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Sensorische Systeme/ Allgemeines/ Sensorische Ausfälle

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Neuroplastizität

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Die Vorstellung, dass sich die funktionelle und strukturelle Organisation des Gehirns auch im erwachsenen Gehirn verändern kann, existiert schon seit einigen Jahrzehnten. Bereits Ramón y Cajal stellte 1928 fest, dass sich Neurone nach Läsionen regenerieren können[1]. Aber erst in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten konnte gezeigt werden, welche Veränderungen stattfinden und wie diese geschehen.

Diese Veränderungen des Gehirns werden als Gehirnplastizität oder Neuroplastizität bezeichnet. Die Neuroplastizität kann in funktionelle und strukturelle Plastizität unterteilt werden. Obwohl die Struktur und Funktion des Gehirns natürlich miteinander verbunden sind, ist es wichtig, zwischen diesen beiden Konzepten zu unterscheiden, da sie unterschiedlich gemessen werden und unabhängig voneinander auftreten können[2].

Strukturelle Neuroplastizität

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Strukturelle Neuroplastizität bezieht sich auf Veränderungen im Hirngewebe. Dies können Veränderungen in der grauen oder in der weissen Substanz des Gehirns sein. Änderungen der grauen Substanz sind meist Änderungen der Dichte oder des Volumens. Genauer gesagt wird die Dicke oft durch Erfahrung verändert, während die Fläche einer Gehirnregion unverändert bleibt. Die Fläche scheint grösstenteils genetisch bedingt zu sein, auch wenn nicht alle Bereiche des Gehirns die gleiche Erblichkeit der Dichte der grauen Substanz aufweisen. Beim Menschen zeigen meist frontale und perisylvische Teile des Gehirns eine geringere Erblichkeit in der Dichte der grauen Substanz als der Rest des Gehirns[3].

Auf einem Schnitt des Gehirns erscheinen Schichten in denen die Zellkörper der Nervenzellen liegen eher grau, während die Fasertrakte eher weisslich erscheinen. Auf dieser Basis unterscheidet man in graue und weisse Substanz.

Dichte, Volumen, Fläche und Dicke der grauen Substanz werden im lebenden menschlichen Gehirn am häufigsten mittels Magnetresonanztomographie (MRT) gemessen.

Änderungen der weissen Substanz können auch Volumenänderungen sein, sind aber viel häufiger Veränderungen der Integrität, wie Veränderungen in der Faserorganisation, dem Grad der Myelinisierung oder Änderungen der axonalen Breite[4]. Die Integrität der weissen Substanz wird durch den Diffusions-Tensor bestimmt, der im lebenden Gewebe durch eine Methode namens Diffusions-Tensor-Magnetresonanztomographie oder kurz gesagt Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) gemessen wird. Es ist eines der Messprotokolle, die von MRT-Geräten verwendet werden können[5].

Funktionelle Neuroplastizität

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Die Abbildung zeigt ein typisches fMRI Bild. Farbig eingefärbt sind jene Voxel (3D Äquivalent zu Pixel) die sich statistisch signifikant von einem Grundzustand unterscheiden. Die gefärbten Areale sind also mit einer hohen Wahrscheinlichkeit aktiver als zuvor.

Unter funktioneller Neuroplastizität versteht man Veränderungen in der Funktion von Hirnarealen oder Veränderungen von Aktivierungsmustern, hervorgerufen durch Erfahrung oder Training. Ein Gehirnbereich kann seine Funktion verändern, ohne dabei seine Fläche zu verändern. Ebenso kann sich ein Aktivierungsmuster, ohne messbare Veränderungen in der Struktur des Hirngewebes, ändern. Ein verändertes Aktivierungsmuster bedeutet, dass einige Bereiche nach dem Training aktiver und andere weniger aktiv sein können. Jedoch muss weniger Aktivierung nicht gleich weniger Leistung bedeuten. Reduzierte Aktivierung eines Bereichs kann verursacht werden, weil ein anderer, vielleicht spezialisierterer Bereich, die Funktion übernimmt oder weil der weniger aktive Bereich nach dem Training einfach effektiver ist. Genauso wird aber auch oft angenommen, dass eine stärkere Aktivierung auf eine höhere Leistungsfähigkeit nach dem Training zurückzuführen ist[6].

