viele Ideen enthält, die in dieser Radikalität sicherlich selten formuliert worden sind. Deshalb wage ich hier ein kurze Darstellung der Grundzüge Ouspenskys Lehrsystems.

Ouspensky geht grundsätzlich davon aus, dass der Mensch, so wie wir ihn kennen ein nichtvollendetes Wesen ist. [3]

Ouspensky, P.D.
„Die Natur entwickelt ihn nur bis zu einem gewissen Grad, dann überlässt sie ihn sich selbst, damit er seine Entwicklung durch eigene Bemühung und Initiative fortsetzt, oder lebt und stirbt wie er geboren wurde.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 12

Ouspensky unternimmt eine Unterscheidung psychologischer Systeme, die für ihn durch zwei Hauptkategorien gekennzeichnet sind. In die erste Kategorie fällt die gesamte wissenschaftliche Psychologie seiner Zeit, die sich darum bemüht, den Menschen zu studieren

Ouspensky, P.D.
so wie er ist – so wie sie ihn antreffen – oder so wie sie annehmen oder sich einbilden, dass er sei.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 11

In die zweite Kategorie fallen Systeme, die den Menschen im Hinblick darauf studieren, was er werden kann. Also Systeme, die den Menschen vom Standpunkt seiner möglichen Evolution[4] betrachten. In seinem letzten Werk Der vierte Weg wird ein solches System als Quintessenz seines Lebenswerkes dargelegt. Der vierte Weg bezeichnet einen Weg der Erkenntnis, der neben dem ersten Weg (dem Weg des Fakirs, der zu höheren Bewusstseinsstufen gelangt, indem er lernt seine körperlichen Funktionen vollständig zu kontrollieren), dem zweiten Weg (dem Weg des Mönchs, der versucht über den Glauben und Entsagungen, höhere Wahrheiten zu erlangen) und dem dritten Weg (dem Weg des Yoga, dem Weg des Wissens und des Bewusstseins[5]) mehr als eine Synthese dieser drei Wege bezeichnen soll.

Der von Ouspensky beschriebene vierte Weg unterscheidet sich von allen anderen Wegen vor allem dadurch, dass nichts Äußeres aufgegeben werden muss, denn die ganze Arbeit findet innerlich statt. [6]

Ein wichtiger Bestandteil dieses Weges ist, dass der Mensch, der ihn beschreiten will, nichts glauben muss. Er soll alles anhand eigener Erfahrungen überprüfen und erst dann glauben, wenn er zutiefst davon überzeugt ist, dass etwas der Wahrheit entspricht; nicht früher und nicht später. Aus diesem Grund ist es – nach Ouspensky – erforderlich, mit der Selbstbeobachtung zu beginnen, und zwar jeweils in der Situation, in der sich der lernwillige Mensch im Moment befindet. Als vorläufiges Ergebnis der angefangenen Beobachtung stellt sich seines Erachtens folgendes Ergebnis ein:

Ouspensky, P.D.
Der Mensch ist eine Maschine. Er hat keine unabhängigen Bewegungen, weder äußerlich noch innerlich. Er ist eine Maschine, angetrieben von äußeren Einflüssen und von äußeren Anstößen. Von sich aus ist er nur ein Automat mit einer gewissen Ansammlung von Erinnerungen vergangener Erfahrungen und mit einer gewissen Menge von Energie in Reserve.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 17

Ouspensky benutzt diese sehr eindringlichen und hart klingenden Begrifflichkeiten hauptsächlich, um seine Zuhörer von ihren Illusionen über ihren eigentlichen Zustand zu befreien. Erst wenn sie wirklich erkennen – so Ouspensky –, dass die meisten Elemente in ihrem Leben automatisch ablaufen und wenn sie erkennen, dass sie auf das meiste – sei es nun Denken, Fühlen, Tagträumen oder Träumen keinen bewussten Einfluss haben und sie sich dieser schmerzlichen Wahrheit bewusst werden, ist eine Entwicklung möglich. Dabei ist es erforderlich zu erkennen, dass die Einheitlichkeit der Ansammlung an Funktionen, die wir innerlich vorfinden, nichts als eine Illusion ist.

