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Soziologische Klassiker/ Giddens, Anthony

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Grundstruktur des Kapitels:


Biographie in Daten: Anthony Giddens

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Giddens Anthony

  • geboren am 18. Jänner 1938in Edmont, Enfield (GB)


  • Geschwister: 1 Bruder
  • Kinder: 2 Töchter


Werdegang

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  • Besuch der Minchenden School in Southgate, Barnet (Nähe London)
  • 1956-1959: Studium der Soziologie und der Psychologie an der University of Hull in Kingston-upon-Hull
  • 1959: B.A. first class honours
  • 1959-1961: Studium der Soziologie an der London School of Economics and Political Science in London
  • 1961: M.A. with distinction mit der Arbeit: "Sport and society in contemporary England"
  • 1961-1970: Lecturer in Sociology an der University of Leicester, Leicester; zur gleichen Zeit lehrt hier auch Norbert Elias (1897-1990)
  • Gastprofessuren in Vancouver und Los Angeles
  • 1970-1997: Giddens lebt in Cambridge, Cambridgeshire
  • 1970-1976: Studium an der University of Cambridge in Cambridge
  • 1976: Doctor of Philosophy (Sociology)
  • 1970-1984: Lecturer in Sociology und Fellow am King`s College der University of Cambridge in Cambridge
  • 1984-1996: Mitglied der University of Cambridge in Cambridge
  • 1984-1986: Reader in Sociology
  • ab 1985: Chairman und Director des Verlages "Polity Press Ltd." in Cambridge als auch Director der Blackwell-Polity Ltd.
  • 1986-1996: Professor of Sociology
  • ab 1989: Chairman und Director des Centre for Social Research in London
  • ab 1997: Giddens lebt in London
  • 1997-2003: Director der renommierten London School of Economics and Political Science in London
  • Berater des Britischen Premier Tony Blair
  • zahlreiche Gastaufenthalte u.a. in Bremen, Helsinki, Melbourne, Rom und Paris
  • 2004: Verleihung des Titels "Baron Giddens of Southgate in the London Borough of Enfield" auf Lebenszeit


Historischer Kontext

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Als Zeitzeuge erlebte Anthony Giddens die umwälzenden Veränderungen des 20. Jahrhunderts, die auch seine Konzeptionen des Utopischen Realismus bzw. des „dritten Weges“ sowie seiner Modernisierungs – und Globalisierungsthesen geprägt haben.


Öffnung des Eisernen Vorhangs [1]

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Die Beendigung des Kalten Krieges [2] und damit einer bipolaren Weltaufteilung ideologisch unüberwindbarer Systemgegensätze, die in gegenseitigem Wettrüsten, Stellvertreterkriegen, Spionage, Unterstützung terroristischer Organisationen sowie der Gefahr einer atomaren Selbstauslöschung gipfelte, führte zum Zerfall des Ostblocks [3] und zur Deutschen Wiedervereinigung (1990), deren Symbol im Fall der Berliner Mauer 1989 zu sehen ist. Nach der Unabhängigkeitserklärung der baltischen Republiken und dem gescheiterten Augustputsch wurde auch die UdSSR aufgelöst (1991).

Dies bedeutete den Sieg der kapitalistischen Marktgesellschaft über den Sozialismus, unter dem bisher noch ein Drittel der Menschheit gelebt hatte, womit erstmals Kerninstitutionen der ursprünglich europäischen Moderne die weltweite soziale Praxis bestimmten.

Von der EGKS über die EWG und EURATOM zur EG und EU

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1951 sollte die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS bzw. Montanunion) durch Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die BRD dazu beitragen, europäischen Integration möglich zu machen, den Wiederaufbau zu organisieren und künftige Kriege innerhalb Europas zu verhindern.

Der Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1993 begründete die Europäische Union (12 Mitgliedsstaaten), die auf den drei Säulen 1) Europäische Gemeinschaften, 2) gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und 3) polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit beruht und von einer Verteidigungs- und Wirtschaftsgemeinschaft immer mehr Richtung politischer Einheit gestaltet werden soll.

2006 umfasst die EU 25 Staaten mit 459,5 Millionen Einwohnern, eine Fläche von 3.975.372 km² und das größte Bruttoinlandsprodukt der Welt. Neben einer einheitlichen Europäischen Verfassung zählen derzeit die Erweiterung nach Süden und Osten und die Beziehungen zu den USA zu den wichtigsten Fragen über die Zukunft der Europäischen Union.

(Vgl.: Eckhard Höffner: Die Entwicklung der EU: Historischer Abriss [4])


Kriegsschauplätze nach 1945

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Die Kommunistische Jugend Österreichs zählt 218 Kriege in der Zeit von 1945 bis 2000. Die Häufigkeit der Kriege ist dabei steigend: während in den Jahren der Nachkriegszeit ca. 10 Kriege pro Jahr zu verzeichnen waren,sind es im Jahr 2000 etwa 35. 1992 kam es im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens zu dem traurigen Höchststand von 55 Kriegen.

Während die Zentren der bürgerlich-kapitalistischen Welt weitgehend kriegsfrei sind, fanden weit über 90 % der Kriege nach ´45 in Regionen der Dritten und ehemals Zweiten Welt statt (Asien und Afrika: je 27 %, Naher Osten: 25 %, Lateinamerika: 14 %, Europa: 7 %). Der Befriedung innerhalb der industriegesellschaftlichen Welt steht allerdings ein relativ hohes Maß an (zumindest rückläufigen) Kriegsbeteiligungen einiger Industriestaaten (v.a. GB, USA, F) gegenüber.

Zwei Drittel aller Kriege seit 1945 waren innerstaatliche Kriege; von den Kriegstypen sind v.a. „Antiregimekriege“ vorherrschend.

