In Wahrheit fliegt ein Flugzeug durch ruhende Luft

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Wie sich die Luft wirklich bewegt[Bearbeiten]

Learjet fotografiert von P.Bowen aus der Perspektive des Heckschützen eines B-25 Bombers.

Die bisherigen Beispiele beschreiben überwiegend Situationen, in denen ruhende Körper von einem Wind umströmt werden, der klassischen Situation in einem Windkanal. In der Wirklichkeit des Fliegens, dem hier das Hauptinteresse gilt, ist es aber genau umgekehrt: Es ist das Flugzeug, welches sich bewegt und es ist die Luft, die ruht. Dieser Umstand wird meist übersehen, und der Eindruck, den ein Passagier im Flugzeug angesichts vorbei rasender Wolkenfetzen bekommt, tut sein übriges. Aber die Kontinuitätsgleichung und die Gleichung von Bernoulli sind aus der Beobachtung bewegter Fluide entstanden und es ist fraglich, inwieweit sie auf Bewegung durch ruhende Luft angewandt werden können.

So entsteht die Frage, was passiert eigentlich bei der Bewegung eines Flügels durch ruhende Luft?
Das nebenstehende Bild gibt einen ersten Eindruck von der Bewegung der Luft. Es zeigt einen Businessjet im Flug knapp über einer Wolkenschicht. Man erkennt, dass unterhalb des Flugzeugs die Luft eine Abwärtsbewegung erfährt, durch welche die Wolkenschicht eingedrückt wird, den sogenannten Downwash. Diese beeindruckende Aufnahme hat der Fotograf Paul Bowen gefertigt. Er saß dazu am Platz des ehemaligen Heckschützen einer North_American_B-25 mit Sicht nach hinten.

Luftbewegung einer Rauchwand beim Durchfliegen

Das zweite Foto verdeutlicht die Luftbewegung in Bodennähe beim Durchfliegen einer rot gefärbten, aufsteigenden Rauchwand. Man erkennt den sogenannten Randwirbel (Vortex).

Beide Fotos liefern in der Tat einen völlig anderen Eindruck als die Stromlinien im Windkanal. Bevor die Bewegung ruhender Luft um einen bewegten Flügel genauer analysiert wird, hier Beispiele mit eindrucksvollen optischen Eindrücken von Downwash und Randwirbel bei der Bewegung von Flugzeugen durch ruhende Luft

  • Die ersten beiden Videos zeigen je ein Beispiel für eine „umgekehrte“ Windkanalaufnahme, in der durch ein bewegtes Flugzeugmodell eine Abwärtsbewegung der Luft erzeugt wird. Wie auf dem Foto wird der Downwash auch hier durch eine Rauchwolke sichtbar gemacht. Der Downwash kombiniert sich mit zwei gegenläufigen Randwirbeln an den Flügelspitzen.
1) Ein Flugmodell fliegt durch Rauch
2) French Aerospace Lab ONERA.
  • Die zweiten Videos zeigen dasselbe bei einem Verkehrsflugzeug im Landeanflug durch eine Wolkenschicht.
3) Awesome view of a Emirates Airbus A380 creating huge wake vortices in clouds at Sunset
4) noch ein Airbus A380 erzeugt Downwash und Randwirbel
  • Das Zentrum der Randwirbel liegt im Bereich der Flügelspitzen (Vortex), dies zeigt das letzte Video eindrucksvoll.
5) Randwirbel in einem sehr tiefen Vorbeiflug

Erläuterung der Luftbewegung[Bearbeiten]

Sowohl im Windkanal an einem ruhenden Flügel als auch am bewegten Flügel durch ruhende Luft stellt man denselben Zustand fest: Oberhalb des Flügels herrscht Unterdruck, unterhalb Überdruck.

In der Windkanalsituation kann man die Druckverhältnisse qualitativ mit dem Bernoulli-Effekt, d.h. mit einer vergrößerten Strömungsgeschwindigkeit oberhalb und einer verringerten Strömungsgeschwindigkeit unterhalb erklären. In der Situation des bewegten Flügels gibt es keine Strömung à la Bernoulli. Stattdessen stellt sich die Frage, wie reagiert ruhende Luft auf die um den bewegten Flügel herrschenden Druckverhältnisse?