Ouspensky, P.D.
„Vor allem soll der Mensch wissen, dass er nicht eine Einheit ist – er ist eine Vielheit [...]. Was im Menschen die Illusion einer Einheit und Ganzheit schafft, ist erstens die Empfindung seines physischen Körpers, zweitens sein Name, der gewöhnlich nicht wechselt und drittens ein Anzahl von mechanischen Gewohnheiten, die durch Erziehung in ihm eingepflanzt und durch Nachahmung erworben sind. Dadurch, dass er stets die gleichen physischen Empfindungen hat, sich immer beim gleichen Namen rufen hört und sich in Gewohnheiten und Neigungen wiederfindet, die er immer gekannt hat, bildet er sich ein, stets derselbe zu sein. In Wirklichkeit ist keine Einheit im Menschen, es gibt weder ein alleiniges Befehlszentrum noch ein bleibendes Ich oder Ego. [...] Alle Gedanken, jedes Gefühl, jede Empfindung, jeder Wunsch, jedes ich mag oder ich mag nicht ist ein Ich. Diese Ichs sind untereinander nicht verbunden noch irgendwie koordiniert [...]. Einige Ichs folgen anderen ganz mechanisch, einige erscheinen immer von anderen begleitet. aber darin liegt weder Ordnung noch System.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 18

Unbedingt erforderlich für die Entwicklung des Menschen sei, dass er sich keine Illusionen über das mache, was er momentan ist. Nach Ouspensky besitzt der Mensch aufgrund seiner Uneinheitlichkeit keine Fähigkeit zu tun, keine Individualität, keine Einheit, kein bleibendes Ich, kein Bewusstsein und keinen Willen [7]. Nur wenn er dies erkenne, werde er Anstrengungen unternehmen, diese Fähigkeiten zu erwerben. Die meisten Menschen allerdings bilden sich ein, diese Fähigkeiten bereits zu haben, was der wesentliche Hinderungsgrund für eine mögliche Entwicklung ist.

Der Bewusstseinsbegriff bei Ouspensky[Bearbeiten]

Die wichtigste Fähigkeit, die es Ouspensky zufolge zu entwickeln gilt, ist gleichzeitig diejenige, über die sich der gegenwärtige Mensch die meisten Illusionen macht: Das Bewusstsein. Bewusstsein ist für Ouspensky im wesentlichen

Ouspensky, P.D.
„eine besondere Art von »innerem Aufmerken«, unabhängig vom Denkprozess, vor allem ein Achtgeben auf sich selbst, eine Kenntnis davon, wer er ist, wo er ist, dann ein Aufmerken auf das, was er weiß und was er nicht weiß und so weiter.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 20

Ob der Mensch bewusst ist oder nicht, kann nur er selbst wissen; es ist von außen nicht einsehbar. Das Bewusstsein ist nicht konstant, mal ist es anwesend mal abwesend. Die Qualität des Bewusstseins variiert also und dies kann als Tatsache von jedem Menschen beobachtet werden. Mittels besonderer Übungen und des Studiums des je eigenen Bewusstseins kann das Bewusstsein erforscht, beständig gemacht und kontrolliert werden – so behauptet Ouspensky.

Für Ouspensky steht fest, dass wir uns nur sehr selten unserer selbst wirklich bewusst sind. Wenn ich beispielsweise versuche, den Zeiger einer Uhr zu beobachten und mir gleichzeitig darüber bewusst zu sein, dass ich es bin, die dies tut, und dass ich jetzt hier bin, wird mir dies allerhöchstens zwei Minuten lang gelingen, danach vergesse ich die Empfindung, dass ich da bin.[8].

Ouspensky unterscheidet zwischen vier, potenziell möglichen Bewusstseinsstufen:

  1. Der Schlaf, der Zustand höchster Identifikation, indem das Bewusstsein vollständig vom Traumgeschehen absorbiert wird und in dem wir gewöhnlich vollständig passiv und subjektiv sind.[9]
  2. Der Wachzustand, Halbschlaf oder auch relatives Bewusstsein. Der Zustand, in dem sich die meisten Menschen die meiste Zeit ihres Lebens befinden.[10][11]
  3. Das Bewusstsein seiner Selbst oder Selbsterinnern. In diesem Zustand werden wir uns selbst gegenüber objektiv.[12]
  4. Das objektive Bewusstsein, über diesen Zustand – so betont Ouspensky immer wieder – können wir nichts wissen, da wir zu weit von ihm entfernt sind. Die Bezeichnung allerdings beinhaltet die Möglichkeit, objektives Wissen über Alles erlangen zu können.[13]
Ouspensky,P.D.
„Doch obwohl er die Möglichkeit hat, diese vier Bewusstseinszustände zu kennen, lebt der Mensch tatsächlich nur in zwei dieser Zustände: Ein Teil seines Lebens spielt sich im Schlaf und der andere im sogenannten Wachzustand ab, der sich in Wirklichkeit nur wenig vom Schlaf unterscheidet.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 24

