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Gehirn und Sprache: Optimale Komprimierung

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Der ganze Reichtum, den wir an der Sprache und der Musik lieben, ist in der knappen mathematischen Darstellung verschwunden. Wie ein Skelett, von dem alles lebendige Fleisch entfernt ist, bringt die Mathematik nur ein Gerippe zum Ausdruck.

Aber gerade in dieser Fähigkeit, die man auch als optimale Komprimierung verstehen kann, liegt offensichtlich die Stärke der mathematischen Sprache, für die man ihren Mangel an Gefühlen gern in Kauf nimmt. „So kurz wie möglich“ ist die augenscheinliche Devise, mit der Punkte oder simple Strichzeichen an Stelle von komplizierten Handlungen übersichtlich zu Papier gebracht werden.

Die Sprache der Mathematik besteht aus speziellen Symbolen: den Zahlen, Buchstaben und Anweisungen zu ihrer Verknüpfung. Mathematiker bevorzugen die Schriftform, in der die Symbole international gleich verstanden werden; 3+4=7 gilt in allen Erdteilen als richtige Behauptung.

Die gleiche Aussage wird mit Wörtern an Stelle der fünf mathematischen Symbole auf achtundzwanzig Zeichen vergrößert, und nur noch deutschsprachigen Menschen verständlich sein: „Drei und vier ist zusammen sieben“.

Wenn wir die Wörter bereits als komprimierte Darstellungen von Vorstellungen oder Objekten begreifen, dann sind die mathematischen Symbole ähnlich wie die Abkürzungen (z.B.:DNA) zusätzliche, maximale Komprimierungen von bereits Komprimiertem.

Das beste Beispiel ist der Punkt, der die Handlungen der Multiplikation symbolisiert. Kleiner geht es nicht, und man brauchte sehr viele Wörter, um den Vorgang des Malnehmens damit zu beschreiben. Ebenso winzig sind auch der Doppelpunkt und alle Strichzeichen und Buchstaben, die für die mathematischen Tätigkeiten der Addition, Subtraktion, Division usw. als Minimalzeichen erfunden wurden.

Komprimierung ist auch bei der Benutzung von Maßeinheiten der Fall, zum Beispiel beim Messen von Entfernungen. Je nach dem Messbereich, in dem man Zählungen und Berechnungen durchführt, wählt man als Einheit Millimeter, Meter oder Kilometer, um zu überschaubaren Zahlen zu kommen. Auf der Erde reichen diese Maßstäbe, aber im Universum sind die Entfernungen so groß, daß auch die Kilometer-Einheit zu unübersichtlichen Zahlenkolonnen führt. Um wieder zu übersichtlichen Zahlen zu kommen, erfanden Kosmologen das Lichtjahr als Einheit der Länge in galaktisch komprimierten Dimensionen.

Dieser Hang zum Übersichtlichen hält uns wieder eine natürliche Grenze vor Augen, nämlich die Grenze zur Unübersichtlichkeit. Telefonnummern oder Postleitzahlen können wir noch überschauen und im Gedächtnis behalten, aber Reihenfolgen mit hundert Zahlen sind nur von Gedächtniskünstlern mit einigem Aufwand zu erfassen. Dazwischen liegt die Grenze, welche in unserem Bewusstsein die übersichtlichen Zahlenfolgen von den unübersichtlichen Sequenzen trennt. Der Leser kennt inzwischen meine Vorliebe für Grenzen, die mir bei der Erkenntnis der Natur wegweisend sind.

Kanalkapazität des Bewusstseins

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Vor ungefähr 50 Jahren stellte Claude Shannon seine Theorie der Kommunikation und Information auf, in der auch die Einheit der Information, das Bit, in die Wissenschaft eingeführt wurde. Bald danach begannen viele Untersuchungen von Psychologen und Informationstheoretikern der Frage nachzugehen, wie viele Bits das menschliche Bewusstsein in einer Sekunde verarbeiten kann (Kanalkapazität). Mit Messungen der Wahrnehmung und Speicherung von unterschiedlichen Reizmustern, Messungen der Lesegeschwindigkeit und Tätigkeiten wie Klavierspiel und Schreibmaschinenschreiben kamen die Untersucher zu unterschiedlichen Ergebnissen, die aber alle im Bereich zwischen 4-5 Bits pro sek. und ca. 40 Bits pro sek. lagen.

