Soziologische Klassiker/ Das soziologische Dorf/ Interpretatives Paradigma

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Interpretatives Paradigma[Bearbeiten]

Das interpretative Paradigma fasst jene theoretischen Konzeptionen zusammen, die Interaktion als einen interpretativen Prozess ansehen [1]. Man geht dabei davon aus, dass in sozialen Beziehungen vollzogene oder erwartete Handlungen anderer gedeutet werden [2]. Der interpretierende Akteur bewältigt in dieser Weise Situationen in seiner Umgebung bestimmter sozio-kultureller Normen. Dieses sodann sinnvolle Handeln in Bezug darauf entsteht aus den Wahrnehmungen, Deutungen und Urteilsbildungen des Handelnden, der so einen sinnhaften Bezug zu seiner sozialen Wirklichkeit herstellt [3]. Was daraus entsteht ist ein System von Symbolen und Typisierungen, an denen sich sein Handeln orientiert [4]. Die wissenschaftliche Betrachtung darf, um dies angemessen wiederzugeben, nicht von außen auf die Phänomene blicken, sondern von innen heraus aus der Perspektive der Handelnden.

Alltagsdeutung und Wissenschaftsdeutung[Bearbeiten]

Interpretation trifft damit auf zweierlei zu: Die Handelnden interpretieren ebenso wie die Soziologie, deren Interpretation interpretiert [5]. Dies wird ermöglicht durch die Methode des Fremdverstehens, von der es neben der wissenschaftlichen Ausprägung aber ebenso eine alltägliche gibt, deren Übergänge zueinander fließend sind [6]. Der Unterschied zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Deutung liegt einerseits in der Relevanz, da sich diese Frage für den Mann von der Straße nicht stellt und in der Soziologie durch kognitives wie theoretisches Interesse bedingt ist, sowie andererseits darin, dass wissenschaftliche Deutung alleine mit dem zweckrationalen Handeln ausgeführt wird [7].

Ursprünge und theoretische Abgrenzung[Bearbeiten]

Die Ursprünge des interpretativen Paradigmas liegen in der Nähe zur Philosophie, dabei vor allem zur Phänomenologie Edmund Husserls aber auch zur Sozialpsychologie George Herbert Meads [8]. Vielleicht auch durch eine zeitliche Nähe, bestimmt aber durch seine unbezweifelten Leistungen, beziehen sich Theorien des interpretativen Paradigmas häufig auf Max Weber und seine Handlungstheorie. Alfred Schütz bemerkt in der Einleitung seines Hauptwerkes folgerichtig, dass Simmel wie Weber betonen, dass alle Arten sozialer Beziehungen auf das soziale Verhalten Einzelner zurückzuführen sind. So richtet er seine Arbeit ebenfalls darauf, wie die Phänomene aus dem Eigenbeitrag Einzelner entstehen und dass, so Husserl und Mead, ein Objekt notwendigerweise immer auch auf ein Subjekt bezogen ist [9]. William I. Thomas wird zumeist nur zu den Wegbereitern der Chicagoer School gezählt, dürfte aber auch für das interpretative Paradigma in den erweiterten Kreis derer gezogen werden. Das nach ihm benannte Thomas-Theorem besagt, dass eine Situation dann real wird, wenn Menschen sie als real anerkennen, da sie auf diese Interpretation hin ihr Handeln ausrichten. Bereits damit wurde postuliert, dass es nicht die Wirklichkeit an sich gibt, sondern sie durch Interaktion und Interpretation von Individuen geschaffen wird [10].

Für das interpretative Paradigma gab es Zentren. Erstens die New School for Social Research in New York, wo Alfred Schütz und seine Schüler Peter Berger und Thomas Luckmann tätig waren und zweitens die Abteilung Soziologie an der Universität Chicago, genannt Chicagoer-School, die insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen sehr einflussreich war. Hier waren Mead, Thomas sowie William Ogburn und Robert Ezra Park tätig.

Im Gegensatz zum normativen Paradigma, das von einer objektiv gegebenen gesellschaftlichen Struktur ausgeht, rekonstruiert das interpretative Paradigma die Interpretationspraxis des Alltags. Die Situationsdefinition ist von Einzelfall zu Einzelfall als Ereignisstelle neu zu bewerten und kann nicht als einmal festgelegt und immer neu anwendbar betrachtet werden [11].

Methode[Bearbeiten]

Neben der prinzipiellen Vorgehensweise des Fremdverstehens bevorzugt Schütz wie auch Weber schon die Darstellung mittels Idealtypen [12]. Methodologisch sind vor allem die Studien Harold Garfinkels hervorzuheben, der die störanfällige Praxis der Interpretation und Erwartung im Alltag zeigt. Seine Einzeluntersuchungen schaffen es zwar nicht, generalisierbare Elemente der Wirklichkeitskonstitution zu zeigen, haben aber einzelne Thesen verdeutlicht. Aus diesem Paradigma heraus wird zumeist eine qualitativ orientierte empirische Sozialforschung betrieben [13].

Literatur[Bearbeiten]

  • Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1973):
    "Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie"
    Hamburg
  • Gabriel, Manfred:
    "Einheit oder Vielfalt der soziologischen Handlungstheorie: Einleitende Vorbemerkungen. In: Balog, Andreas / Gabriel, Manfred (Hrsg.): Soziologische Handlungstheorie. Einheit oder Vielfalt. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Sonderband 4"
  • Giddens, Anthony (1994):
    "Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung"
    Frankfurt/New York
  • Hillman, Karl-Heinz (1994):
    "Wörterbuch der Soziologie"
    Stuttgart
  • Schütz, Alfred (1960):
    "Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt"
    Wien
  • Srubar, Ilja (2007):
    "Phänomenologische und soziologische Theorie. Aufsätze zur pragmatischen Lebenswelttheorie"
    Wiesbaden
  • Treibel, Anette (1993):
    "Einführung in die soziologische Theorie der Gegenwart"
    Opladen

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973, S.58
  2. Hillmann 1994, S.388
  3. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973, S.61f
  4. Srubar 2007, S.96
  5. Treibel 2002, S.108
  6. Schütz in: Treibel 2002, S.118
  7. Giddens 1984, S.36; Srubar 2007, S.93
  8. Treibel 2002, S.110
  9. Schütz 1960, S.2f; Treibel 2002, S.117
  10. Treibel 2002, S.109
  11. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973, S.61; Hillman, S.388
  12. Schütz 1960, S.4
  13. Srubar 2007, S.236f