(Vgl.: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung: Kriege-Archiv [5] bzw.: Kommunistische Jugend Österreichs: Kriege nach 1945 [6])


  • Fortschreitende Umweltzerstörung und Zunahme von Umweltkatastrophen
  • (angebliche wie tatsächliche) atomare Bedrohung durch Kernkraftwerke bzw. Atomwaffen
  • Großbritanniens Politik seit 1945

Der Zweite Weltkrieg hatte die frühere Weltmacht Großbritannien zwei Drittel seines Außenhandelsvolumens gekostet, die Staatsverschuldung verdreifacht und das Land in finanzielle Abhängigkeit zu Amerika geführt.

Als Nachkriegskonsens der britischen Politik standen daher die Versorgung der Bevölkerung, die Verbesserung des Lebensstandards sowie die Wiederherstellung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft im Vordergrund. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates (-> Keynesianismus [7]) sollte durch ein alle Bürger einbeziehendes staatlich finanziertes System der sozialen Sicherung und die Übernahme staatlicher Verantwortung für die Wirtschaft stattfinden.

Trotz deutlich verbessertem Lebensstandards Anfang der siebziger Jahre gelang es nicht, die Wirtschaftskraft des Landes entscheidend zu stärken; Großbritannien galt als der "kranke Mann Europas", was zum Wahlsieg der Konservativen Partei, geführt von Margaret Thatcher, im Jahre 1979 führte.

Thatcher betrachtete es nicht als Aufgabe des Staates, Lohn-, Einkommens- oder Konjunkturpolitik zu betreiben, sondern vertraute auf die Geldpolitik und deren Lenkungswirkung (-> Monetarismus[8]) bzw. eine Politik der Inflationsbekämpfung. Eine umfassende Privatisierungspolitik führte zu einer fast ausschließlich privatwirtschaftlich organisierten Marktwirtschaft. Finanzierbarkeit statt Bedarf als Maßstab in der Sozialpolitik, Einzelschicksal statt gesellschaftliches Problem als Definition der Arbeitslosigkeit. Wo immer dies möglich schien, zog sich der Staat aus der Gesellschaftspolitik zurück.

Obwohl die wirtschaftspolitischen Ziele des „Thatcherismus“ Mitte der achtziger Jahre größtenteils erreicht waren, war die große Mehrheit der britischen Bevölkerung nicht bereit, die negativen sozialen Folgen wie größere Armut und Obdachlosigkeit, die wachsende Ungleichheit in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums oder die Unzufriedenheit derjenigen Regionen, die der Wirtschaftsboom der späten achtziger Jahre nicht erfasste, zu akzeptieren.

Die Labour Party griff die ambivalente Grundstimmung der Bevölkerung im Wahlkampf 1997 erfolgreich auf und Tony Blair löste John Major – als Nachfolger Margaret Thatchers - ab. Blairs „dritter Weg“ sollte einen Kompromiss zwischen effizienter Privatwirtschaft/Kapitalismus und sozialer Gerechtigkeit/Sozialismus darstellen (s. 5.6.).

(Vgl.: Bundeszentrale für politische Bildung (Heft 262): Entwicklung Großbritanniens seit 1945)

Allgemeines zum Sozialen Wandel

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Giddens (1995): „Einen Wandel zu identifizieren, heißt aufzuzeigen, wie weit es innerhalb einer bestimmten Zeitspanne Änderungen bei der einem Objekt oder einer Situation zugrunde liegenden Struktur gibt (…), bis zu welchem Grad es in einem bestimmten Zeitraum zu einer Änderung der Basisinstitutionen kommt.“ Der Ansicht des historischen Partikularismus folgend, gibt es für die Entwicklung von Gesellschaften keine sinnvollen, das Spezifische und Partikulare transzendierenden, Ereignisse.

Als unumstrittene evolutionäre Trends nach Lenski lassen sich dennoch die Bevölkerungszunahme, die Expansion des Menschen in neue Gebiete, der Fortschritt der Technik, das Wachstum der Produktion und das Anwachsen des Ausmaßes an Komplexität sozialer Strukturen nennen. Weitere Trendaussagen sind die Tendenz zur Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung, Heterogenisierung, Pluralisierung und Globalisierung, - alles Schlagworte, die sich in den Konzeptionen Giddens` wieder finden.

Als greifbare Grundtrends sind zu nennen:

  • ein auf sehr hohem Niveau stagnierender Anstieg von Lebensstandard und Massenkonsum
  • hohe soziale Sicherheit für eine große Bevölkerungsmehrheit
  • „85-%-Gesellschaft“ mit Ausschluss derjenigen, die am steigenden Wohlstand nicht beteiligt sind
  • Pluralisierung, aber keine Auflösung des Schichtgefüges, vertikale soziale Ungleichheiten
  • höhere Aufwärtsmobilität bei fortbestehenden Mobilitätsbarrieren
  • ein Schwergewicht von Beschäftigung und Wertschöpfung auf dem Dienstleistungssektor
  • eine kontinuierliche Wissens- und Bildungsexpansion
  • Verringerung der sozialen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern
  • Verlust des Monopols der bürgerlichen Familie – neue Formen des Zusammenlebens
  • Geburtenrückgang – steigende Lebenserwartung – Alterung
  • Wandlung von mono- zu multiethnischen Gesellschaften

Modernisierungstheorien zufolge sind bestimmte Entwicklungstrends Ausdruck bestimmter Zielsetzungen (Zweckrationalität, Fortschrittsgedanke, Säkularisierung, Individualität, Wertepluralismus, Leistungsbewusstheit etc.), funktionaler Differenzierungen, steigender Autonomie der Subsysteme und leistungsfähiger Basisinstitutionen. Vor dem Hintergrund von Modernisierungstheorien werden konkrete, typologisierende Modelle entwickelt, die jeweils bestimmte, erkennbare Entwicklungsaussagen und ihren gesellschaftlichen Zusammenhang plakativ hervorheben. Neben der postindustriellen – oder der Informationsgesellschaft ist hier Giddens Konzeption der „Zweiten Moderne“ bzw. „Reflexiven Moderne“ und die von U.Beck geprägte „Risikogesellschaft“ (s. 5.3. bzw. 5.4.) zu nennen.