Die gebräuchlichste Methode zur Messung der Aktivierung im menschlichen Gehirn ist die Blut-Sauerstoff-Level abhängige (BOLD) Kontrastbildgebung, die in der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) eingesetzt wird. Sie misst das Verhältnis von oxygeniertem und desoxygeniertem Hämoglobin, woraus die Gehirnaktivität abgeleitet werden kann[7]. Bei Tieren werden invasive, aber viel präzisere Methoden wie z.B. Einzelzell-Aufnahmen mit Mikroelektroden am offenen Schädel eingesetzt.

Veränderungen im visuellen Kortex

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Während der Reifung durchlaufen einige Gehirnfunktionen eine kritische Phase. In der "kritischen Phase" ist das Gehirn besonders empfindlich gegenüber bestimmten vorgegebenen Reizen. Wenn das Nervensystem in diesem kritischen Zeitfenster keine entsprechenden Reize erhält, entwickelt sich die Funktion zur Verarbeitung dieser Reize nicht normal. Später im Leben wird es schwierig oder gar unmöglich sein, diese Funktion zu entwickeln[8].

Spracherwerb ist vielleicht das bekannteste Phänomen beim Menschen, das eine kritische Phase durchläuft. Ein weiteres Beispiel ist die Prägung von Gänsen auf die Mutter kurz nach der Geburt.

Auch das visuelle System durchläuft eine kritische Phase. Es wurde herausgefunden, dass diese Phase bei Katzen nur ein paar Tage im Alter von etwa vier Wochen andauert. Dasselbe gilt für Affen, jedoch dauert ihre kritische Phase bis zu 6 Monate.

Verlust der Sehkraft

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Der Mangel an visuellem Input während der kritischen Phase führt zu einer Veränderung der neuronalen Konnektivität im visuellen Kortex[8]. Diese Veränderungen lassen sich an der unausgewogenen Entwicklung der okularen Dominanzsäulen, nach Verlust der Sehkraft eines Auges, erkennen. Okuläre Dominanzsäulen reagieren bevorzugt auf den Input des einen oder anderen Auges. Sie liegen im Streifenmuster auf dem primären visuellen Kortex (V1) und sind vor allem in der Kortikalschicht 4, aber auch in anderen Schichten, vorhanden. Die Streifen haben eine Breite von ca. 0.5 mm. Die Dominanzsäulen können durch Injektion eines radioaktiven Aminosäure-Tracers in ein Auge visualisiert werden, welcher anschliessend in die vierte Schicht transportiert wird. Bei Versuchen mit jungen Katzen wurde in der kritischen Phase (erste drei Monate nach der Geburt) eines ihrer Augen geschlossen. Wurde das Sehen eines Auges in der kritischen Phase beeinträchtigt, übernehmen die okularen Dominanzsäulen, die eine visuelle Stimulation erhalten, den Bereich des benachteiligten Auges. So werden die Streifen des stimulierten Auges auf Kosten des benachteiligten Auges breiter[9]. Dies bedeutet, dass eine konkurrierende Interaktion zwischen beiden Augen gefunden werden kann, basierend auf der Menge der empfangenen visuellen Stimulation.

Die Abbildung zeigt auf der rechten Seite den Weg den Informationen aus dem Auge zum visuellen Kortex beim Menschen nehmen, die linke Seite den visuellen Weg einer Maus. Die Informationen von rechtem und linkem Auge werden bis zum primären visuellen Kortex beim Menschen (V1) getrennt verarbeitet. Im visuellen Kortex werden sie in sogenannten okulären Dominanzsäulen (rot und blau) repräsentiert. Wenn ein Auge während der Entwicklung verschlossen bleibt, verbreitern sich die Dominanzsäulen des gesunden Auges auf Kosten der Säulen des geschlossenen Auges.

Wenn beide Augen während der kritischen Phase geschlossen waren, blieb die Darstellung beider Augen in den okularen Dominanzsäulen ausgewogen und das Sehen in beiden Augen erhalten. Ein Viertel der Neuronen im visuellen Kortex werden überwiegend von nur einem Auge stimuliert. Wenn ein Auge in der kritischen Phase keine visuellen Inputs erhaltet, übernimmt das normal funktionierende Auge. Dennoch haben Tests ergeben, dass periphere Zellen in der Netzhaut oder der genikulären Schicht des geschlossenen Auges noch normal funktionieren.