Den dritten Bewusstseinzustand, von dem wir gemeinhin annehmen, dass wir ihn schon haben, erleben wir manchmal bei starken Gemütsbewegungen, in Augenblicken großer Gefahr und manchmal auch, wenn sich nichts besonderes abspielt. Dass wir uns gewöhnlich nicht selbst erinnern, können wir erfahren, indem wir verschiedene Erinnerungen an verschiedene Situationen miteinander vergleichen und feststellen, dass manche Erinnerungen sehr lebendig sind (Gerüche, Farben, Gefühle, Empfindungen und Gedanken), andere sind eher blass und von manchen Dingen, wissen wir nur, dass sie sich ereignet haben, können uns aber überhaupt nicht daran erinnern. Ich weiß beispielsweise, dass ich am Tag X (z.B. dem 18. 4. 1989) mit der U-Bahn zur Universität gefahren bin, kann mich aber überhaupt nicht daran erinnern. Die Erinnerung daran scheint einfach gelöscht zu sein, weil mein Bewusstsein vermutlich von Tagträumen und Phantasien absorbiert war, und diese hinterlassen keinerlei Erinnerungsspuren.

Das angestrebte Bewusstsein seiner selbst entsteht zunächst also eher zufällig. Die Kontrolle darüber zu erlangen und das Bewusstsein seiner selbst absichtlich zu erwirken, ist das Ziel des von Ouspensky formulierten psychologischen Systems. Um das angestrebte Bewusstsein des Selbsterinnerns, das für Ouspensky sowohl eine Methode als auch ein Bewusstseinszustand an sich ist und eine notwendige Voraussetzung für die Erlangung des objektiven Bewusstseins ist, zu erreichen, müssen zunächst die Bedingungen studiert werden, die das Selbsterinnern verhindern. Das größte Hindernis dabei ist, unsere Unwissenheit über uns selbst. Wichtig ist für ihn zu verstehen,

Ouspensky,P.D.
„dass Psychologie wahrhaftig Studium seiner selbst bedeutet.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 26

Immer wieder wird betont, dass die Selbstbeobachtung das wesentliche Erkenntnisinstrument seiner Psychologie ist, dass durch keine andere Art des Studiums ersetzt werden kann. Gestützt auf diese Grundvoraussetzung seiner Psychologie hält sich Ouspensky mit letztgültigen Definitionen psychologischer Zusammenhänge eher zurück. Vielmehr fordert er seine Zuhörer immer wieder auf, seine Annahmen anhand eigener Beobachtungen zu überprüfen.

Hemmnisse bei der Bewusstseinsentwicklung[Bearbeiten]

Die wichtigsten Hemmnisse, die der Bewusstseinsentwicklung im Wege stehen können sind für Ouspensky:

Das Lügen[Bearbeiten]

Das Lügen – was er nicht in einem moralischen Sinne verstanden wissen möchte, denn ein absichtliches Lügen ist hier nicht gemeint, sondern Lüge meint hier:

Ouspensky,P.D.
„Sie bedeutet, von Dingen, die man nicht kennt, die man nicht kennen kann, so zu sprechen, als ob man sie kennen kann, so zu sprechen, als ob man sie kennen würde und als ob man sie kennen könnte.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 50

Dabei ist es vor allem wichtig zu sehen, dass bei den meisten Menschen, diese Art des Lügens automatisiert abläuft. Wir wissen beispielsweise nichts über uns selbst und wissen auch tatsächlich, dass wir nichts wissen, sondern uns lediglich Meinungen und Theorien über uns selbst bilden, die wir oftmals nicht hinreichend überprüfen.