Theoriegeschichtlicher Kontext

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Die britische Soziologie hat sich stark an der Arbeiterbewegung und ihrer klassischen Gründung durch Spencers Evolutionismusund Utilitarismus orientiert; die britische Klassenstruktur wurde zum dominierenden Forschungsgegenstand.


Im intellektuellen Kontext von Soziologen wie John Rex, David Lockwood, John Goldthorpe oder Ralph Miliband - als Vertreter einer marxistisch orientierten britischen Konflikttheorie (--> Klasse, Macht, Konflikt) – entwickelt Giddens seine eigene Gesellschaftstheorie.


In „Class Structure of the Advanced Societies“ verbindet der britische Soziologe die marxistische Klassentheorie mit Schichtungskonzeptionen von Max Weber, um Probleme der Gegenwart zu analysieren.


Auch in „Capitalism and Modern Social Theory“ sowie seinen Interpretationsarbeiten zu Durkheim und Weber zeigt sich seine kritische Beschäftigung mit den Klassikern: Giddens Anliegen ist keine abstrakte Theorieprüfung, sondern deren Bewährung an konkreten gesellschaftlichen Zuständen.


Seine Theorie der Strukturierung beschreibt Giddens selbst als ausführliche Reflexion über den berühmten und viel zitierten Satz von Marx, nachdem Menschen „ihre eigene Geschichte“ machen, aber „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“. Auch sein Akteursbegriff, der ein spezifisches „ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ verkörpert, deckt sich mit Marx.


Heftig kritisiert wird Parsons` Strukturfunktionalismus und Systemtheorie sowie der „orthodoxe Konsensus“ der amerikanisch dominierten Soziologie der Nachkriegszeit im Allgemeinen. Diese Kritik der herrschenden Schulen von Objektivismus (einschließlich der Ansätze von Marxismus, Funktionalismus und Strukturalismus) als auch Subjektivismus (Ansätze wie der symbolische Interaktionismus oder die Ethnomethodologie), lassen ihn nach einer Synthese dieser Dualität suchen.

Richard Münch weist jedoch darauf hin, dass dieser von Giddens selbst als revolutionär behandelte Begriff von der „Dualität der Struktur“ sich mit demjenigen deckt, den schon Klassiker wie Max Weber, Émile Durkheim, Georg Simmel, Talcott Parsons oder George Herbert Mead eingeführt haben. (Soziologische Theorie Band 3: Gesellschaftstheorie, S. 501/502)

Mit den interpretativen Ansätzen teilt Giddens die Betonung der Subjektivität der Akteure und der Reflexivität der Soziologie. Gleichzeitig lehnt er damit auch eine Methodologie à la Durkheim, die fordert die Gesellschaft als Ding zu betrachten, ab. Die Beschäftigung mit dem Poststrukturalismus, insbesondere mit M.Foucault und J.Derrida, führt zu einer gewissen „Dezentrierung des Subjekts“. Eine weitere Folge ist eine Neuformulierung seines Machtbegriffs, den er jetzt direkt mit dem Handlungsbegriff verbindet.


Der Auseinandersetzung mit M.Heidegger mag es zuzuschreiben sein, dass Giddens die Zeitlichkeit (und Räumlichkeit) des menschlichen Daseins und alles Sozialem in den Mittelpunkt seines Ansatzes stellt. Zu nennen ist überdies Hägerstrands Ansatz der Zeitgeographie, der ebenso die Stellung der Individuen in Raum und Zeit sowie den routinisierten Charakter des Alltagslebens behandelt. Garfinkel schließlich bezeichnet Orte als Bezugsrahmen von und für Interaktionen, die die Sinnhaftigkeit von Handlungen herstellen, was sich ebenso in Giddens Konzept wiederfindet.


Ebenso führt Giddens Wittgenstein als „Markstein“ seiner Entwicklung an. Zitat: „Diesen Weg weiterzuverfolgen, heißt aber gerade, jeglicher Versuchung zu widerstehen, ein getreuer Schüler von einem der beiden Denker [Heidegger und Wittgenstein] zu werden.“ (Die Konstitution der Gesellschaft. S. 36) Diese Prämisse dürfte als allgemeines Prinzip Giddens gelten; so greift er Gedankengänge unterschiedlichster Denker auf (u.a. Goffman, Erikson, Saussure, Freud…), um sie an einem bestimmten Punkt zu widerlegen bzw. ihr Konzept in anderer Richtung fortzuführen.


Giddens Identitätskonzept stützt sich auf G.H.Mead, sein „kollektiver Akteur“ lässt sich von A. Vierkandt her begreifen.


Als Analytiker der Spätmoderne ist eine inhaltliche Nähe zu J.Habermas wie v.a. zu U.Beck gegeben. Alle drei Autoren verstehen sich als „Sozialtheoretiker“ und Vertreter einer „kritischen Theorie“ der modernen Gesellschaft, die ihre Aufgabe darin sehen, Entwicklungstendenzen kritisch zu reflektieren und somit zur Bewusstseinsbildung beizutragen.