Das Prinzip der kompetitiven Interaktion beider Augen während der kritischen Phase hat für Kleinkinder wichtige Konsequenzen: eine ausgewogene Stimulation beider Augen ist Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung. Die Inputs beider Augen können durch Geburtsfehler oder Augenverletzungen unausgeglichen sein. Wenn diese Unausgeglichenheit in der kritischen Phase nicht abheilt, kann dies zu einer "Amblyopie" führen, einer dauerhaften Sehschwäche mit schlechter binokularer Fusion, verminderter Tiefenwahrnehmung und verminderter Sehschärfe[8].

Strabismus, manchmal auch als "lazy eye" bezeichnet, ist die Fehlfunktion eines Auges und kann eine Amblyopie verursachen. Die Dysfunktion eines extraokularen Muskels kann es unmöglich machen, beide Augen auszurichten und sich auf ein Objekt zu fokussieren. Strabismus kann entweder als "Esotropie" auftreten, bei der sich der Blick der Augen kreuzt, oder als "Exotropie", bei der der Blick der beiden Augen divergierend ist. Das daraus resultierende Doppeltsehen führt zur Unterdrückung von Informationen eines Auges. Dies kann mit dem oben beschriebenen Verlust der Sehkraft eines Auges verglichen werden. In solchen Fällen ist eine frühzeitige Operation der extraokularen Muskulatur erforderlich, um eine ausgewogene Entwicklung des visuellen Kortex zu gewährleisten.

Eine weitere Erkrankung, die zu Sehstörungen von einem oder beiden Augen führen kann, ist der "graue Star", ein Verschwimmen der Augenlinse und/oder der Hornhaut. Diese Unschärfe kann durch bakterielle oder parasitäre Infektionen (Onchozerkose) verursacht werden, die häufig in tropischen Regionen auftreten und Millionen von Menschen betreffen. Vor allem in Entwicklungsländern bleibt diese Krankheit in der kritischen Phase oft unbehandelt, was dazu führt, dass die anschliessende Wiederherstellung des Sehvermögens das Binokularsehen nicht mehr ermöglichen kann.

Möglichkeiten zur Regeneration des visuellen Systems

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Das Gehirn von Kleinkindern ist viel plastischer als ein reifes Gehirn. Dies gilt insbesondere für den motorischen und somatosensorischen Bereich und bis zu einem gewissen Grad auch für das visuelle System. Diese Plastizität beinhaltet nicht nur die oben genannten Modifikationen, sondern auch die Möglichkeit, die Funktion nach einer Hirnschädigung wiederherzustellen. Die Fähigkeit der Plastizität hängt jedoch von der Lage und der Art der Läsion ab, wie unten beschrieben. Für die Wiederherstellung des Sehvermögens können wir zwischen bewusstem und unbewusstem Sehen unterscheiden. Die Wiederherstellung des vollen bewussten Sehvermögens erfordert einen funktionierenden Weg zwischen der Retina und dem V1[10]. Wenn der V1 beschädigt ist, kann das Sehen bis zu einem gewissen Grad in Form von unbewusstem Sehen wiederbelebt werden. Unbewusstes Sehen beinhaltet die Sensibilität für Bewegung, Form und Farbe. Es gibt Hinweise, dass unbewusstes Sehen besser entwickelt werden kann, wenn der Schaden in der frühen Kindheit auftritt[11].