Ouspensky, P.D.
„Dennoch erkennen wir diese Tatsache niemals an oder geben sie zu; wir gestehen sie noch nicht einmal uns selbst gegenüber ein, wir handeln, denken und sprechen, als wüssten wir, wer wir sind: das ist der Ursprung, der Anfang des Lügens“
Quelle: Der vierte Weg, Seite 42

Der Begriff Lüge bezeichnet hier also einen Automatismus, der sich im wesentlichen auf eine Art des Selbstbelügens bezieht. Schon wenn ich Ich sage belüge ich mich – nach Ouspensky – selbst, denn in diesem gegenwärtigen Halbschlafzustand, gibt es in dem, was ich als Ich bezeichne keine Einheit. [14] Diese Art des Lügens bezeichnet Ouspensky in seinem Buch der vierte Weg auch als Erkenntnispuffer[15], die dazu dienen mit unvereinbaren Widersprüchen leben zu können. Wenn ich beispielsweise grundsätzlich die Ansicht vertrete: Ich streite mich nie! wird mir auch niemals auffallen, wenn ich mich tatsächlich einmal streiten sollte und ich werde mein Gegenüber notwendigerweise für einen Lügner oder für paranoid halten, sofern ich nicht bereit bin, diese Ansicht über mich zu revidieren. Indem ich diese oder eine andere ähnliche, eingepflanzte Grundannahme identifiziere und an meinem tatsächlichen Verhalten überprüfe, wird einer möglichen Veränderung der Weg bereitet und in der Folge wohl auch – auf dieses Beispiel bezogen – die Kommunikationsfähigkeit verbessert.

Die Phantasie[Bearbeiten]

Eine erweiterte Form des Sich-selbst-belügens und damit ein weiteres Hindernis für die Selbstbeobachtung ist die Phantasie. Wenn ich mich selbst beobachte bemächtigt sich meiner nach einiger Zeit die Phantasie und ich vergesse die Beobachtung. Für die Selbstbeobachtung ist die Phantasie also keineswegs schöpferisch, sondern entfaltet sogar zerstörerische Kräfte. Deshalb erkennt ein sich selbst beobachtender Mensch,

Ouspensky, P.D.
„dass er sie[16] in keiner Weise kontrollieren kann, und dass sie ihn immer weit fortführt von seinen mehr bewussten Entscheidungen und zwar in eine Richtung, in die er nicht gehen wollte.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 51

Das Ausdrücken negativer Gefühle[Bearbeiten]

Das Ausdrücken negativer Gefühle ist für Ouspensky ein weiteres Hindernis auf dem Wege zur Bewusstwerdung. Negative Gefühle wie Selbstmitleid, Zorn, Angst, Misstrauen Eifersucht usw. sind – nach Ouspensky – nicht nur vollkommen überflüssig, weil sie uns nicht mit neuen Dingen vertraut machen und uns keinerlei Energie geben, sondern wir sie im Gegenteil durch ihren Ausdruck verschwenden, sondern erzeugen zudem unangenehme Illusionen, die in die Zukunft hinein katapultiert und in ihrer Ausdrucksweise den Automatisierungsprozessen unterworfen, letztlich sogar unsere psychische und körperliche Gesundheit angreifen können.

Deshalb sollen diese negativen Gefühle nicht einfach nur beobachtet werden, sondern es soll ihrem Ausdruck auch ein Widerstand entgegengesetzt werden und zwar zunächst, indem man sie nicht mehr verherrlicht und erkennt, dass sie völlig nutzlos sind. [17]

Negative Gefühle haben laut Ouspensky ihre Ursache immer nur in uns selbst. Wir kreieren sie selbst und es gibt absolut keine äußeren Umstände, die sie erzeugen. Wenn wir in einem ängstlichen Zustand sind, suchen wir uns Gegenstände und Menschen vor denen wir Angst haben, mit denen wir unsere Angst identifizieren. Die Ursache der Angst liegt aber Ouspensky zufolge ausschließlich in uns selbst und ist daher niemals äußerlich, sondern immer nur innerlich zu beseitigen.

Es wäre allerdings ein Missverständnis nun anzunehmen, Ouspensky plädiere für eine bloße Unterdrückung negativer Gefühle. Letztlich geht es ihm um eine Verwandlung dieser Gefühle, die zunächst – wie bereits erwähnt – nur beobachtet werden sollen; und Beobachtung ist nur möglich, wenn der Beobachtende sich bemüht, sie nicht automatisch auszudrücken.