Zitat: “I think I have learned more from Habermas` writings than from those of any other contemporary social thinker whose work I have encountered.” [1]

Giddens Konzeptionen der Moderne ähneln denen Ulrich Becks und werden auch teilweise in Zusammenarbeit entwickelt. Laut Thomas Schmid kann man Giddens den britischen Beck nennen. Zitat: „Es geht die Mär, der Brite treffe sich regelmäßig mit seinem deutschen Herausgeber in Londoner Pubs. […] Wie dieser bevorzugt Giddens das verbale Dauerfeuer, die nicht endenwollende Beredsamkeit und den paradox klingenden Kalauer.“ (Thomas Schmid: [9])


Werke

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Tabellarische Aufstellung der wichtigsten Werke:

  • Capitalism and Modern Social Theory (1971)
  • Politics and Sociology in the Thought of Max Weber (1972)
  • Elites in the British Class Structure (1972)
  • The Class Structure of the Advanced Societies (1973)
  • The Modern Corporate Economy. Interlooking Directorships in Britain, 1906-1970 (1975)
  • New Rules of Sociological Method: A Positive Critique of Interpretative Sociologies (1976)
  • Studies in Social and Political Theory (1977)
  • ´Introduction` to Max Weber, The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism (1977)
  • Émile Durkheim (1978)
  • Central Problems in Social Theory: Action, Structure and Contradiction in Social Analysis (1979)
  • A contemporary Critique of Historical Materialism, vol.1, Power, Property and the State (1981)
  • Profiles and Critiques in Social Theory (1982)
  • Sociology: A brief but Critical Introduction (1982)
  • The Constitution of Society: Outline of a Theory of Structuration (1984)
  • The Nation-State and Violence, vol.2 of A Contemporary Critique of Historical Materialism (1985)
  • Social Theory and Modern Sociology (1987)
  • Sociology (1989)
  • The Consequences of Modernity (1990)
  • Modernity and Self-Identity: Self and Society in the Late Modern Age (1991)
  • The Transformation of Intimacy: Sexuality, Love and Eroticism in Modern Societies (1992)
  • Human Societies: An Introductory Reader in Sociology (1992)
  • The Giddens Reader (1993)
  • Polity Reader in Social Theory (1993)
  • Beyond Left and Right: The Future of Radical Politics (1994)
  • Reflexive Modernization. Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order (ed. with U.Beck) (1994)
  • The Third Way: The Renewal of Social Democracy (1998)
  • Runaway World: How Globalization is Reshaping Our Lives (1999)
  • On the Edge. Living with Global Capitalism. (2000)
  • Where Now for New Labour? (2002)
  • The Progressive Manifesto: New Ideas for the Centre-Left (ed.) (2003)


Das Werk in Themen und Thesen

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Theorie der Strukturierung

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Diese Theorie sozialen Handelns versucht den Dualismus Handlung – Struktur / Subjektivismus - Objektivismus / Individuum -Gesellschaft / Mikro- Makroebene / freedom of choice - determination zu überwinden. Soziale Strukturen schränken soziales Handeln nicht nur ein, sondern ermöglichen es auch, indem sie Regeln und Ressourcen bereitstellen. Strukturen bedingen Handlungen und werden gleichzeitig durch Handlungen generiert. Strukturen sind sowohl Medium als auch Resultat des Handelns (-> Dualität der Struktur).

Giddens anti-funktionalistische "social theory" will einen Theoriebezugsrahmen für die empirisch-theoretische Forschung schaffen und versteht sich als "Zuliefer-Disziplin" für die Soziologie und andere Sozialwissenschaften.


Strukturen - als Zusammenhänge gemeinsamer Regeln und verteilter Ressourcen - existieren für Giddens (ähnlich der Grammatik bei Sprache) nur virtuell und bedürfen eines Akteurs, um realisiert zu werden. Sie repräsentieren virtuell vorgegebene Herrschafts-, Signifikations- und Legitimationsverhältnisse und bestimmen, welche Art von Verhalten in einem bestimmten System wahrscheinlich ist. Sie stellen eine "Realität sui generis" im Sinne Durkheims dar.


Handeln versteht Giddens als Aktivität/Prozess unter definierten Raum-Zeit Gegebenheiten, der von bewussten, reflexiven und kreativen "Agenten" (Akteuren) ausgeht, die auf Ressourcen (-> Macht) und bestimmtes Regelwissen (-> Bewusstheit, „Methoden“ im Sinne der Ethnomethodologie) zurückgreifen. Giddens` Handlungs- und Machtbegriff sind direkt miteinander verbunden: Handeln setzt die Macht voraus, direkt in die Welt einzugreifen und einen Unterschied zu vorher existierenden Zuständen oder Ereignisabläufen herzustellen. Die Ausübung von Macht wird so zum Schlüsselkonzept dieser Theorie. Handeln wird als vielfältig motiviert und determiniert aufgefasst, eindeutige Zwecke erhält es erst durch konkrete Probleme bzw. sozialen Rechtfertigungsdruck, womit der Zwang, jeder Handlung ein direktes Motiv zuzusprechen, entfällt. Intentionalität wird als Fähigkeit zur selbstreflexiven Kontrolle im Handlungsprozess definiert. Unterschieden wird zwischen Einzelhandlungen (analytischer Aspekt der Motivation, der Rationalisierung und des reflexive monitoring (Kontrolle und Steuerung)) und Interaktionen (Aspekte der Macht (Einflussnahme über Ressourcen), der Kommunikation (interpretative Schemata / Wissensvorräte) und der Sanktion), wobei Handeln generell als kontinuierlicher Prozess oder diffuser Strom verstanden wird.

Hauptaugenmerk liegt auf den unbekannten Bedingungen und unbeabsichtigten Konsequenzen einer Handlung. Ein raum-zeitlicher Verweisungszusammenhang zwischen Handeln, Interaktion und Struktur ist gegeben.