Grundsätzlich gilt, dass Luft entlang eines Druckgefälles in Richtung des niedrigeren Drucks beschleunigt wird. Im Rahmen der Bernoulli-Gleichung wurde die grundlegende Beziehung zwischen Druckdifferenz und Geschwindigkeitsänderung bereits hergeleitet. Wenn eine Druckdifferenz nicht aufrechterhalten wird, z.B. in einer stationären Strömung, bedeutet die durch eine Druckdifferenz hervorgerufene Luftbewegung nichts anderes als den selbsttätigen Ausgleich von Druckunterschieden, so wie sich auch Temperaturunterschiede von selbst ausgleichen.

Mit dieser Vorbemerkung kann man in der ruhenden Luft im Umfeld eines bewegten Flügels 2 Luftbewegungen unterscheiden, die beide der Tendenz zum Druckausgleich entspringen.

Animation zur Bewegung von ruhender Luft durch einen bewegten Flügel
  1. Die ersten vier Videos zeigen insbesondere, wie im Flügelbereich die Luft vertikal nach unten beschleunigt wird (Downwash). Diese Luftbewegung entsteht durch eine Kombination der Druckausgleiche oberhalb und unterhalb des Flügels.
Oberhalb strömt Luft aus dem Bereich des normalen Luftdrucks nach unten in Richtung des Unterdrucks auf der Flügeloberseite.
Unterhalb strömt Luft vom Überdruck der Flügelunterseite nach unten in Richtung des geringeren normalen Luftdrucks (In der Animation grün eingezeichnet).
  1. Das 5. Video zeigt eindrucksvoll den Druckausgleich an dem linken und rechten Flügelende (Vortex). Hier strömt die Luft aus dem Überdruckgebiet unterhalb des Flügels in das Unterdruckgebiet oberhalb des Flügels. Es entsteht ein sogenannter Randwirbel. Im Video sieht man, wie der in Flugrichtung rechte Randwirbel sich durch einen leichten Seitenwind über dem Kopf des Filmenden hinwegbewegt, mit Drehrichtung entgegen dem Uhrzeigersinn (in der Animation für beide Flügelspitzen rot eingezeichnet).

Sowohl beim Downwash als auch bei den Randwirbeln wird der Luft kinetische Energie zugeführt, die durch die Bewegung des verursachenden Flügels aufgebracht werden muss. Diese Energie, welche der Luft zugeführt wird, geht dem Flugzeug verloren. D.h. die beschriebenen Luftbewegungen zum Ausgleich der erzeugten Druckunterschiede stellen eine Art Luftwiderstand entgegen der Bewegung des Flügels bzw. Fugzeugs dar. Man nennt dies auch den induzierten Widerstand. Andere Widerstände sind der Formwiderstand (abhängig von Formgebung und Querschnittsfläche) und der Reibungswiderstand (abhängig von Größe und Beschaffenheit der Flügeloberfläche).

Die durch die Bewegung des Flügels erzeugte Abwärtsbewegung der Luft erklärt den Auftrieb am Flügel. Denn nach den Grundsätzen der Mechanik erfordert die Bewegung der Luft nach unten eine beschleunigende Kraft, und der die Beschleunigung verursachende Körper erfährt eine ebensolche Kraft, aber in entgegengesetzter Richtung (Actio gleich Reactio). D.h. in dem Maße wie der bewegte Flügel Luft nach unten beschleunigt, erfährt er Auftrieb nach oben. Man bezeichnet diese auftriebserzeugende Abwärtsbewegung der Luft auch als Downwash. Der Downwash als Teil des durch die Flügelbewegung induzierten Widerstandes ist also prinzipiell notwendig. Das steht etwas im Widerspruch zum üblichen physikalischen Verständnis des Wortes Widerstand, mit dem man i.d.R. etwas Negatives bezeichnet, was möglichst vermieden werden soll.