Die Grenze unserer bewussten Auffassungsfähigkeit kann wieder auf biologische Wurzeln hinweisen, und wir stellen fest, dass die Grenze der Übersichtlichkeit (Kanalkapazität) ungefähr in dem Zahlenbereich liegt, in dem auch die cerebrale Verschmelzungsfrequenz und der „Pulsschlag des Geistes“ messbar sind.

Bemerkenswert ist die kleine Menge von Informationen, die im Bewusstsein verarbeitet wird, im Unterschied zu der Informationsmenge, die in jeder Sekunde über alle Sinnesorgane von uns aufgenommen wird. Es liegen keine genauen Messungen, sondern nur Schätzungen über diese Menge vor, die ungefähr millionenfach größer ist als die Kanalkapazität des Bewusstseins. Das bedeutet, daß eine strenge Kontrolle und Auswahl darüber stattfindet, welche Information ins Bewusstsein gelangt. Wir erleben diese Kontrolle in unserer Aufmerksamkeit, wenn wir uns auf etwas konzentrieren. Damit können wir im Partylärm Gespräche führen usw.

Der Vorteil der mathematischen Symbole kann darin gesehen werden, dass mit diesen Kürzeln die physiologische Beschränkung der Kanalkapazität überwunden werden kann, indem große Komplexe zu minimalen Formen komprimiert werden. Die Mathematiker transformieren komplex-unübersichtliche Informationen in Häppchen, die unser Geist verdauen kann.

Rechnen

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Bevor mit den Zahlwörtern und Symbolen der Mathematik Aussagen in Form von Berechnungen gemacht werden können, müssen zuerst die Zahlen als Teile eines Systems begriffen werden, in dem alle Elemente in einer genau vorgeschriebenen Reihenfolge existieren. Nur in dieser artikulierten Merkfolge, die kleine Kinder jahrelang eingetrichtert bekommen, indem immer eins dazugezählt wird, nur in diesem Systemverbund sind die Zahlwörter zum Zählen und zu jeder Art von Berechnung brauchbar.

Die Reihenfolge besteht zunächst nur aus der vorgeschriebenen Folge von zehn Elementen. Daraus wird rein gedanklich das Dezimalsystem konstruiert, mit dem alle Zahlengrößen als kurze Reihenfolgen komprimiert dargestellt werden können.

Algorithmische Komprimierung

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Wie gut die mathematische Sprache zur Komprimierung geeignet ist, kann noch mit weiteren Beispielen belegt werden:

Die sogenannten irrationalen Zahlen sind Brüche ohne Auflösung, also genau genommen unendlich lange Zahlenreihen im Dezimalsystem. Ein bekanntes Beispiel dafür ist jene Zahl, die mit sich selbst multipliziert (quadriert) die Zahl Zwei ergibt. An Stelle der unendlichen Zahlenreihe benutzen Mathematiker für diese Zahl nur das Wurzelzeichen über der 2, kürzer geht es nicht.

Bemerkenswert ist bei dieser mathematischen Kurzform die exakte Komprimierung der unendlichen Zahlenfolge. Exakt meint hier, daß diese kleine Herstellungsvorschrift (Wurzelziehen) eine unendliche Zahlenreihe ohne Fehler erzeugt, auch die zehntausendste Stelle hinter dem Komma wird damit noch exakt errechnet. Der winzige Algorithmus: >Wurzel aus zwei< erweist sich als optimal komprimierte Form für einen unendlichen Zahlenkomplex, und es gibt unzählig viele Vorschriften dieser Art in der Mathematik.

Zum Beispiel sehr große oder sehr kleine Zahlen können durch die Darstellung in Potenzen komprimiert werden. 10²³ ist noch im überschaubaren Bereich, während 100000000000000000000000 unübersichtlich ist, die Nullen müssen einzeln gezählt werden.

Die Repräsentation der Zahlen in der Mandelbrot-Menge

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Im übersichtlichen Bereich ist auch die Formel der Mandelbrot-Menge, deren unüberschaubares Ergebnis hier schon als Grenze mit unendlich vielen skaleninvarianten Gestalten (Julia-Mengen) vorgestellt und als Modell für die innere Repräsentation des Weltwissens im Gedächtnis vorgeschlagen wurde.