Sowohl eigenes als auch fremdes Handeln (-> Erwartungsbildung) wird permanent reflexiv überwacht, indem auf die vorhandenen Strukturen in den Dimensionen der Signifikation (Bedeutungszuweisung, Sinn), der Legitimation (Norm, Rechtfertigung) und der Herrschaft (Macht, Kontrolle) zurückgegriffen wird. Eben dadurch findet die Reproduktion (aber auch der Ersatz) sozialer Strukturen (und mit ihnen die Reproduktion bzw. Weiterentwicklung des sozialen Systems) statt. Betont wird v.a. der "grundlegend rekursive Charakter des sozialen Lebens". Routine als die vorherrschende Form sozialer Alltagsaktivität; Zitat: "Der Wiederholungscharakter von Handlungen, die in gleicher Weise Tag für Tag vollzogen werden, ist die materiale Grundlage für das, was ich das rekursive Wesen des gesellschaftlichen Lebens nenne." (Giddens: "Die Konstitution der Gesellschaft.", S. 37)

Individuellen Handlungen können so als Abbild eines Sozialsystems verstanden werden. "System" wird als Geflecht raum-zeitlich produzierter und reproduzierter Handlungen definiert.


"Gesellschaft" setzt sich aus kulturellen, politischen, wirtschaftlichen sowie moralisch-„gemeinschaftlichen“ Institutionen und Teilsystemen zusammen, je nachdem ob der Strukturaspekt der Herrschaft (objektiv vorgegebene Chance bezüglich der Kontrolle über Personen (Autorisierung) oder Sachen (Allokation)), der Signifikation oder der Legitimation im Vordergrund steht. Zitat: "Alles gesellschaftliche Leben vollzieht sich in, und ist konstituiert durch, Überschneidungen von Gegenwärtigem und Abwesendem im Medium von Raum und Zeit." (Giddens: "Die Konstitution der Gesellschaft.", S. 185)


Institutionen werden hier als routinisierte Einzelhandlungen und Interaktionen verstanden. Das Überleben in komplexen Gesellschaften setzt die Fähigkeit zur Routinisierung von Handlungen voraus.


(Hauptkritikpunkte dieses Konzepts sind unzureichende Möglichkeiten der Erkenntnis und des Fortschritts bzw. der Entwicklung, ein ambivalenter und v.a. zu emphatischer Akteursbegriff, ein zu stark akzentualisierter Handlungsaspekt, sowie die fehlende Beachtung systemischer Eigenschaften, die aus wechselseitiger Interaktion entstehen.)


Methodische Fragen

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Hier betont Giddens das Problem der doppelten Hermeneutik [10], das sich auf das Spannungsfeld zwischen Selbstinterpretation des Forschers und Interpretationen zweiter Ordnung bezieht.

Der Soziologie kommt hierbei die hermeneutische Aufgabe zu a) die wissenschaftlichen Begriffsschemata aufzuklären und zu kontrollieren, weil es theoriefreie Daten nicht geben kann, b) die wissenschaftlichen Bedeutungsrahmen zu begreifen und c) die Bedeutungsrahmen, die der Orientierung der handelnden Akteure im Alltag dienen, zu verstehen. Die große Relevanz der doppelten Hermeneutik für die Soziologie ergibt sich aufgrund von Bedeutungsüberschneidungen zwischen Auslegungen im Alltag und Auslegungen in der Wissenschaft.

Während sich der Gegenstandsbereich der naturwissenschaftlichen Forschung als indifferent gegenüber dem, was Menschen über ihn zu wissen behaupten, erweist, wirken sich sozialwissenschaftliche Theorien u.U. direkt auf das Handeln von Akteuren aus. Jedes Wissen kann die Situationsdefinition, das Handeln und dessen Bewertung beeinflussen und schließlich selbst wieder aus diesen reproduziert werden (doppelte hermeneutische Reflexivität von Wissen und Handeln). Laut interpretativer Soziologie hat es jede soziologische Analyse "mit einer vor-interpretierten Welt zu tun, in der die Bedeutungen, die von aktiven Subjekten entwickelt werden, tatsächlich in die reale Konstitution oder Produktion jener Welt Eingang finden." (Franz Welz in "Lexikon der soziologischen Werke", S. 237)

Zitat: "Es liegt im inneren Wesen des reflexiv auf die Bedingungen der Systemreproduktion angewandten Wissens, daß es die Umstände, auf die es sich ursprünglich bezogen hat, verändert." (Giddens: "Konsequenzen der Moderne.", S. 74)


Konsequenzen der Moderne

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Ähnlich Ulrich Beck oder Jürgen Habermas sieht sich Giddens als Vertreter einer „kritischen Theorie“ der modernen Gesellschaft, die zur Bewusstseinsbildung beitragen soll. Als „Sozialtheoretiker“ wird ein kategorialer Raster zur Beschreibung von Gesellschaft entwickelt, dieser aber nicht durch empirisch überprüfbare Hypothesen untermauert.

Modernisierung wird als kontinuierlich stattfindender, prinzipiell unabgeschlossener Prozess politischer, technischer und sozialer Innovationen verstanden. Anthony Giddens spricht von „Zweiter Moderne“ oder „reflexiver Moderne“ (Vgl. Ulrich Beck) und will damit verdeutlichen, dass sich die Konsequenzen der Moderne radikalisieren und allgemeiner auswirken als bisher (Moderne als weltweites Alltags-Experiment, als gefährliches Abenteuer), aber nicht in ein neues Zeitalter der Postmoderne führen. Der von Beck geprägte Begriff der „Welt-Risikogesellschaft“ (Zunahme selbsterzeugter, schwer kalkulierbarer globaler Risiken) wird aufgegriffen. Diese These arbeitet mit der Dualität der Struktur: Handlungen, die für das Funktionieren moderner Gesellschaft nötig sind, verursachen gleichzeitig universelle Risiken (Konsequenzen) als Bedingungen weiteren Handelns in der "Zweiten Moderne". Entscheidendes und gefordertes Merkmal einer reflexiven Modernisierung ist die Reflexion der Konsequenzen der Moderne. Der Modernisierungsprozess / soziale Wandel samt seinen geplanten und ungeplanten Folgen muss reflektiert und darf nicht sich selbst überlassen bleiben. Wobei Giddens dem orientierungslos gewordenen Individuum wenig Kontrollmöglichkeit einräumt und somit die Steuerbarkeit einer Gesellschaft (da Unübersichtlichkeit,unüberschaubare Nebenfolgen, Nicht-Linearität...) anzweifelt.