Der Randwirbel als ein anderer Teil des induzierten Widerstandes trägt allerdings nicht zu diesem Auftrieb bei und wird deswegen auch als schädlicher (induzierter) Widerstand bezeichnet.

Gewichtsabhängiger Spritverbrauch[Bearbeiten]

Die hier vorgestellte Erklärung des Auftriebs ist in einem wichtigen Punkt näher an der Realität als die Erklärung über den Bernoulli-Effekt. Die Erklärung über Bernoulli geht von einer reibungsfreien Strömung aus. Entsprechend erscheint es nach Bernoulli, als wenn der Auftrieb durch die Druckdifferenz sozusagen ohne extra Aufwand entsteht.

Die Erklärung über den Downwash zeigt, dass der Auftrieb der Menge und Geschwindigkeit der nach unten beschleunigten Luft entspricht und dass die darin enthaltene Energie durch den Antrieb des Flugzeugs zugeführt werden muss. Das erklärt viel besser die Realität, in der ein vollbeladenes Flugzeug bei gleicher Geschwindigkeit mehr Sprit verbraucht als ein unbeladenes. Bei großer Beladung muss der Flügel in derselben Zeit mehr Luft oder dieselbe Luftmenge schneller nach unten beschleunigen als bei geringerer Beladung und diese größere Energiemenge, welche von dem Flügel an die Luft abgegeben wird, muss in Form von erhöhter Triebwerksleistung zur Verfügung gestellt werden.

Weiterführende Gedanken[Bearbeiten]

Relativbewegung[Bearbeiten]

Rückblickend betrachtet zeigt sich, dass die Mehrzahl der in diesem Buch behandelten Beispiele keinen Unterschied macht zwischen der Situation, in der ein Wind um ein stehendes Hindernis strömt und der Situation, in der sich ein Hindernis durch ruhende Luft bewegt. In der Realität des Fliegens hat man meist eine Kombination beider Fälle, d.h. man bewegt sich während gleichzeitig ein Wind weht.

Aus Sicht der klassischen Mechanik macht es keinen Unterschied, ob etwas in Ruhe oder in gleichförmiger geradliniger Bewegung ist. Es gibt kein absolutes Koordinatensystem (z.B. das Weltall), in dem man sagen könnte: Was hier ruht, ruht wirklich. Statt dessen zeigt die Erfahrung, alle mechanischen physikalischen Phänomene hängen nur von der Relativgeschwindigkeit ab. Mechanische Kräfte gehen stets mit einer Änderung der Geschwindigkeit einher, eine etwaige vorhandene konstante Geschwindigkeit ist dagegen ohne Belang. Anschaulich heißt das z.B., dass sich der Flugbegleiter beim Eingießen eines Glases keine Gedanken darüber machen muss, ob das Flugzeug am Boden steht oder sich mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft bewegt, man hält das Glas einfach unter die Flaschenöffnung und kann darauf vertrauen, dass die Flüssigkeit senkrecht nach unten ausströmt.

Einstein hat dieses Prinzip über die Mechanik hinaus auf die gesamte Physik übertragen. Die von ihm entwickelte Relativitätstheorie fordert, physikalische Gesetze zur Beschreibung der Natur so zu formulieren, dass ausschließlich die Relativgeschwindigkeit der beteiligten Systeme berücksichtigt werden muss.

D.h. für die Messung physikalischer Größen (z.B. Änderung der Strömungsgeschwindigkeiten und der Druckverhältnisse um einen Flügel) ist es gleichgültig, ob diese Messung an einem bewegten Flugzeug oder in einem Windkanal durchgeführt wird. Dennoch soll betont werden, dass für die beiden Situationen gänzlich unterschiedliche Modelle benutzt werden. Die Bernoulli-Beziehung ist ein sehr einfaches Modell zur Beschreibung der Windkanalsituation und wird deswegen gerne zur Erläuterung des Auftriebs herangezogen. Um die in diesem Kapitel gezeigten Luftbewegungen um ein bewegtes Flugzeug zu beschreiben, sind kompliziertere mathematische Gleichungen anzuwenden, welche vor allem die Reibungseffekte berücksichtigen, was i.d.R. dem Aerodynamiker überlassen bleibt.