Dennoch, wenn die Sehkraft von Geburt an eingeschränkt ist, ist die Wiedererlangung der Sehkraft auch für Kleinkinder schwierig, auch wenn nicht unmöglich. Pawan Sinha, indischer Wissenschaftler und Professor für Vision und Computational Neuroscience am MIT in Cambridge, gründete das Projekt Prakash. Diese Initiative hat das Ziel, Kinder in Indien mit Katarakt und Hornhauttrübung zu finden und zu behandeln. Seit dem Gründungsjahr 2003 wurden bereits 40'000 Kinder untersucht und über 400 Kinder chirurgisch behandelt[12]. Aus diesem Projekt entstanden neue Erkenntnisse zur Entwicklung des menschlichen visuellen Systems. Unmittelbar nach der Operation und dem Beginn des Sehens konnten ehemals angeborene blinde Kinder einen Gegenstand, den sie kurz zuvor mit den Händen gefühlt hatten, nicht visuell erkennen. So kommen die Autoren zu dem Schluss, dass es keine angeborene Verbindung zwischen Tasten und Sehen gibt, dass die Korrelation zwischen dem, was wir sehen, mit dem, was wir berühren, zuerst gelernt werden muss. Bereits eine Woche nach der Operation konnten die Kinder das Gesehene mit den berührten Objekten in Verbindung bringen. Nicht nur, dass man gesehene Objekte mit berührten Objekten in Beziehung setzt, auch die Objekterkennung ist sehr schlecht, vor allem wenn sich die Objekte nicht bewegen und überlappen. Bewegung scheint bei der Trennung verschiedener Objekte eine wichtige Rolle zu spielen. Die Fähigkeit, nach einer angeborenen Erblindung wieder zu sehen, bleibt offenbar auch bei Erwachsenen erhalten. Ostrovsky et al. berichten von einem 29-jährigen männlichen Patienten, der eine Refraktärkorrektur erhielt und teilweise wieder sehen konnte. Schon nach einem Monat konnte er verschiedene, sich nicht bewegende, überlappende Objekte unterscheiden[13].

Obwohl dies beeindruckende Ergebnisse sind, bleibt unklar, inwieweit diese Kinder wirklich als angeborene Blinde betrachtet werden können, da viele von ihnen nicht völlig blind sind und die meisten von ihnen nicht blind geboren wurden, sondern in der frühen Kindheit das Augenlicht verloren haben.

Auch gesunde, sehende Erwachsene haben die Fähigkeit zur Anpassung und Plastizität im visuellen System. Eine Studie wurde mit 24 Freiwilligen durchgeführt, welche in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. Eine Gruppe wurde einem Jonglier-Training zugeordnet, die andere Gruppe diente zur Kontrolle und erhielt kein Training. Alle Studienteilnehmer waren zum Zeitpunkt der Rekrutierung noch unerfahren im Jonglieren. Die Teilnehmer der Jongliergruppe hatten 3 Monate Zeit, um das Jonglieren mit 3 Bällen zu erlernen. Es wurde angenommen, dass sie das Niveau eines erfahrenen Darstellers erreicht haben, wenn sie mindestens 60 Sekunden lang jonglieren konnten. MRT-Gehirnscans wurden vor Beginn des Trainings durchgeführt, gleich nach der letzten Trainingseinheit und 3 Monate nach der letzten Trainingseinheit. Vor dem Training zeigten die beiden Gruppen keine Unterschiede. Die Jongliergruppe zeigte eine signifikante Ausdehnung der grauen Substanz in V5/MT bilateral und im linken posterioren intraparietalen Sulkus (IPS). Drei Monate nach dem Training wurde die graue Substanz bei V5 und IPS wieder deutlich reduziert, aber war immer noch über dem Niveau des Scans vor dem Training[14].

Kompensatorische Plastizität

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Kompensatorische Plastizität ist die Veränderung der neuronalen Reaktionsfähigkeit auf einen sensorischen Input nach dem Entzug seines primären sensorischen Inputs. Ein anschauliches Beispiel ist die Verwendung der Schnurrhaare durch das Nagetier. Die Schnurrhaare helfen den Nagetieren sich im Raum zu orientieren, besonders im Dunkeln. Wird das Sehen in jungen Jahren eingeschränkt, kann man beobachten, dass die Schnurrhaare länger werden, was die Orientierung des blinden Nagetiers verbessern sollte[15]. Die gleiche Verbesserung der komplementären Sinnesorgane, z.B. des Gehörs und des Tastsystems, findet sich auch nach Sehbehinderung beim Menschen.

An gesunden und blinden Katzen wurden Versuche zur Schallortung durchgeführt. Diese Tests ergaben, dass die blinden Tiere den Schall genauer lokalisieren konnten. Blinde Katzen machen eine typische vertikale Kopfbewegung, um die Schallquelle zu lokalisieren. Dieser Kompensationsprozess soll dazu beitragen, die allgemeine Schallwahrnehmung und -lokalisation zu verbessern[16].