Der „radikalisierte“ soziale Wandel verursacht erhebliche Veränderungen an der modernen Gesellschaftsstruktur: u.a. Individualisierung, Enttraditionalisierung, Entbettung aus lokalen Zusammenhängen, Globalisierung, Trend zur Dienstleistung, neue Armut, Migration… und erfordert permanente und aktive Anpassung der Akteure, um den Konsequenzen der Moderne gerecht zu werden. Die Handlungsmöglichkeiten der fortgeschrittenen Moderne sind ins Extreme gesteigert.

Als eine allgemeine Gefahr sieht Giddens die Unfähigkeit, sich von der Vergangenheit als Tradition bzw. verinnerlichte einzige Möglichkeit zu lösen, was als Zwangshandeln bezeichnet wird und die Kehrseite der „kognitiven Revolution“ der Moderne darstellt.


Moderne Gesellschaften als auch deren Dynamik zeichnen sich nach Giddens wesentlich durch drei Mechanismen aus:


1. Trennung / Umgestaltung von Zeit und Raum: Beide Dimensionen werden aus lokalen Zusammenhängen gelöst und globalisiert; eine Abstandsvergrößerung unbegrenzter Reichweite findet statt. Handlungskoordination jenseits aller örtlichen Gebundenheit wird ermöglicht bzw. gefordert.


2. Entstehung von Entbettungsmechanismen: Soziale Beziehungen und gesellschaftliches Tun werden aus örtlich begrenzten und normativ verfestigten Interaktionszusammenhängen enthoben und umstrukturiert. Dadurch wird die Integration in ein traditionales System geschwächt, was auch eine individuelle Identitätsschwächung mit sich bringt. Zusätzlich wird das Vertrauen in abstrakte Systeme zur Voraussetzung zum Funktionieren des Alltags. Personales Vertrauen und Intimität sind massiven Veränderungen unterworfen.


3. Reflexive Aneignung des Wissens: Fortschreitende Enttraditionalisierung führt zur Reflexivität als Grundbedingung; zunehmendes Wissen („Informationsgesellschaft“) unterminiert unsere Vertrauen in Expertensysteme und symbolische Zeichen und lässt das allgemeine Risikobewusstsein steigen. Gegensätzliche Informationen führen oft eher zur Verunsicherung als zur Bewusstseinsbildung. Die Erzeugung systematischen Wissens über Sozialität trägt zur Reproduktion des sozialen Systems bei. Wobei anzumerken ist, dass kein "Wissen" der Moderne mehr als unumstößlich oder gewiß gelten kann (Moderne als "Institutionalisierung des Zweifels"). Besondere Bedeutung erhalten auch die nicht intendierten Konsequenzen von Handeln ("Dialektik von Wissen und Handeln").


Als institutionelle Dimensionen der Moderne bezeichnet Giddens den Kapitalismus (->Kapitalakkumulation), den Industrialismus (arbeitsteiliges industrielles Produktionssystem), die militärische Macht und das System der Überwachung, die allesamt globale Auswirkungen zeigen.


Die Institutionen der Moderne vergleicht Giddens mit einem hinduistischen Dschagganath-Wagen[11]: Sie sind kaum steuerbar, potentiell zermalmend aber nicht gänzlich unangenehm oder unbefriedigend. Reflexive Modernisierung bedeutet auch, dass sich Institutionensysteme einer drastischen Kritik stellen müssen.

Globalisierung

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Globalisierung nach Giddens bedeutet Kontextungebundenheit und „Handeln auf Distanz“. Eine Intensivierung weltweiter Beziehungen findet statt, lokale und regionale Prozesse werden durch weit entfernt stattfindendes Handeln beeinflusst. V.a. drei soziale Prozesse führen zur Globalisierung:

  • Manipulation von Raum und Zeit (Verkehr, Kommunikation...)
  • Lösung von Institutionen und sozialen Systemen aus ihren traditionellen Zusammenhängen (Ökonomie, Wissenschaft, Technik)
  • Reflexivität (kognitive Vernetzung, heterogene Informationen)

Als mehrdimensionalen Begriff unterscheidet Giddens ökonomische (->kapitalistische Weltwirtschaft), politische (->interdependentes System der Nationalstaaten) und militärische (-> Weltmilitärordnung) Globalisierung sowie internationale Arbeitsteilung als Ebenen der Globalisierung (-> Globalisierung der vier institutionellen Dimensionen der Moderne).


Modernität (als Gegenbegriff zu Tradition) und Globalisierung sowie deren Risikopotential versteht Giddens als Schlagwörter jeder soziologischen Zeitdiagnose, die er in vier institutionelle Globalisierungsfelder und Grundrisiken einteilt:

  • Zunahme unkontrollierter totalitärer Macht als Reaktion auf wachsende Sicherheitsprobleme
  • atomare Gefahr
  • Zusammenbruch wirtschaftlicher Wachstumsmechanismen
  • Umweltkatastrophen, ökologischer Zerfall


Utopischer Realismus als Leitkonzept der Modernisierung

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Dieses kultur- und wissenssoziologisches Forschungsparadigma soll eine Verbindung schaffen zwischen (utopischer) emanzipatorischer Politik und (realer) Lebenspolitik; zwischen visionären Vorstellungen eines erfüllten Lebens und gesellschaftlichem Realismus, der die bestehenden politischen Rahmenbedingungen bedenkt. Dieses Konzept soll „…die Unausweichlichkeit der Macht anerkennen und ihre Anwendung für nichts grundsätzlich Schädliches halten.“ Durch Vorwegnahme von zukünftigen Trends sollen unkontrollierte Modernisierung verhindert werden und neue, richtungsweisende und vor allem gangbare Modelle von Gesellschaft entworfen werden.