Das Reden[Bearbeiten]

Ferner wird die Selbstbeobachtung und die schrittweise Bewusstwerdung durch permanentes unnötiges Reden (gemeint ist hier vor allem, aber nicht nur, das innere Reden) beeinträchtigt. Wer permanent mit sich oder anderen redet, kann sich nicht beobachten. Lüge, Phantasie, der Ausdruck negativer Gefühle und unnötiges Reden begünstigen in ihrer automatisierten Funktionsweise ein Verharren im Halbschlafzustand, den es durch die schrittweise Beobachtung und Bewusstwerdung dieser Automatismen zu überwinden gilt.

Die Identifikation[Bearbeiten]

Der letzte Punkt, der die Bewusstwerdung und die Selbstbeobachtung behindert ist die Identifikation. Durch die fortschreitende Selbstbeobachtung wird entdeckt, dass wir uns mit Dingen, Prozessen, Gefühlen und Gedanken identifizieren.

Ouspensky, P.D.
„Die Identifizierung ist ein merkwürdiger Zustand, in dem der Mensch mehr als die Hälfte seines Lebens verbringt. Er ´identifiziert´ sich mit allem: mit dem, was er sagt, mit dem, was er weiß, mit dem, was er glaubt, mit seinen Begierden, mit dem, was ihm nicht erwünscht ist, was ihn anzieht und was ihn abstößt. Alles saugt ihn auf, und er ist nicht fähig, sich von der Idee, von dem Gefühl oder dem Gegenstand zu trennen, der ihn verschlingt. dies besagt, dass der Mensch im Zustand der Identifizierung unfähig ist, den Gegenstand seiner Identifizierung unparteiisch zu betrachten.“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 53

Sämtliche unwirkliche und unnötige Erscheinungsformen wie die Lüge, die Phantasie (gemeint ist hier immer nur die unkontrollierte Tagträumerei; Phantasie sinnvoll und bewusst eingesetzt ist auch mit Ouspenskys psychologischem System vereinbar; der richtige Einsatz der Phantasie wäre dann sich vorzustellen, man sein bewusst[18]), der Ausdruck negativer Gefühle und das unnötige Reden sind nur durch den Zustand der Identifikation überhaupt möglich. Ein wesentlicher Gesichtspunkt des gegenwärtigen Halbschalfzustandes, indem sich die weitaus meisten Menschen Ouspensky zufolge befinden, ist in dieser Barriere zu sehen, die hauptsächlich dazu beiträgt, den Menschen am Erwachen zu hindern. Denn wenn wir identifiziert sind, können wir nicht beobachten und wenn wir uns nicht beobachten können, fällt uns auch nicht auf, dass wir eigentlich schlafen.

Ouspensky, P.D.
„Es ist unmöglich bewusst zu sein, wenn Sie sich identifizieren“
Quelle: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Seite 145

Selbsterinnern als Methode[Bearbeiten]

Wie bereits erwähnt ist die Erkenntnis, dass die meisten unserer Gedanken und Handlungen vollständig automatisiert ablaufen, wir weitestgehend identifiziert sind und somit permanent in einem Halbschlafzustand verweilen und nur in den seltensten Momenten unserer selbst gewahr sind (oder mit den Worten Ouspenskys gesprochen: die Erkenntnis, dass der Mensch eine Maschine ist), die unbedingte Voraussetzung ohne die überhaupt keine Entwicklung möglich ist. Wer dies allerdings erkannt hat, kann mit der Arbeit beginnen.

Die Frage ist also nun: Wie kann ich bewusster werden? Dazu ist es zunächst notwendig, Augenblicke des Selbsterinnerns zu finden und sie mit anderen nicht-bewussten Augenblicken zu vergleichen[19] und sich beispielsweise nach einer abgeschlossenen Handlung (z.B. nachdem ich soeben diesen Absatz gelesen habe) zu fragen :War ich während dieser Handlung bewusst – mir also gewahr, dass ich bin und wo ich bin – oder nicht?

Was einen bewussten Moment ausmacht, kann nicht beschrieben werden, sondern nur der Erlebende selbst kann diesen Unterschied bei sich selbst feststellen. Es ähnelt allerdings einer Art geteilter Aufmerksamkeit:

Ouspensky, P.D.
„Aber wenn sie zur selben Zeit, in der Sie beobachten, bewusst sind, wird die Richtung ihrer Aufmerksamkeit zwei Pfeilen ähneln, von denen der eine die Aufmerksamkeit zeigt, die auf den Gegenstand der Beobachtung gerichtet ist, und der andere auf sie selbst.“
Quelle: Der vierte Weg, Seite 123

Wenn man beginnt zu erkennen, dass man sich gewöhnlich nicht selbst erinnert, wird Selbsterinnerung langsam möglich.