Bei einer Untersuchung am Menschen wurden sehenden und blinden Menschen auditorische Reize gegeben. Während der okzipitale Kortex bei den Sehenden keine Reaktion auf die auditorischen Reize zeigte, war er bei den Blinden aktiv. Dieses Phänomen wurde durch eine weitere Untersuchung bestätigt, welche die transkranielle Magnetstimulation (TMS) zur Hemmung der Hirnaktivität im okzipitalen Kortex einsetzte. So nahm die Leistung der Schalllokalisation der Blinden ab, während die Fähigkeit zur Tonhöhen- oder Intensitätserkennung unverändert blieb. Die Lokalisationsgenauigkeit korrelierte bei blinden Probanden positiv mit dem Grad der okzipitalen Aktivierung. Diese Intervention zeigte jedoch keine Effekte für normalsichtige Probanden in ihrer Hörwahrnehmung[17].

Ein weiteres faszinierendes Beispiel ist die Echolokation. Es gibt einige Blinde, die sich aktiv echolotisieren können. Sie haben gelernt, mit ihren Zungen und Mündern Klicks zu erzeugen und den reflektierten Schall so zu interpretieren, dass sie sich orientieren und Abstände zu verschiedenen Objekten in der Umgebung definieren können. Solche echolokierende Klicks sind typischerweise kurz (10 ms) und spektral breit. Früh- und Spätblinde können die Fähigkeit zur Echolokation erreichen. Aber es scheint, dass nur Angeborene und Früherblindete eine weit verbreitete Aktivierung im okzipitalen Kortex um den Sulcus calcarinus herum haben, Späterblindete jedoch nicht[18].

Wir können daraus schliessen, dass Plastizität bis ins Erwachsenenalter möglich ist, obwohl es auch für das visuelle System eine kritische Phase gibt. Wenn der okzipitale Kortex in dieser kritischen Phase nicht visuell stimuliert wird, dann werden sich zumindest einige Funktionen des visuellen Systems nie entwickeln. Und möglicherweise wird der visuelle Kortex sogar einer völlig anderen Funktion wie der Echolokalisierung zugeordnet. Inwieweit genau der visuelle Kortex nach der kritischen Phase plastisch bleibt, wird noch diskutiert.

Veränderungen im somatosensorischen Kortex

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Eines der ersten Experimente zur funktionellen Plastizität im somatosensorischen Kortex wurde von Merzenich et al. (1984) an Primaten durchgeführt. Zunächst definierten sie mit Mikroelektroden die kortikalen Repräsentationen der Finger im Handbereich von erwachsenen Eulenaffen. Dann wurden die Mittelfinger der Affen amputiert und der Handbereich 2-8 Monate nach der Amputation erneut beobachtet. Sie fanden heraus, dass sich die Repräsentationen der benachbarten Fingern erst nach zwei Monaten in den Bereich des ehemaligen Mittelfingers ausdehnten. Dadurch erhielt die umgebende Haut eine vergrösserte Repräsentation im Kortex, während gleichzeitig die rezeptiven Feldgrössen der umgebenden Haut schrumpften. Es scheint, dass die Rekrutierung von mehr Neuronen für den gleichen Teil der Haut durch kleinere Grössen der rezeptiven Felder ersetzt wurde[19].

Genauso verschwand die Grenze zwischen den Bereichen, die zwei Finger eines Eulenaffen repräsentieren, wenn diese Finger chirurgisch verbunden waren und so der Input dieser beiden Finger stark korrelierte[20]. Auf der anderen Seite, wenn die Finger des Affen einer feineren und komplexeren Stimulation unter Verwendung einer gewellten rotierenden Scheibe ausgesetzt wurden, erweiterte sich nach 80 Tagen der Bereich, der den stimulierten Finger repräsentiert. Möglicherweise, weil eine feine Stimulation kleinere rezeptive Felder benötigte, also entsprechend mehr Neurone rekrutiert werden mussten und der Fingerbereich wuchs[21].