Die Entwicklungstendenz möglichen Wandels sieht Giddens in sozialen Bewegungen wie den Arbeiter-, Friedens-, Bürgerrechts-(= Demokratisierungs-) und ökologischen Bewegungen wiedergespiegelt, die seinem Modell der vier institutionellen Eckpfeiler von Modernität entsprechen und auf eine Reform derselben abzielen. Durch Fortschritte dieser Bewegungen könnte es zu einer Humanisierung der Technologie, zu einer Demilitarisierung der Weltordnung, zur mehrschichtigen demokratischen Partizipation und zur Etablierung eines ökonomischen Nachknappheitsystems (Lebensqualität statt Kapitalakkumulation) kommen. Hinsichtlich der vier institutionellen Komplexe der globalisierten Moderne sieht Giddens die Chance eines Systems der planetarischen Vorsorge, einer sozialisierten ökonomischen Organisation, einer koordinierten globalen Ordnung und einer Überwindung des Krieges.

Erst die Herausbildung einer derartigen modernen Weltordnung würde laut Giddens die Verwendung des Begriffes Postmoderne anstelle radikalisierter Moderne rechtfertigen.


Politische Soziologie – „der dritte Weg“

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Auch als Berater des Britischen Premiers Tony Blair propagiert(e) Giddens den s.g. „dritten Weg“, zwischen liberalem Kapitalismus („die Neue Rechte“) und Sozialismus („die Alte Linke“). Der „dritte Weg“ vertritt eine reformistische Bewegung der Mitte; Er kritisiert die negativen Aspekte von „Thatcherismus“ / Neoliberalismus als auch der klassischen Sozialdemokratie und versucht die positiven Aspekte beider Systeme zu vereinen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die „Auflösungstendenz des Sozialstaatskompromisses“. Ziel ist eine neue politische Dimension zu erzeugen, wodurch Bündnisse auch mit nicht-sozialistischen Reformparteien möglich werden sollen.

Wichtige Schlagworte seines Konzepts heißen: mehr Ökologie, mehr Demokratie und Autonomie, Transnationalität, weniger Staat, keine Rechte ohne Verpflichtungen (z.B. Arbeitslosensystem: Verpflichtung zu aktiver Arbeitssuche und -annahme als Bedingung für den Bezug von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe; Studiengebühren, Beihilfenkürzung), Verabschiedung vom Sozialstaat und vom Prinzip der Gleichheit. Als Lösung gesellschaftlicher Probleme wird eine Zunahme der Verpflichtungen des Einzelnen, gesteigerte Selbstverantwortung, Flexibilität und Eigeninitiative propagiert. Durch ein effizientes Bildungssystem sollen jedem einzelnen - unabhängig seiner Herkunft - ähnliche Startchancen und durch Arbeit Teilhabe am gesellschaftlichen Erfolg ermöglicht werden. Z.B durch die Stärkung der bürgerlichen Grundrechte, verbesserte politische Einbindung und neue demokratisch gewählte Parlamente in Schottland und Wales soll eine Modernisierung der Verfassung und der politischen Institutionen des Landes stattfinden, was letztendlich auch die Wettbewerbsfähigkeit des britischen Demokratiemodells steigern soll. Kapitalismus erscheint als alternativenloses Faktum; das globale Problem der Armut oder ungleiche Wohlstandsverteilung werden weitgehend ausgespart. Zitat: "Überdies kommen viele vorteilhafte Veränderungen in unbeabsichtigter Weise zustande." (Giddens: "Konsequenzen der Moderne.", S.191)

Wohl nicht zu Unrecht ist Giddens für Pierre Bourdieu „ein britischer Soziologe, der zum Vordenker der neoliberalen Rechten geworden ist, bzw. der neoliberalen „Schein-Linken“ Tony Blairs“. (Bourdieu 2000)

Pathetisch setzt Giddens auf neues politisches Engagement, auf eine Form der „dialogischen Demokratie“ und die „Demokratie des Gefühls“, die sowohl im Alltagshandeln wie in der globalen Ordnung als Chancen der Moderne gesehen werden.


Rezeption und Wirkung

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Eine erste Bedeutung Giddens liegt sicher darin, zentrale Ideen der soziologischen Theorie, wie von Karl Marx, Max Weber oder Émile Durkheim, herausgearbeitet und deren Bewährung an konkreten gesellschaftlichen Zuständen gezeigt zu haben.

Mit seiner Theorie der Strukturierung lieferte Giddens einen wichtigen Ansatz zur Analyse der Fortführung und Transformation von Strukturen. Die Synthese von Subjektivismus und Objektivismus („Dualität der Struktur“) kann zwar nicht als revolutionäres Gedankengut, aber als Neuformulierung traditioneller Bestrebungen, diese Dualität zu überwinden (s. Theoriegeschichtlicher Kontext), verbucht werden.

Als Analytiker der Spätmoderne hat Anthony Giddens die soziologische Diskussion über Modernisierung und Globalisierung nachhaltig beeinflusst und eine überaus populäre Modernisierungs- bzw. Globalisierungstheorie vorgelegt. Erklärtes Ziel ist die kritische Reflexion von Entwicklungstendenzen wie Bewusstseinsbildung. Konkrete Dynamiken der Modernisierung bzw. konkrete Probleme der Globalisierung werden jedoch ausgespart, der Grad starker Abstraktheit wird nicht verlassen. Zu bemerken ist überdies, dass andere Modernisierungstheoretiker, wie Peter Wagner, dessen historischer Soziologie der Moderne das Giddenssche Denken zugrunde liegt, oder Scott Lash und Ulrich Beck, die mit Giddens das Theorem der "reflexiven Modernisierung" behandeln, in vielen Punkten weit skeptischer sind, was die Chancen bewusster kollektiver Zukunftsgestaltung betrifft.