Ouspensky, P.D.
„Wenn die Erkenntnis, dass wir uns nicht selbst-erinnern, stetig wird, dann können wir uns selbst erinnern. Jeden Tag können sie Zeit zu der Erkenntnis finden, dass Sie sich nicht Selbst-erinnern; das wird Sie schrittweise zum Selbst-erinnern führen. Ich meine nicht, sich zu erinnern, dass sie sich nicht selbst-erinnern, sondern es zu erkennen.“
Quelle: Der vierte Weg, Seite 125

Eine überaus wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Methode des Selbsterinnerns spielen die Gedanken, da die Gedanken (bzw. die Denkfunktion) das einzige sind, über das wir eine gewisse eingeschränkte Kontrollmöglichkeit haben. Wenn wir sie darauf richten, uns beständig daran zu erinnern, dass wir uns nicht erinnern, wird die Erkenntnis möglich, dass wir uns nicht erinnern und damit wird selbst-erinnern möglich, denn am Bewusstsein selbst kann Ouspensky zufolge nicht gearbeitet werden. Wenn ich beispielsweise augenblicklich bemerke, dass ich mich identifiziere, kann ich mich Kraft einer Gedankenanstrengung vielleicht aus der Identifizierung lösen. Allerdings ist das Verhältnis von Denken und Selbsterinnern auch für Ouspensky nicht einfach zu beschreiben, da Denken genauso wie Gefühle und Empfindungen für ihn Funktionen darstellen, Bewusstseinszustände aber nicht:

Ouspensky, P.D.
„Denken ist ein mechanischer Vorgang, es kann ohne oder mit sehr wenig Bewusstsein arbeiten.[20] Und Bewusstsein kann ohne einen wahrnehmbaren Gedanken existieren.“
Quelle: Der vierte Weg, Seite 130

Daraus ergibt sich, dass man sich in seinen Bemühungen um Selbsterinnerungzustände nicht allein auf die Denkfunktionen verlassen kann, da die Gefahr, dabei in weitere Automatisierungsprozesse zu versinken, offensichtlich erscheint.

Deshalb ist eine Übung, die zu Selbsterinnerung führen kann, zu versuchen, seine Gedanken anzuhalten, was ausgesprochen schwierig ist, da sich nur allzu oft leise Gedanken wieder einschleichen:

Ouspensky, P.D.
„Sie können die Gedanken anhalten, aber sie dürfen nicht enttäuscht sein, wenn es ihnen anfangs nicht gelingt [...]. Sie können sich nicht sagen Ich will meine Gedanken anhalten, und sie hören auf. Sie müssen sich die ganze Zeit anstrengen. Deshalb dürfen sie es nicht lange tun. Es reicht vollauf, wenn sie es für wenige Minuten tun, sonst werden Sie sich selbst überreden, Sie täten es, während Sie einfach ruhig dasitzen und denken und sehr glücklich darüber sind.“
Quelle: Der vierte Weg, Seite 133

Aber auch dies sind lediglich Vorschläge seitens Osuspenskys, die keine Allgemeingültigkeit beanspruchen und von jedem als Methodik unterschiedlich erlebt werden. Fest steht, dass die Entwicklung des Bewusstseins eine gewaltige Anstrengung erfordert, die nur von dem Menschen, der diesen Weg gehen will, geleistet werden kann. Die Voraussetzung dazu ist, dass ein fester Entschluss gefasst wird, aus dem Halbschlafzustand zu erwachen. Um diesen Entschluss allerdings fassen zu können und sich auf diese anstrengende Reise begeben zu können, ist es auch erforderlich, sich zu vergegenwärtigen, welchem Zweck die ganze Arbeit dienen könnte. Auf die Frage nach dem Zweck antwortet Ouspensky:

Ouspensky, P.D.
„Wenn wir Willen haben, wenn wir frei sein möchten, anstatt Marionetten zu sein, wenn wir erwachen wollen, müssen wir Bewusstsein entwickeln. wenn wir erkennen, dass wir schlafen, dass alle Menschen schlafen, und was das bedeutet, werden dadurch alle Absurditäten des Lebens geklärt. Es ist ganz klar, dass die Menschen, wenn sie schlafen, nicht anders handeln können, als sie es jetzt tun.“
Quelle: Der vierte Weg, Seite 131

Er behauptet weiter, wenn wir nur etwa 15 Minuten bewusst wären, könnten wir die Welt mit völlig neuen Augen betrachten und ein Unmenge daraus lernen.