Der Vorschlag kann auf seine Stichhaltigkeit überprüft werden, indem gefragt wird, ob dieses Modell (MM) des Weltwissens auch eine innere Repräsentation der Zahlen enthält, die ja bei jedem Menschen wichtige Bereiche (Raum, Zeit, Geld usw.) seines Wissens strukturieren.

Zur Beantwortung der Frage kann auf eine Besonderheit der Mandelbrot-Menge hingewiesen werden, die bisher wenig Beachtung gefunden hat.

Bei genauer Betrachtung findet man in der Grenzlinie der MM unendlich viele Kopien der Grundfigur in allen Größen und Variationen. Deren mathematischer Hintergrund besteht darin, dass jede kreisförmige Knolle und jede Satelliten-Kopie sich durch eine bestimmte Periodizität des Grenzzyklus auszeichnet, gegen den die Folge für die zugehörigen c-Werte strebt.

Die daraus entstehenden Variationen beziehen sich hauptsächlich auf die Knollengröße und die Menge der Verästelungen, die jeder Knolle entspringen. Die Anzahl der Verästelungen steht in reziproker Abhängigkeit zu der Größe der Knollen, je größer, desto weniger Äste. Die größte Knolle links in der Grundfigur hat in der Symmetrieachse nur einen Ast, die beiden (symmetrischen) zweitgrößten Knollen haben zweifache Verzweigung, die drittgrößten Knollen haben dreifache Verzweigung usw.

Mathematiker glauben nur, was ihnen bewiesen wird, und deshalb soll ein Bild der MM zunächst zeigen, daß jede natürliche Zahl in mindestens einer Verästelungsform auf jeder symmetrischen Hälfte der MM zu finden ist. Zur besseren Übersicht dient eine Darstellung der halbierten MM ohne Farben.


Grundfigur mit Verästelungszahlen



Die Übersicht der Grundfigur zeigt nur die größten Knollen mit den kleinsten Verästelungszahlen. Durch die eingezeichneten Zahlen wird in der Grundfigur eine Ordnung sichtbar, die sich in jeder Miniknolle wiederholt.

Die roten Zahlen zeigen genau die Reihenfolge, die beim Zählen und bei der Anordnung nach der Größe festgelegt ist, die Reihenfolge der „natürlichen“ Zahlen.

Die Zahlen mit anderen Farben zeigen, dass zwischen den Knollen auch andere Reihenfolgen existieren. Die blauen Zahlenfolgen nehmen um den Wert 2 zu, die grünen um den Wert drei, und mit den violetten Zahlen sind Verästelungsreihen mit Intervallen von vier, fünf und mehr zusätzlichen Ästen angedeutet.

natürliche Zahlenfolge

Mit der Vergrößerung kann in jedem Abschnitt gezeigt werden, daß die Reihe der natürlichen Zahlen ganzzahlig unbegrenzt weiter zu kleineren Knollen mit jeweils um einen Ast größeren Verzweigungen fortgeführt wird. Die potentiell unendliche Fortsetzung der Reihe wird nur durch die aktuelle Rechenkapazität beschränkt.


verschiedene Intervalle

Wenn man diese Ordnung der Verzweigungszahlen mit Neugier und einem Quentchen Phantasie betrachtet, kann man darin das Modell einer einfachen Rechenmaschine für die Grundrechenarten sehen. Um zu dem Ergebnis einer Addition, Subtraktion, Multiplikation oder Division zu kommen, braucht man nur Regeln, von welchem Punkt aus welche Reihenfolge in welcher Richtung bei der betreffenden Aufgabe zu benutzen ist.