Giddens` „dritter Weg“ liefert Perspektiven für den Umbau des Wohlfahrtsstaates, die derzeitige Situation Tony Blairs mag u.U. teilweisen Aufschluss über den Erfolg dieses Programms geben, wobei der tatsächliche Einfluss auf die Politik v.a. sozialdemokratischer Regierungen (von der Clinton-Administration über Deutschland bis nach Neuseeland) durch Giddens natürlich schwer zu ermessen ist. Zu erwähnen sei an dieser Stelle, dass auch Gerhard Schröder Giddens als wichtigen Ideengeber für sein am englischen Regierungsvorbild orientierten Projekt der "Neuen Mitte" bezeichnete und ihn zu Beratungen der SPD über ihr neues Grundsatzprogramm einlud (1999).

Hier zeigt sich die Gefahr für den "öffentlichen Intellektuellen" Giddens (Bryant/Jary 2001, S. 172), als politische Legitimationsquelle missbraucht zu werden: Seine Rhetorik des "Dritten Weges" wird gerne übernommen, die Umsetzung verläuft dann aber höchst selektiv. Jörn Lamla schreibt der Giddensschen Strategie, den politischen Kurs grundsätzlich zu verteidigen (öffentliche Zustimmung der Politik Blairs und Schröders) und Nachbesserungen für eine zweite Phase des "Dritten Weges" einfordern, höchst ungewisse Erfolgschancen zu. Zu beobachten ist eine einseitige Verlagerung der geforderten Schwerpunkte (Demokratisierung, bürgerliche Autonomie, Ausbau transnationaler Regierungsinstitutionen, Ausstieg aus den Zwängen des Produktivismus, verstärktes Ökologiedenken...) Richtung arbeitsmarktpolitisch motivierter Flexibilisierung des Sozialstaates mit dem Primärziel der Entlastung des Staatsbudgets.

Giddens „Utopischer Realismus“ und die Hoffnung auf eine postmoderne Ordnung in Frieden und Seeligkeit herbeigeführt durch die neuen sozialen Bewegungen kann nicht als wissenschaftlich tragfähige Analyse bezeichnet werden. Irgendeiner konkreten sozialen Bewegung die Lösung der globalen Probleme von Gegenwart und Zukunft zuzutrauen, hat mit Realismus wohl kaum mehr zu tun. Publizistische Verbreitung und Verkaufszahlen stehen hier eindeutig vorrangig gegenüber wissenschaftlicher Fundierung und Begründung.


Generell ist zu sagen, dass die globale Debatte bezüglich dieser zweier Konzepte und seine Beratungstätigkeit für Tony Blairs "New Labour" Anthony Giddens zu großer Bekanntheit auch außerhalb des sozialwissenschaftlichen Fachpublikums geführt haben. Die unter dem Titel "Runaway World" an unterschiedlichen Orten abgehaltenen "BBC Reith Lectures" (1999) einschließlich umfangreicher Internetdebattten spiegeln die Verlagerung auf einen erweiterten Adressatenkreis wider.


Bezüglich möglicher Nachfolger ist zu sagen, dass viele unterschiedliche Teilgebiete an das sozialtheoretische Denken Giddens` anknüpfen: Neben Peter Wagner ist etwa Manuel Castell (fundamentalistischer Rückzug als kulturelle Definsivreaktion an Stelle des optimistischen Ausblicks Giddens`)zu nennen. Als einzelne Teilbereiche der deutschen Soziologie sind die Soziologie des Raumes und der Zeit (Löw 2001), die Wirtschaftssoziologie (Beckert 1997), die Organisationstheorie (Ortmann/Sydow/Windeler 1997) oder die Analyse historischer Wandlungsprozesse von Technologien (Rammert 2000) oder Wohlfahrtsstaaten (Borchert 1995) anzuführen. All diese Arbeiten bedienen sich konzeptioneller Bausteine der Theorie, um diese als Ausgangspunkt für eigenständige Weiterführung in ihren speziellen Forschungsfeldern zu nutzen. Die dadurch entstehenden Akzentverschiebungen bzw. getroffenen Distanzierungen stellen eine Rezeption im Sinne des Urhebers dar. Giddens` methodologischer Ansatz eignet sich weniger für dogmatische Schulenbildung, als sie einen offenen sozialtheoretischen Denkhorizont darstellen, der in konkreter Anwendung präzisiert und immer wieder modifiziert werden muss.


Literatur

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  • Anthony Giddens (1992):
    "Die Konstitution der Gesellschaft"
    Frankfurt
  • Anthony Giddens (1995):
    "Konsequenzen der Moderne."
    Frankfurt
  • Philip Cassel (1993):
    "The Giddens Reader." The Macmillan Press LTD"
    Houndmills
  • Jörn Lamla (2003):
    "Anthony Giddens."
    Frankfurt
  • Richard Münch (1994):
    "Soziologische Theorie Band 3: Gesellschaftstheorie"
    Frankfurt
  • Günther Schönbauer (1994):
    "Handlung und Struktur in Anthony Giddens "social theory"
    Regensburg
  • Frank Welz (2001):
    "Giddens, Anthony." In: Georg W. Oesterdiekhoff [Hrsg.]: "Lexikon der soziologischen Werke."
    Wiesbaden
  • Günter Wiswede (1998):
    "Sozialer Wandel In: Günter Wiswede: Soziologie: Grundlagen und Perspektiven für den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereich"
    Landsberg am Lech


Internetquellen

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Einzelnachweise

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  1. Giddens, Anthony in G. Schönbauer: “Handlung und Struktur in A. Giddens “social theory", S. 10