Zusammenfassung[Bearbeiten]

Nichts ist so schwierig wie einen automatisierten Prozess als solchen zu identifizieren und dann zu ent-automatisieren und kaum etwas ist so schwierig wie sich aus einer Identifikation, und sei sie auch noch so winzig – wie etwa das Kleben der Aufmerksamkeit auf der Mattscheibe eines Fernsehers oder einer Kinoleinwand, bei der wir unsere eigentliche Existenz, die gerade in einem Sessel sitzt, vollständig vergessen – dauerhaft zu lösen. Wenn es gelingt, dann immer nur für Sekunden und schon lassen wir zu, dass das Bewusstsein von äußeren oder inneren Geschehnissen wieder absorbiert wird. Einen Seinszustand frei von diesen Attributen zu erlangen, wird zwar von allen beschriebenen Autoren in Aussicht gestellt (einschließlich Ornstein) und von allen wird auch die Notwendigkeit einer Bewusstseinsentwicklung betont, doch die Möglichkeiten, diese zu erlangen und ihre Beschreibungen, bleiben allemal vage. Wobei nicht ganz klar ist, ob dies nun ein Vorteil oder ein Nachteil der vorgestellten Methoden ist.

Als eine gut nachvollziehbare Methodik der Bewusstseinerweiterung erweist sich der Klartraum und die Möglichkeiten seiner Induzierbarkeit, dem in den letzten Jahren auch von der sogenannten anerkannten Wissenschaft erhebliche Beachtung geschenkt wurde.


Quellen[Bearbeiten]

  1. Ouspensky, P.D.: Tertium Organum, Barth-Verlag, Bern/München, 1980, Seite 352
  2. Lefort, R.: Die Lehrer Gurdjefs – Reise zu den Sufi-Meistern, Bruno Martin Verlag, Fulda, 1980
  3. Ouspensky, P.D.: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Plejaden-Verlag, Berlin 1988, Seite 12
  4. Ouspensky, P.D.: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Plejaden-Verlag, Berlin 1988, Seite 11
  5. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seite 112
  6. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seite 113
  7. Ouspensky, P.D.: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Plejaden-Verlag, Berlin 1988, Seite 20
  8. Ouspensky, P.D.: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Plejaden-Verlag, Berlin 1988, Seite 24
  9. Ouspensky, P.D.: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Plejaden-Verlag, Berlin 1988, Seite 34
  10. Ouspensky, P.D.: Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen, Plejaden-Verlag, Berlin 1988, Seite 34
  11. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seiten 64–65, Seiten 121 ff.
  12. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seiten 64–65, Seiten 122 ff.
  13. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seiten 64–65, Seiten 122 ff.
  14. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seite 42
  15. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seite 45
  16. gemeint ist die Phantasie
  17. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seiten 19–23, Seiten 81–85
  18. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seite 121 ff.
  19. Ouspensky, P.D.: Der vierte Weg, Basel, Sphinx-Verlag, 1983, Seiten 121 ff.
  20. Das klingt zunächst verwunderlich, weil gerade das Denken von uns zumeist das Attribut des Bewussten zugeschrieben bekommt. Deshalb ein Beispiel: Ich habe sicherlich in einem beliebigen Seminar in der Universität an einem Tag X viele Überlegungen angestellt, die sich auf die dargelegten Texte bezogen und vermutlich auch nicht einer gewissen Logik entbehrten, trotzdem kann ich mich an die meisten dieser angestrengten Überlegungen nicht erinnern, während einige mir noch sehr lebendig in Erinnerung geblieben sind (besonders jene, bei denen ein Aha-Effekt zustande kam). Folglich war ich mir meiner selbst bei den meisten dieser Überlegungen nicht gewahr.

 

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1. Einleitung2. Der Begriff Bewusstsein3. Bewusstseinseinschränkung als Wahrnehmungseinschränkung4. Wahrnehmungserweiterung in der Mystik5. Die Methode des Selbsterinnerns6. Wachheit im Schlaf-Theorie7. Wachheit im Schlaf-Praxis8. Selbsterinnern, Klartraum und Klarheit im Wachzustand9. Literatur