Phantomglieder

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Ramachandran (1993) hat einen ersten und prägenden Einblick in die funktionelle Plastizität beim Menschen gegeben. Er fand heraus, dass einige Patienten, welchen ein oberes Gliedmass amputiert wurde, das Gefühl hatten, dass jemand ihren inexistenten Arm berührte, wenn er ihr ipsilaterales Gesicht mit einem Wattestäbchen stimulierte. Er konnte sogar eine Karte des ehemaligen Gliedes auf die Wange und den Kiefer des Patienten zeichnen. Diese Repräsentation der amputierten Extremität im Gesicht hatte gut definierte Grenzen und blieb über mehrere Wochen stabil. Da der Gesichtsbereich auf dem somatosensorischen Kortex direkt neben dem Handbereich liegt, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Gesichtsbereich nun die Neuronen rekrutiert, die früher von dem amputierten Gliedmass Input erhielten, genau wie im Experiment mit den Eulenaffen. Im Zuge der Reorganisation reagieren einige Neuronen auf die eingehende Sinnesreizung aus dem Gesicht, während sie noch in das ehemalige Handnetz eingebunden sind und so eine Repräsentation der amputierten Extremität auf dem ipsilateralen Gesicht verursachen. Diese Repräsentation verschwindet meist nach einiger Zeit wieder, wenn der Rekrutierungsprozess abgeschlossen ist[6]. Möglicherweise hat auch das Gefühl von Phantomschmerz mit diesem Vorgang zu tun. Manche Patienten empfinden ein Gefühl, als wäre ihr amputiertes Glied noch da, das "Phantomglied" genannt wird. Einige erleben schmerzhafte, unwillkürliche Krämpfe in ihrem Phantomglied[22]. Häufig, wenn die Übergangszeit vorbei ist und die ehemaligen Gliedmassenneuronen vollständig in andere Bereiche, wie das Gesicht, integriert sind, verschwindet das Gefühl des Phantomgliedes. Aber einige Patienten leiden unter anhaltenden Phantomschmerzen. Eine häufig angewandte Therapie in diesen Fällen ist die Spiegeltherapie, bei der ein Spiegel senkrecht vor den Patienten platziert wird, so dass im Spiegel die intakte Extremität überlagert, wo sich die amputierte Extremität befinden würde. Obwohl die Spiegeltherapie nicht allen Patienten hilft[23], profitieren einige davon, zum Beispiel indem sie ihre gesunde Hand öffnen und sich so auch mental vorstellen können, wie sich ihre Phantomhand öffnet. Dadurch können sie von der anhaltenden Verkrampfung erlöst werden. Ohne den Spiegel konnten sie die Phantomhand nicht entspannen[22].

Aber nicht nur funktionelle, sondern auch strukturelle Veränderungen können nach der Amputation eines Gliedes beobachtet werden. Draganski et al. fanden heraus, dass Patienten mit einer amputierten Extremität signifikant weniger graue Substanz im thalamischen ventralen posterolateralen Kern hatten, als altersgerechte gesunde Kontrollen. Ausserdem korrelierte die Zeit seit der Amputation signifikant mit dem Verlust der grauen Substanz im Thalamus (r=.39)[24].

Erwerben durch Training

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Viele Studien wurden auch an Musikern durchgeführt. Musiker trainieren sehr intensiv und oft ein Leben lang, daher sind sie die idealen Probanden für Querschnittsstudien. Musiker, die Saiteninstrumente spielen haben zum Beispiel einen grösseren Bereich für die Repräsentation ihrer Finger der linken Hand auf dem somatosensorischen Kortex als Nicht-Musiker. Und je früher ein Musiker in seinem Leben begann, desto grösser ist diese Fläche seiner nicht-dominanten Hand[25].

Pianisten, die eine Klopfbewegung durchführen, zeigten eine deutlich geringere Aktivierung der primären und sekundären Motorbereiche als Nicht-Musiker. Eine Möglichkeit, dieses Ergebnis zu erklären, ist, dass das intensive und lang anhaltende Handtraining der Pianisten die Effizienz der motorischen Bereiche erhöht hat. So aktiviert die gleiche Aufgabe bei gut trainierten Probanden weniger Neuronen als bei untrainierten[6]. Auch Musiker durchlaufen verschiedene Veränderungen des auditorischen Kortex (mehr dazu im nächsten Abschnitt).