Die MM wäre nicht das komplizierteste Objekt der Mathematik, wenn ihre Verästelungen damit schon ausreichend beschrieben wären. Jede auf der Grundform aufsitzende (primäre) Knolle trägt ja selbst wieder unendlich viele (sekundäre) Knöllchen von unterschiedlicher Größe und Verzweigung, auf denen wiederum unendlich viele (tertiäre) Miniaturknöllchen in ähnlicher Folge sprießen, usw. Die Anordnung der Größen und Verästelungszahlen ist jedoch bei jeder verschachtelten Knolle im Prinzip identisch mit der Grundform. Dadurch ergeben sich im Grenzbereich der MM unendlich viele Kombinationen von primären, sekundären, tertiären usw. Verzweigungsmengen nach einer systematischen Anordnung, die in dem Übersichtsbild oben mit den roten und blauen Zahlenkombinationen in der linken, größten Knolle nur angedeutet werden kann.

Weil jeder Punkt der MM eine in sich zusammenhängende Julia-Menge repräsentiert, findet man im Gebiet jeder Knolle Julia-Mengen mit dem gleichen Verästelungstyp. Jede dieser Julia-Mengen präsentiert skaleninvariant, in allen Größenordnungen, das Wesen der jeweiligen Zahl in seiner Verästelungsarchitektur.


Dazu folgende Beispiele.

Juliamengen als Repräsentanten der Zahlen


Die Zahlen wurden von den griechischen Mathematikern in religiöser Verehrung betrachtet, und noch vor 120 Jahren meinte der berühmte Mathematiker Leopold Kronecker:“ Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott geschaffen, alles andere ist Menschenwerk.“

Heute wird diese Meinung kaum noch vertreten und die Zahlen gehören zu den ungeklärten Grundlagen der Mathematik.

Unsere Auffassung sieht die Zahlen in der geistigen Struktur der Menschen begründet. Als Modell für diese geistige Struktur kann die MM offensichtlich auch die mathematischen Grundlagen im menschlichen Gehirn modellieren, die Reihenfolgen der natürlichen Zahlen, geraden Zahlen und mit größeren Intervallen.

Diese Reihenfolgen wie 2,4,6,8, usw. oder 3,6,9,12, usw. sind in menschlichen Köpfen ja nicht nur bei Mathematikern eingeprägt, sondern schon bei jedem zehnjährigen Schüler, der „im Kopf“ damit rechnen kann.

Ich hoffe, daß ich mit den Bildern der MM beweisen konnte, dass diese wunderbare Formel sich als anschauliches Modell für Zahlensymbole und deren Verknüpfung in Reihenfolgen bewährt.

Damit sieht es so aus, als ob sich die Mathematiker mit den Zahlenfolgen Strukturen zunutze machen, die in der Anlage des menschlichen Geistes (Modell:MM) bereits vorgezeichnet sind. Nur der sprachliche Zugang zu diesen Strukturen, ihre Verbindung mit der Umgangssprache, muss mühevoll in der Schulzeit gelernt werden.

Ähnliche Ansichten beschrieb vor genau einhundert Jahren, im Herbst 1906, der niederländische Mathematiker Luitzen Brouwer in seiner Dissertationsarbeit. Brouwer vertrat den „Intuitionismus“ in der Mathematik, er sah in der Mathematik eine menschliche Aktivität, die dadurch entsteht, daß unser Verstand alle Erfahrung mit Sinn erfüllt, indem er sie zu Folgen von Einzelteilen ordnet. Brouwer erwartete von der Aufklärung der Verstandestätigkeit, daß dafür ein kollektives Phänomen gefunden wird, das sich mit den Mitteln der Mathematik beschreiben lässt, aber selbst auch Mathematik produziert.





Grundfigur-Ausschnitt


„Wenn unsere Bilder unabhängig von dem kulturellen Hintergrund als ’schön’ empfunden werden, kann das unter Umständen darauf zurückführen sein, daß die Bilder uns etwas sagen über unser Gehirn, über ganz bestimmte Strukturen, die, wenn sie in Zusammenhang mit den Bildern gebracht werden, so etwas wie eine Resonanz auslösen, und diese Resonanz von uns als schön, als ästhetisch empfunden wird. Oder als vertraut. Und wenn das so wäre, dann würde dies ja bedeuten, daß diese streng mathematischen Bilder, das diese mathematischen Prozesse offenbar einen geheimnisvollen Zugang haben zu dem, was in unserem Gehirn passiert.“ Sagte der Mathematiker H.O. Peitgen, der das Apfelmännchen mit seinem Buch „The Beauty of Fraktals“ populär gemacht hat, in einem Rundfunkfeature.