Ein häufig geäusserter Kritikpunkt an Querschnittsstudien ist, dass es nicht möglich ist zu entscheiden, ob die Unterschiede in bestimmten Hirnarealen bei trainierten Menschen durch das Training verursacht wurden oder ob sie sich nur für eine bestimmte Aufgabe (z.B. Musiker werden) entschieden haben, weil sie speziell für diese Aufgabe in der Lage waren und die jeweilige Hirnareale bereits vor dem Training effektiver oder grösser waren. Nur Längsschnittstudien könnten da Licht ins Dunkel bringen.

Eine Längsschnittstudie wurde mit 10 Rechtshänder-Patienten durchgeführt, welche eine Verletzung der oberen rechten Extremität hatten, die eine Ruhigstellung für mindestens zwei Wochen erforderte. Innerhalb von 2 Tagen nach der Verletzung wurde ein Hirnscan durchgeführt und die Dicke des Kortex gemessen. Nach 16 Tagen Ruhigstellung wurde ein zweiter Scan durchgeführt, bei dem eine signifikante Abnahme der grauen Substanz in den linken primären motorischen Bereichen und in den linken somatosensorischen Bereichen festgestellt wurde. Weiter wurde auch die Integrität des Kortikospinaltraktes signifikant vermindert[26].

In einer weiteren Studie wurden die dominanten Hände von 14 Rechtshänder-Patienten mit Schreibkrampf für 4 Wochen stillgelegt. Nach der Ruhigstellung mussten die Patienten ihre dominante Hand wieder für 8 Wochen trainieren. Auch hier zeigte ein MRT-Scan nach der Immobilisierungsphase eine signifikant geringere Dichte der graue Substanz im kontralateralen primären Motorhandbereich. Das erneute Training kehrte diese Effekte um und die Dichte der grauen Substanz nahm wieder zu[27].

Bezzola et al. (2011) beschäftigten sich mit Golfanfängern zwischen 40 und 60 Jahren. Und fand nach 40 Stunden individuellem Training einen signifikanten Anstieg der grauen Substanz in verschiedenen Teilen des Gehirns, wie in dem motorischen und prämotorischen Kortex oder dem intraparietalen Sulkus. Die Trainingsintensität korrelierte mit dem prozentualen Anstieg der grauen Substanz. Auch eine Veränderung des Aktivierungsmusters beim mentalen Einstudieren eines Golfschwungs konnte beobachtet werden. Der dorsale prämotorische Kortex war nach dem Training deutlich weniger aktiviert[28].

Rehabilitation nach Hirnläsionen

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Schliesslich verdienen Rehabilitationsprozesse nach Hirnläsionen eine besondere Betrachtung. Die zuvor beschriebenen Plastizitätsfähigkeiten gelten auch für die Rehabilitation, aber es gibt vor allem zwei grosse Herausforderungen. Erstens, wenn die Läsionen zu gross sind, so dass ganze Funktionen vollständig ausgelöscht werden, gibt es bisher keine Möglichkeit, die Funktion wiederherzustellen. Zweitens, teilweise erhaltene Funktionen werden oft durch den kontralateralen gesunden Bereich mit gleicher oder ähnlicher Funktion unterdrückt. Wenn zum Beispiel die linke Seite des Körpers teilweise gelähmt ist, wird die gesunde linke Hemisphäre versuchen die Kontrolle zu übernehmen, da es keine Hemmung von der beschädigten rechten Hemisphäre zur linken gibt. So wird die gesunde Hemisphäre die geschädigte Hemisphäre hemmen und die Rehabilitation wird gehindert, das Neuverbinden der noch gesunden Neuronen auf der geschädigten Seite wird verhindert. Eine Möglichkeit, dies zu überwinden, ist die Hemmung der gesunden Hemisphäre durch TMS oder transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) während oder kurz vor dem Rehabilitationstraining[6].

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die vermehrte Verwendung einer Extremität oder das Training einer bestimmten Aufgabe einen positiven Effekt auf die entsprechenden Hirnareale hat, was letztendlich zu mehr Effizienz, mehr grauer Substanz und besserer Integrität der weissen Substanz führt. Ein Glied nicht zu nutzen und eine Fähigkeit nicht zu trainieren, hat den gegenteiligen Effekt. Am extremsten Punkt der amputierten Gliedmassen werden Hirnregionen von anderen Funktionen übernommen.

Referenzen

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